# taz.de -- Frankreichs politisches System: Ni droite ni gauche | |
> Emmanuel Macron, Frankreichs „präsidentieller Monarch“, steht nun nackt | |
> vor einer leeren Mitte. Das liegt auch an der Konstruktion der Fünften | |
> Republik. | |
Bild: Paris am Wahlabend: Menschen versammeln sich auf dem Platz der Republik, … | |
Im Palais Bourbon tagt die neu zu besetzende Assemblée Nationale, die zu | |
Beginn des 19. Jahrhunderts die politische Sitzordnung von rechts und links | |
formatierte und den agonalen Kräften der Tradition/Reaktion und der | |
Erneuerung/Reform/Revolution ihren festen Platz zuwies. Diese Pole bildeten | |
seither die DNA des Politischen in immer neuen Varianten, das Wahlvolk, | |
Parteien und Kandidaten positionieren sich auf dieser Achse. Die Mitte, die | |
klingt wie ein Boulevard, ist im Halbrund eines Plenarsaales nur ein ganz | |
schmaler Grat. | |
Zu den Gratwanderern zählten anfangs die Grünen, die nicht links, nicht | |
rechts, sondern vorn sein wollten, aber auch diese Kreuzung aus | |
Naturbewahrung und sozialem Fortschritt nahm am Ende „Mitte-links“ Platz. | |
Stets teilt sich das virtuelle Zentrum in eine rechte und linke Mitte. | |
Die Rechts-links-Polarität war in Frankreich besonders markant. Nach 1945 | |
konkurrierte die gaullistische Rechte mit der kommunistischen Linken, mit | |
kleineren Bündnispartnern der Sozial- und Christdemokraten. In den 1970er | |
Jahren kam mit François Mitterrands „Linksunion“ und der von Jean-Marie Le | |
Pen versammelten Neuen Rechten eine neue Polbildung, die zunächst kaum | |
erkannt wurde, da sie von den Neogaullisten Jacques Chirac und Nicolas | |
Sarkozy noch einmal durchkreuzt wurde. | |
[1][Der Parti Communiste] geriet mit der Sowjetunion ins Abseits, Vater und | |
Tochter Le Pen blieben Unberührbare, die Sozialisten ermatteten in | |
parteiinternen Querelen und an der Schwierigkeit, den Wohlfahrtsstaat gegen | |
die neoliberale Globalisierung zu verteidigen. Die Grünen schafften keine | |
eigene politische Kontur. | |
## Liberalismus bleibt Außenseiter | |
Der Liberalismus blieb stets ein Außenseiter. Nur bei der | |
Präsidentschaftswahl 1965 konnte der Zentrist Jean Lecanuet dem Sieger | |
Charles de Gaulle und dem Herausforderer François Mitterrand einen | |
Achtungserfolg abringen. Das unwahrscheinliche Konstrukt einer liberalen | |
Mitte stampfte der junge Emmanuel Macron 2017 mit der Bewegung „En Marche“ | |
aus dem Boden, setzte der stets auf die Nation beschränkten Parti | |
socialiste eine europäische Öffnung entgegen und verbannte den Front | |
National in die ultrarechte Ecke. Diesem liberal-libertären Pol vertraute | |
eine Mehrheit der Franzosen Macron an, die autoritäre Rechte in Schach zu | |
halten, die aber mit „La France insoumise“ des Jean-Luc Mélenchon ein | |
linksnationalistisch-autoritäres Spiegelbild bekommen hatte. | |
Das Scheitern der „Revolution“ (Macron) lag zu einem guten Teil an der | |
widersprüchlichen Konstruktion der Fünften Republik, die den Präsidenten in | |
die Rolle des „präsidentiellen Monarchen“ zwängt, dessen Charisma die | |
fragmentierte Gesellschaft zusammenhalten soll – eine Aufgabe, zu der sich | |
„Jupiter“ Macron vom Moment seiner Amtsübernahme an durchaus berufen | |
fühlte. Mit den Olympischen Spielen und dem Wiederaufbau der Notre-Dame | |
wollte er sich verewigen. | |
Doch so magnetisch der Präsident das politisch-administrative System auf | |
sich ausrichtet, so tief kann der Absturz sein. Diesen Moment erlebte | |
Charles de Gaulle in den Nachwehen des Mai 68, als er trotz eines | |
triumphalen Wahlsiegs der Gaullisten ein Referendum verlor und sang- und | |
klanglos abtrat. Ebenso erging es François Mitterrand nach Niederlagen der | |
Linksparteien in der Kohabitation mit konservativen Premierministern. | |
Und so ergeht es Macron, nach der Wiederwahl vor zwei Jahren, mit der | |
überstürzten Parlamentsauflösung nach der Europawahl. Alle Zeichen stehen | |
auf „Entmacronisierung“, selbst seine eigenen Leute haben ihn im Wahlkampf | |
versteckt. Der König ist nackt. Die allseitige Fixierung auf das | |
Präsidialamt und der Wahlmodus in zwei Durchgängen suggerieren eine | |
Übermacht der Präsidialpartei, der weder die Stimmung im Lande noch der | |
Anspruch einer repräsentativen Demokratie entsprach. Macron hat diese | |
Unwucht stets hervorgehoben; er hat eine andere Art des Regierens und | |
selbst eine Sechste Republik annonciert, doch ist er diesem Versprechen | |
nicht nachgekommen und hat sich zunehmend im Elysée-Palast eingeigelt. | |
## Das Scheitern eines „Europa, das uns schützt“ | |
Sein Scheitern beruht auch auf externen Faktoren. Macrons Ambitionen waren | |
stets auf eine Vertiefung der Europäischen Union gerichtet, deren | |
Notwendigkeit der russische Angriff auf die Ukraine (und damit auf die | |
westlichen Bündnisse Nato und EU) deutlich gemacht hat. Dazu gehört der | |
Schulterschluss mit Deutschland, den sowohl Angela Merkel wie Olaf Scholz | |
ungerührt ablehnten. Das Scheitern eines „Europa, das uns schützt“ (vor d… | |
[2][Putin’schen Imperialis]mus wie vor dem Trump’schen Isolationismus), hat | |
eine unbändige nationalistische Regression in Frankreich ausgelöst, die mit | |
der hauchdünnen Mehrheit des Maastricht-Vertrags 1992 und der Ablehnung des | |
Verfassungsvertrags 2005 stets latent angelegt war. | |
Das antieuropäische Ressentiment ist nicht nur der Stoff, aus dem der | |
ansonsten kontinuierlich erfolglose Front National seine Ausdauer bezog, | |
sondern auch die von Protesten der Gelbwesten und Landwirte animierte | |
„souveränistische“ Linke. In der Bevölkerung ist weder die Unterstützung | |
der Ukraine noch die Israels populär; auch die Eliten bevorzugen die | |
Kooperation mit Russland und arabischen Staaten, wo übrigens die meisten | |
Opfer islamistischer Intoleranz und Repression leben. | |
Hinzu kommt die „Islam-Linke“, die sich gegen eine in der Gesellschaft weit | |
verbreitete Islamophobie wandte, zuletzt aber auch dschihadistische Gewalt | |
zum Widerstandsakt verharmloste oder unterstützte. Mélenchon rekrutiert | |
bewusst im republik- und demokratiefeindlichen [3][Opfer-Milieu der | |
Vorstädte], in der Wahlnacht schmückte er sich mit der Ikone des | |
Antisemitismus, Rima Hassan. Dass die Gefährlichkeit des Islamismus | |
ignoriert wird, ist wiederum Wasser auf die Mühlen der Ultrarechten. Und da | |
lauert tatsächlich die Gefahr des Bürgerkriegs. | |
Das Scheitern einer dauerhaften liberal-libertären Milieubildung stärkte | |
die autoritären Pole links und rechts. Macron wollte eine Zukunft für | |
Frankreich in Europa, die Französinnen und Franzosen ergehen sich trotzig | |
in der glorreichen Vergangenheit einer reaktionären Provinz oder eines | |
„Programme commun“, das Wohltaten wie aus einem Füllhorn über die | |
Unzufriedenen gießen soll. Auch das relativiert Macrons Scheitern. | |
## Nur menschenfeindliche Ressentiments | |
Sicher, er hat keine „Lösung des Migrationsproblems“ geboten, den | |
Klimawandel nicht eingedämmt, keinen Frieden geschlossen. Aber wer bitte | |
sonst? Die oppositionellen Pole bieten nur menschenfeindliche Ressentiments | |
und verfassungsfeindliche Patentlösungen an, und die dogmatische LFI-Linke | |
erwies sich unfähig, zur Verhinderung des Le-Pen-Klans Kompromisse | |
einzugehen. Es ist absurd, Macron zum Sündenbock der tiefen Krise des | |
politischen Systems Frankreichs zu machen, was nicht die Linke, sondern | |
Marine Le Pen stark macht. | |
Niemand lasse sich von deren Parole „Entteufelung“ täuschen: damit [4][war | |
die Säuberung des äußeren Bildes der Partei gemeint], nicht die der | |
Inhalte: katholische Reaktion, extremer Nationalismus, Elitenverachtung, | |
Judenhass, Aversion gegen Muslime, „nationale Präferenz“ gegenüber | |
Einwanderern und Flüchtlingen, Abschaffung des Geburtsrechts, Entmachtung | |
unabhängiger Medien, antiintellektueller Kulturkampf. Marine Le Pens | |
Spruch, weder rechts noch links zu sein, war schon die Parole der „Action | |
française“, der Blaupause des europäischen Faschismus. | |
Nichts berechtigt die Hoffnung, sie werde sich, einmal an der Macht, | |
mäßigen oder entzaubern. Aber RN hat nur 33 Prozent hinter sich – was | |
machen die restlichen zwei Drittel? Von 577 sind nur 75 Mandate im ersten | |
Wahlgang vergeben, in 297 liegt RN vorn; die Zahl der „triangulaires“ (drei | |
Kandidaturen) im zweiten Wahlgang sank Anfang der Woche auf 145 | |
Wahlbezirke, die Duelle mit RN-KandidatInnen stiegen entsprechend an. Ob | |
noch einmal eine republikanische Front zustande kommt, hängt vom Willen der | |
ominösen Mitte ab, eine weltoffene multiethnische Republik zu verteidigen. | |
Ni-ni geht nicht mehr | |
1 Jul 2024 | |
## LINKS | |
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Claus Leggewie | |
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