# taz.de -- Frauen im Judentum: Nie ein letztes Wort | |
> Delphine Horvilleur ist Rabbinerin und Autorin – und in Frankreich ein | |
> Star. Sie schreibt über Frauen im Judentum, Antisemitismus und Humor. | |
Bild: Delphine Horvilleur ist europaweit eine wichtige Stimme des liberalen Jud… | |
Wer Delphine Horvilleur zum ersten Mal begegnet, wer sie zum Beispiel an | |
diesem Freitagmorgen in schwarzem Mantel zu weiter gelber Hose und noch | |
weiterem Schlapphut durch die Tür des Pariser [1][Café de Flore] rauschen | |
und sich hektisch umschauen sieht, der denkt, sie sei Journalistin, | |
Verlegerin, Anwältin oder Ähnliches. Begriffe wie Religion, Glauben und | |
Rabbinismus kreuzen die Gedanken des Betrachters aber wahrscheinlich selten | |
bis nie. Dabei ist die Fünfundvierzigjährige genau das: eine | |
[2][Rabbinerin], eine Frau des Glaubens. | |
Glauben, na ja, sagt sie, als sie im oberen Teil des Cafés auf beigen | |
Lederbänken Platz nimmt und ihre nun doch ein bisschen rabbinerhaften | |
braunen Korkenzieherlocken aus ihrem Hut befreit: „Der Begriff ist für mich | |
schwierig. Ich weiß nie, was mein Gegenüber damit eigentlich genau meint.“ | |
Natürlich glaube sie an etwas Transzendentales, meint sie, nur falle es ihr | |
schwer, das weiter zu benennen. | |
Was Delphine Horvilleur allerdings sehr klar benennen kann, was sie schon | |
immer beschäftigt und irgendwann, über den Umweg eines Medizinstudiums in | |
Israel und einer Journalistenkarriere in Paris und New York zu diesem in | |
Frankreich für Frauen noch immer höchst ungewöhnlichen Beruf (sie ist eine | |
von drei Rabbinerinnen im ganzen Land) führte, ist ihr Glaube an die | |
heiligen Texte. | |
Sie glaube sehr fest daran, dass diese, entgegen dem, was Fundamentalisten | |
gern behaupten, nie ihr letztes Wort, nie eine endgültige Wahrheit | |
gesprochen haben, sagt sie. Daran, dass, ganz im Gegenteil, jede Epoche, | |
jede Generation sie durch eine neue Interpretation ergänzt und erweitert. | |
Sie übernäht, wie sie gern sagt. | |
## Madame le Rabbin | |
Der vor Kurzem verstorbene Philosoph George Steiner sagte einmal, jüdisch | |
sein, das bedeute, mit einem Stift in der Hand ein Buch lesen und denken, | |
dass man ein besseres schreiben kann. Und auch wenn Horvilleur das | |
natürlich niemals so ausdrücken würde, trifft seine schelmische | |
Beschreibung doch in gewisser Weise zu: Die Bücher, die sie neben ihrem Job | |
als „Madame le Rabbin“ schreibt, sind nicht „besser“ als die heiligen | |
Schriften, aus denen sie sich nähren, aber sie machen sie für die | |
Allgemeinheit zugänglich. Auch für jene, die nie eine Synagoge betreten und | |
vom Judentum nur eine begrenzte Kenntnis haben. | |
Die Fragen, die sie in ihren klugen, man will fast sagen, weisen Essays | |
stellt, sind Fragen von heute. Sie beleuchten die Gegenwart: Es geht darin | |
zum Beispiel um den Platz der Frau und der Weiblichkeit in der Religion | |
(„En tenue d’Ève. Féminin, pudeur et judaisme“), es geht um Identität … | |
Zugehörigkeit („Comment les rabbins font les enfants“), um den Versuch | |
eines interreligiösen Dialogs („Des mille et une facons d’être juif ou | |
musulman“). Und zuletzt um die leider wieder aktuelle Frage des | |
Antisemitismus. | |
Ihre „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“, die jetzt auf Deutsch | |
erscheinen, suchen in fast psychoanalytischer Manier nach dem Ursprung des | |
antisemitischen Hasses, der sich wie verdorbenes Erbgut weiterträgt: Hat | |
es, wie der Babylonische Talmud mutmaßt, damit zu tun, dass die | |
hebräischen Urväter Abraham, Isaak und Jakob eine gewisse Timna, die dem | |
Judentum beitreten wollte, zurückwiesen und diese ihren Groll über diese | |
Ablehnung auf ihren Sohn Amalek, den ersten Antisemiten der Geschichte, | |
übertrug? | |
Oder geht der Hass noch weiter zurück, zu Amaleks Großvater Esau, der | |
seinem Zwillingsbruder Jakob seine Entwicklungskraft neidete? Ist es ein | |
zivilisatorischer Kampf oder gar einer der Geschlechter? | |
## Humor als Überlebensmittel | |
Horvilleur taucht für ihre Suche ganz tief in die rabbinischen Schriften | |
ein. Wer davon bisher wenig kannte, der wird sich vielleicht wundern, dass | |
Rabbiner seit jeher in allen Ecken der Bibel nach einer Antwort suchen, auf | |
die unlösbare Frage: „Warum werden die Juden nicht gemocht?“ „Weil sie | |
nicht nett (gentils) sind“, zitiert Delphine Horvilleur in ihrem Prolog | |
Jacques Lacan. Sie lacht. Der Humor, der sogenannte jüdische, dem man in | |
ihrem Essay permanent begegnet, sei ein essenzielles Überlebensmittel der | |
Juden. | |
„Es ist ein Weg zur Resilienz“, meint sie, dieser psychologischen Fähigkeit | |
Traumata zu überwinden und weiterzumachen, sich ans Leben zu haften, statt | |
sich vom Schmerz überwältigen und in eine lähmende Opferrolle drängen zu | |
lassen. Paradoxerweise ist die Fähigkeit in unseren Zeiten der | |
Opferkonkurrenz ein „Grund“ für Hass und Neid: „Vor Kurzem hat eine Stud… | |
ergeben, dass 16 Prozent der Franzosen nie von der Schoah gehört haben. Und | |
trotzdem heißt es immer wieder: Lasst uns endlich mit der Schoah in Ruhe, | |
dauernd geht es nur darum!“ | |
In ihrem Buch schreibt sie ironisch: „Die Juden wehren sich hartnäckig | |
gegen den eigenen Untergang – und diese Ausdauer ist eine unerträgliche | |
Frechheit. Ja, sogar ihr Leid ist unverwüstlich! Wenn sie, schwer | |
getroffen, wieder aufstehen, rufen sie es ihrem Henker in Erinnerung und | |
zwingen ihn, sie noch mehr dafür zu hassen, schwerer als er selbst gelitten | |
zu haben.“ | |
Oder wie die Autorin und Filmemacherin Marceline Loridan-Ivens sagte: „Sie | |
werden uns das Leid, das sie uns angetan haben, niemals verzeihen.“ | |
Horvilleur nickt. Marceline sei eine Inspiration gewesen, deshalb habe sie | |
ihr dieses Buch widmen wollen. Ihr und ihrer Freundin, einem anderen | |
„Mädchen von Birkenau“: Simone Veil. | |
## Simone Veil, eine gute Fee | |
„Für mich ist Simone wie eine gute Fee, die sich über die Wiegen der | |
Mädchen meiner Generation gebeugt hat.“ Tatsächlich wird Horvilleur just in | |
jenem Jahr, in jenem Monat, im November 1974, geboren, in dem Veil ihre | |
berühmte Rede für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs hält, die | |
zwei Monate später in der „Loi Veil“ mündet. | |
Etwa zu dieser Zeit wird auch Veils Vergangenheit bekannt: Man erfährt, | |
dass sie als Sechzehnjährige nach Auschwitz deportiert wurde, dass sie im | |
Holocaust Mutter, Vater und Bruder verlor. Damals dachte man, mit dem | |
Antisemitismus sei es nach der Schoah vorbei, und doch malten | |
Abtreibungsgegner Veil schon damals, 1974, Hakenkreuze an die Haustür, so | |
wie man sie 2019 im Zuge der Gelbwesten-Demos auf ihr Porträt sprühte. | |
Hätte man damals schon stutzig werden müssen? | |
„Vielleicht.“ Der Moment, in dem Horvilleur verstand, dass auch ihre | |
Generation den Hass kennen würde, war allerdings ein anderer: „1990, die | |
Schändung des jüdischen Friedhofs von Carpentras. Ich saß mit meinem Vater | |
im Auto, er drehte sich zu mir und sagte: Das ist das schlimmste Ereignis | |
meiner Generation.“ Ab da habe sie geahnt, was sie heute weiß: „Der | |
Antisemitismus wird nie ganz verschwinden, aber wir können lernen zu | |
verstehen, was dahinter steckt.“ | |
„Wenn sie hören, dass man schlecht über Juden spricht, horchen sie auf, man | |
spricht von ihnen“, schrieb der Psychiater Frantz Fanon 1952. „Der | |
Antisemitismus ist kein Problem der Juden, sondern der ganzen | |
Gesellschaft“, wird Horvilleur nicht müde zu wiederholen. | |
Der Hass gegen Juden sei kein aus dem Nahen Osten importierter Konflikt, | |
wie man es gern darstellt. Er ist nichts von außen Hereingetragenes, | |
sondern das Symptom einer kranken Gesellschaft. Einer, die nicht mehr mit | |
Vielheit umgehen kann, die sich nach etwas geschlossenem, vermeintlich | |
Vollkommenem und Reinem sehnt und die Juden als Hindernis sieht. | |
## Bangen um die Männlichkeit | |
Es ist auch das Zeichen einer Gesellschaft, die um ihre Männlichkeit bangt, | |
immerhin wurden Juden von ihren Gegnern oft als „weiblich“ karikiert: | |
„Angriffe auf die Juden sind eine Art Generalprobe für eine kommende, alle | |
erfassende Gewaltexplosion“, erklärt sie. Wie sehr das stimmt, lässt sich | |
in Frankreich, wo der Antisemitismus seit knapp zwanzig Jahren wächst, | |
beispielhaft ablesen: 2006 wurde der Handyverkäufer Ilan Halimi von der | |
sogenannten Gang des Barbares entführt und zu Tode gefoltert. | |
2012 drang Mohamed Merah in Toulouse in eine jüdische Schule ein und tötete | |
einen Lehrer und drei Kinder. Drei Jahre später erlebte das Land mit den | |
Attentaten auf Charlie Hebdo, den Hyper-Casher-Supermarkt von Vincennes, | |
das Bataclan und Nizza eine Flutwelle der Gewalt. | |
Trotzdem hat man lange gebraucht, um zu verstehen, dass es um alle geht: | |
„Ich habe mich oft gefragt, wie es sein konnte, dass wir nach den Morden | |
von 2012 allein auf der Straße standen. Drei Kinder wurden in ihrem | |
Schulhof erschossen: Warum haben nur Juden demonstriert?“ | |
Was glaubt Sie, warum? Sie zuckt mit den Schultern: „Verdrängung.“ | |
Spätestens seit März 2018, seit die 85-jährige Holocaust-Überlebende | |
[3][Mireille Knoll] in Paris von ihrem Nachbarn ermordet und in ihrer | |
Wohnung in Brand gesetzt wurde, ist die Verdrängung nicht mehr möglich. | |
Delphine Horvilleur ist im Zuge dieser späten Bewusstwerdung ein Sprachrohr | |
geworden. Ein Dialogpartner, manche sagen, eine Art Rabbi-Superstar, was | |
einigen missfällt: „In Zeiten wie diesen neigt man natürlich dazu, sich in | |
der Gemeinschaft abzuschotten. Ich verstehe das. Oft war es nur eine | |
kleine, fest verschlossene Tür, die den Juden das Leben rettete. Trotzdem | |
glaube ich, dass wir die Türen heute öffnen müssen. Mit meinen Büchern | |
versuche ich, das zu tun.“ | |
23 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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