| # taz.de -- Antisemitismus in Frankreich: Wann, wenn nicht jetzt | |
| > Delphine Horvilleur, eine wichtige französische Intellektuelle und | |
| > Leitfigur des liberalen Judentums, über den historischen Wendepunkt und | |
| > Folgen des wachsenden Antisemitismus. | |
| Bild: Rabbinerin und Autorin: Delphine Horvilleurs Stimme hat in Frankreich Gew… | |
| Dies ist die Geschichte von zwei Juden, die die Zeitung lesen. Der eine | |
| sagt zum anderen: „Spanien hat Argentinien gestern Abend in einem Spiel mit | |
| 2:1 besiegt.“ Und der andere antwortet ihm: „Ist das gut für die Juden?“ | |
| „Ist das gut für die Juden?“ Wenn meine Großeltern oder meine Eltern diese | |
| Worte aussprachen, ging es natürlich immer um Politik oder Wahlen. Sie | |
| fragten, welche Auswirkungen dieser oder jener politische Moment auf uns | |
| Juden haben könnte. Als Kind fand ich das grotesk, absurd und sogar | |
| ziemlich nervig, als ob die gesamte Politik einer Nation auf die Zukunft | |
| der Juden, ihr Wohlergehen oder Unglück reduziert oder daran gemessen | |
| würde. | |
| Natürlich war ich nicht reif genug, um die tiefere Bedeutung dieser | |
| Fragestellung zu verstehen. Ich konnte zwischen diesen Worten nicht das | |
| Gewicht der Geschichte, der Erfahrung und so vieler Traumata wahrnehmen, | |
| das Bewusstsein, dass sich die Juden in der Vergangenheit so oft auf | |
| seltsame Weise im Gleichgewicht oder im Ungleichgewicht politischer | |
| Umschwünge wiederfanden, gegen ihren Willen instrumentalisiert, wie | |
| Schachfiguren in Wahlkämpfen manipuliert. | |
| So oft wurde in der Geschichte versprochen, sie zu schützen, oder | |
| gefordert, sich vor ihnen zu schützen, ihnen zu helfen oder sie im Stich zu | |
| lassen … | |
| ## Rückkehr in die Geschichte | |
| Und nun habe ich seltsamerweise das Gefühl, dass wir genau dorthin | |
| zurückkehren, in diese Zeit der Geschichte. In den letzten Wochen höre ich | |
| die Stimmen meiner Großeltern in meinem Kopf widerhallen. Auf absurde und | |
| verwirrende Weise drehen sich heute so viele französische Debatten um uns. | |
| Es geht um den Platz der Juden, ihre Sicherheit oder ihre tiefe | |
| Unsicherheit, um das Versprechen der einen oder anderen Seite: „juré, | |
| craché, on n’est pas du tout antisemites“ oder „juré, craché on n’es… | |
| du tout antisemites“ (wir sind keine Antisemiten). | |
| [1][Und inmitten all dessen ein 1.000-prozentiger Anstieg der Angriffe auf | |
| Juden], die Not so vieler von uns und unsere Angst, die uns dazu bringt, so | |
| viele verwirrende Optionen in Betracht zu ziehen und manchmal, | |
| zugegebenermaßen, auch ein bisschen Mist zu reden. | |
| Wie oft habe ich in den letzten zwei Wochen den gleichen Satz gehört oder | |
| die gleiche Botschaft erhalten? „Für wen werden Sie stimmen?“ Ich verstehe | |
| nie, ob dieses „Sie“ an mich persönlich gerichtet ist, mit der üblichen | |
| Anrede, oder ob mein Gesprächspartner mich tatsächlich nach der „jüdischen | |
| Wahl“ fragt – als ob es so etwas gäbe. | |
| Als ob Juden wie ein einziger Mann und eine einzige Frau wählen würden, als | |
| ob ihre Stimme sich von Natur aus vom Rest der Nation unterscheiden würde, | |
| als ob das sogenannte „auserwählte Volk“ eine Art Superwähler wäre, der … | |
| Fähigkeit hätte, das Ergebnis einer Wahl zu bestimmen oder zu | |
| überbeeinflussen. | |
| ## Die Zukunft einer Katastrophe | |
| Ich habe letzte Woche eine ganze Reihe von Nachrichten von Leuten erhalten, | |
| die mir „wohlwollend“ mitteilten, dass, wenn diese oder jene Partei die | |
| Wahlen gewinnen würde, es „unsere Schuld“ sei, die von uns Juden. Mit | |
| unseren 0,6 Prozent der Bevölkerung wäre unsere Mikro-Stimme zwangsläufig | |
| für die Zukunft einer Katastrophe verantwortlich. Wir hätten diese | |
| Fähigkeit, die Geschichte in die eine oder andere Richtung zu lenken. | |
| Was daran so erstaunlich ist? Es ist allgemein bekannt, vor allem unter | |
| Antisemiten, dass die Juden die Welt, die Politik, die Banken und die | |
| Finanzwelt manipulieren. | |
| Wir befinden uns in einem Schraubstock, in dem wir von politischen | |
| Vorschlägen erdrückt werden, die wahlweise unser familiäres oder | |
| republikanisches Erbe verletzen, während in uns so viel jüdischer und | |
| französischer, französischer und jüdischer Schmerz geweckt wird. | |
| ## Die Weisheit Hillels | |
| Lassen Sie mich einen Spruch von Hillel, dem berühmten Weisen aus dem | |
| Talmud, erwähnen, der in Debatten zwischen Rabbinern am Ende immer oder | |
| fast immer die Oberhand gewinnt. | |
| Es wird erzählt, dass die beiden großen Weisen Hillel und Schammai sich | |
| immer stritten, über jedes Thema oder fast jedes Detail des Gesetzes … und | |
| dass in Wirklichkeit beide recht hatten. Dass jede ihrer Meinungen | |
| gerechtfertigt werden konnte. Dennoch gewann Hillel immer die Oberhand, und | |
| der Talmud fragt sich, warum. Warum gewann er die Debatte, obwohl Schammai | |
| nicht im Unrecht war? | |
| Die Antwort des Talmuds: Im Gegensatz zu Schammai war Hillel in der Lage, | |
| die Argumente seiner Gegner vor seinen eigenen zu zitieren und dann seinen | |
| Standpunkt zu verteidigen. Hillels Standpunkt gewinnt, nicht weil er | |
| gültiger ist, sondern weil er dem anderen wirklich zuhört, sich für einen | |
| Moment in seine Lage versetzt und dann einen anderen Standpunkt vertritt. | |
| Ist es nicht genau das, was unserer Gesellschaft nicht mehr gelingt, sich | |
| einen Moment lang in die Lage des anderen zu versetzen? Es ist, als würde | |
| jeder nur auf die Grundlage seines eigenen Standpunkts hören und die | |
| Erfahrung des Gegenübers verleugnen. | |
| ## Was bin ich? | |
| Doch zurück zu Hillel, dem Weisen. Die Tradition sagt ihm einen Spruch | |
| nach, eine Art geheimnisvolles „Triptychon“, das wahrscheinlich der | |
| berühmteste Satz ist, den er je gesagt hat. | |
| Diesen Satz kenne ich seit Ewigkeiten, ich habe ihn tausendmal wiederholt, | |
| aber letzte Woche dachte ich, dass ich ihn in Wirklichkeit nie richtig | |
| verstanden habe. Plötzlich höre ich ihn wie zum ersten Mal, als ob seine | |
| Botschaft heute auf völlig neue Weise widerhallen würde: | |
| „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Wenn ich nur für mich bin, | |
| was bin ich? Und wenn nicht jetzt, wann dann?“ | |
| Hillel stellt drei Fragen, er antwortet auf keine. Er scheint wie wir in | |
| einer Situation des Zweifels zu sein. Er hat keine Antwort, aber er | |
| formuliert drei relevante Fragen. | |
| ## Politische Dringlichkeit | |
| Beginnen wir mit der dritten: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Hillel erzählt | |
| uns von der Dringlichkeit, natürlich ist es die politische Dringlichkeit. | |
| Wir können uns nie den Luxus leisten, unsere Entscheidungen aufzuschieben. | |
| In jeder Generation werden wir, ob es uns gefällt oder nicht, aufgefordert, | |
| die Notwendigkeit unseres politischen Handelns zu erkennen, über unseren | |
| Platz in der Gesellschaft, in der wir leben, nachzudenken und zu erkennen, | |
| wie dringlich unsere Zukunftsprojekte sind. | |
| Und dann ist da noch das Dilemma, die Spannung, die in den ersten beiden | |
| Fragen Hillels zum Ausdruck kommt. „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist | |
| für mich?“ Die Juden wissen sehr gut und leider fast zu gut, dass sie die | |
| Pflicht haben, sich um ihre Zukunft und ihren Schutz zu kümmern. Denn die | |
| Geschichte hat ihnen immer wieder gezeigt, dass die Nationen nicht die | |
| Macht, die Fähigkeit oder manchmal auch nicht den Willen haben, ihnen zu | |
| helfen. | |
| In so vielen Phasen der Geschichte kam niemand zu Hilfe, trotz | |
| Versprechungen, Worten oder manchmal auch den besten Absichten. Die | |
| Einsamkeit der Juden war so oft ihre Grundbedingung. Das galt für die | |
| Erfahrungen vergangener Generationen, aber es galt auch für unsere | |
| Generation und in den letzten Jahren sogar in Frankreich. | |
| Wer konnte trotz der starken Worte der Republik in den letzten Jahren | |
| unsere Sicherheit vollständig gewährleisten? Wie viele Menschen sind nach | |
| dem Tod von Ilan Halimi 2006 an unserer Seite gelaufen? Wie wenige waren | |
| es, die auf die Straße gingen, um ihre Not herauszuschreien? Wie viele | |
| Franzosen gingen nach dem Mord an den Kindern von Toulouse im Jahr 2012 auf | |
| die Straße? [2][Wer ist im letzten Herbst an unserer Seite gelaufen oder | |
| nicht gelaufen?] | |
| ## Verharmloster Antisemitismus | |
| Wie viele verharmlosen heute noch den Antisemitismus, der durch Reden | |
| genährt wird, die sich als rein „antizionistisch“ und gar nicht | |
| antisemitisch bezeichnen, aber ein Massaker an Juden nicht offen | |
| verurteilen oder strategischen, klientelistischen oder „kontextuellen“ Hass | |
| tolerieren? | |
| Wenn wir uns nicht umeinander kümmern, wird sich auch niemand um uns | |
| kümmern. Die Juden haben leider in so vielen Momenten ihrer Geschichte | |
| gelernt, dass sie ihre Kinder beschützen müssen. Und wer könnte diese | |
| uralte jüdische Sorge, die jetzt wieder erwacht ist, mit einem Handstreich | |
| beiseite schieben? | |
| Doch Hillel fährt mit Angst und Entschlossenheit fort: „Wenn ich nur für | |
| mich bin, was bin ich dann?“ Seine Stimme ist die Stimme, die so viele | |
| Juden vor uns gehört haben. Diese Stimme sagt: Weil du eine verletzliche | |
| Minderheit in der Geschichte warst und bleibst, weil du den Status des | |
| Fremden kennst und dich daran erinnerst, dass du selbst dieser Fremde | |
| warst, deshalb wirst du dich immer um den anderen kümmern, um die | |
| Minderheit, den Verletzlichen, den Fremden, und sein Schicksal wird für | |
| immer mit deinem verbunden sein. | |
| Und wenn du vergisst, seine Rechte zu verteidigen, an seine Zukunft zu | |
| denken, die Bedrohung, der er ausgesetzt ist, als ein perfektes Echo deiner | |
| eigenen zu sehen, was bist du dann? Hüte dich immer vor denjenigen, die dir | |
| politisch einen Schutz versprechen, der auf Kosten einer anderen | |
| Minderheit, einer anderen Verletzlichkeit gehen würde. Denn unsere | |
| Schicksale sind in der Republik miteinander verbunden. | |
| ## Ein Moment der Entscheidung | |
| Hillels Sprichwort erinnert uns daran, dass die politische Dringlichkeit | |
| genau in der Spannung zwischen diesen Sätzen besteht. Sich um uns zu | |
| kümmern und gleichzeitig sich um einen anderen zu kümmern, dessen Zukunft | |
| unsere Sorge sein muss, weil sie auch unsere eigene bestimmen wird. | |
| Wir stehen vor dem Moment der Entscheidung – der absoluten Dringlichkeit, | |
| in der das, was uns leiten soll, gleichzeitig extrem einfach und | |
| unglaublich komplex ist. Keine jüdische Stimme darf dem Hass gelten, dem | |
| antisemitischen oder rassistischen Hass, [3][dem „antizionistischen“ Hass, | |
| der das Recht der Juden auf Selbstbestimmung leugnet], oder dem Hass, der | |
| den Fremden bedroht, dessen Herz wir mehr als jeder andere kennen. | |
| Rassismus und Antisemitismus sind der absolute Ruin der Grundfesten unseres | |
| Landes. Die Republik beruht genau auf diesen Kämpfen, und es sollte nicht | |
| die Aufgabe der Juden sein, daran zu erinnern, sondern die eines jeden, der | |
| ein Mindestmaß an Geschichtsbewusstsein besitzt. | |
| Ich weiß nicht, was heute in Frankreich „gut für die Juden“ ist. Aber was | |
| ich weiß, ist, dass das, was „schlecht für die Juden“ ist, immer eine | |
| Katastrophe für Frankreich selbst ist. Denn unser Schicksal spiegelt immer | |
| den Zustand einer Gesellschaft wider – das hat die Geschichte unter so | |
| vielen Umständen bewiesen. Unser Schmerz und unsere Angst sind heute auch | |
| der Schmerz und die Angst der Republik. | |
| Heute ertönen die Stimmen unserer Großeltern, unserer Familien, die dieses | |
| Land liebten und hier Trost und Asyl suchten, die dem Ruf der Aufklärung | |
| folgten. Es ist ein ziemlicher Lärm in unseren Köpfen. | |
| Aus dem Französischen von Tania Martini | |
| 30 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Delphine Horvilleur | |
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