| # taz.de -- Buch über linke Lethargie: Klassenbewusstsein als Willensakt | |
| > Jean-Philippe Kindlers Buch versucht, linke Debatten vom Individualismus | |
| > zu befreien. Dabei lässt es Antisemitismus weitgehend aus. | |
| Bild: Gemeinsam Zukunft Gestalten: Eine Demo von internationalen Gewerkschaften… | |
| In den sozialen Medien erreichte der Kabarettist Jean-Phillipe Kindler mit | |
| deftigen Kurzvideos Popularität. Gerne werden seine prägnanten Kommentare | |
| zur Tagespolitik geteilt. Sein Markenzeichen: eine im radikalen Gestus | |
| vorgetragene Angriffslust. | |
| Es versteht sich fast von selbst, dass dabei eine sich [1][unter CDU-Chef | |
| Friedrich Merz weiter nach rechts öffnende CDU] ebenso ihr Fett wegbekommt | |
| wie Christian Lindners FDP. Auch auf Befindlichkeiten der eigenen linken | |
| Bubble nahm Kindler selten Rücksicht. So beispielsweise als er polyamouröse | |
| Beziehungen in den Kontext kapitalistischer Ideologie stellte und dafür | |
| einen Shitstorm erntete. | |
| Auf solche Kritik ging er oft in seinem Podcast [2][„Nymphe und Söhne“] | |
| ein. Dort lieferte er regelmäßig ausführlichere Analysen, welche die | |
| Polemik der Videos kontextualisieren sollten. In bekannter Logik der | |
| Aufmerksamkeitsökonomie intervenierte er nicht nur provokant in Debatten, | |
| sondern zeigte sich hinterher auch diskussions- und reflexionsbereit. Man | |
| fühlt sich dabei an die amerikanischen dirtbag left erinnert, die ebenfalls | |
| mit einer Mischung aus Vulgarität und Analyse versucht, die dortige Linke | |
| aus ihrer Lethargie zu lösen. | |
| ## Klassenbegriff unterm Weihnachtsbaum | |
| Kindler gibt es nun auch zum Lesen. Ein kleines, rotes Büchlein. Auf 150 | |
| Seiten soll repolitisiert werden, was durch Neoliberalismus entleert und | |
| vereinzelt wurde: „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ kam wie | |
| gelegen als lieb gemeintes Geschenk für Studis, die den Klassenbegriff | |
| unterm Weihnachtsbaum finden wollen. Aber finden sie den dann auch? | |
| Der Klappentext verspricht „ein wütendes, inspirierendes, langersehntes | |
| Buch“, und wer nur eines der Kindler Videos kennt, glaubt sich vorstellen | |
| zu können, was einen erwartet. Doch bei der Lektüre stellt man fest, dass | |
| sich der Ton des Buchs von Kindlers pointierten Videos unterscheidet. Es | |
| ist ihm zu ernst, als dass er einfach nur seinen wütenden Markenkern | |
| ausformuliert. Oder möchte er vielmehr ernst genommen werden? | |
| Die sechs Kapitel des Buchs wollen nicht weniger, als dass die Welt mal | |
| wieder kopfsteht. Die Diskussionen über Armut, Glück, Klimakrise, | |
| Demokratie, Linkssein und das gute Leben will Kindler vom | |
| [3][Individualismus] befreien. Auffällig ist, dass statt der Kritik am | |
| Kapitalismus vor allem der Neoliberalismus und seine Ideologie kritisiert | |
| wird. Auch wenn kurzzeitig die liberale Demokratie an den Pranger gestellt | |
| wird, bleibt offen, ob der Neoliberalismus als neuestes Symptom oder als | |
| Krankheit gesehen wird. | |
| Unklar bleibt auch, ob Kindler Sympathien für den britischen | |
| Staatssozialismus der Nachkriegsjahre empfindet – oder ob dieser auch nur | |
| „Kapitalismus plus Wahlen“ war. Es war die dortige politische Macht der | |
| Arbeiterschaft, gegen die sich die neoliberale Politik der britischen | |
| Premierministerin Margaret Thatcher richtete. | |
| ## Aufklärerischer Gestus | |
| Kindlers Forderung staatlicher [4][Regulierungen des Marktes] oder seine | |
| Sympathien für keynesianische Ökonomiemodelle legen den Verdacht nahe, dass | |
| seine politischen Vorstellungen ähnlich sein könnten. | |
| Mit einer Mischung aus Ideologiekritik und Angebot zum integrativem | |
| Selbstverständnis statt Optimierungswahn will Kindler den Druck vom jungen | |
| und krisengebeutelten Individuum nehmen. Ihnen möchte er eine Perspektive | |
| auf das gute Leben bieten, von der er sich wohl als Nebenprodukt | |
| verspricht, dass dies dann auch Arbeiter*innen erreicht. | |
| In aufklärerischem Gestus möchte er die Ideologie als Lüge entlarven – | |
| fragt aber nicht nach dem eigenen „nötigen, aber falschen Bewusstsein“ | |
| (Adorno). In völliger Ignoranz zahlreicher marxistischer Debatten seit | |
| Lenin wird das Klassenbewusstsein wieder zum Willensakt verklärt. | |
| Vermissen lässt der Autor auch eine Antwort auf den Rechtsruck. An diesem | |
| ließe sich sehr deutlich erkennen, dass Ideologie mehr als eine einfach zu | |
| durchschauende Lüge ist. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen | |
| wählen nicht einfach nur die AfD, weil die Linke momentan zu keiner | |
| Organisierung der Massen fähig ist. Die neue [5][Partei Sahra Wagenknechts] | |
| lässt sich nicht damit aus der Welt schaffen, dass die Linke „ideologisch | |
| harmonisiert“ auftritt. Im Gegenteil. | |
| ## Anfälligkeit für antisemitische Agitationen | |
| Gerade da, wo die Linke aktuell „ideologisch harmonisiert“ aufritt, wo die | |
| dirtbag left von massenhafter Solidarität schwärmt, zeigt sich ihre | |
| [6][Anfälligkeit für antisemitische Agitationen]. Die Bezüge auf eine | |
| gemeinsame internationale Klassenidentität sind nicht weit, wenn | |
| Millionen Menschen auf die Straße gehen und die Parole „from the river to | |
| sea“ anstimmen. | |
| So ist Antisemitismus eine weitere Leerstelle in Kindlers Buch. Er zitiert | |
| zwar die Theoretikerin [7][Hannah Arendt] – „wer als Jude angegriffen | |
| würde, müsse sich auch als Jude verteidigen“ –, doch Kindler spricht in d… | |
| Folge von Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit. Nicht vom jüdischen | |
| oder gar israelischen Recht auf Selbstverteidigung. | |
| Selbst in der Passage, die sich gegen die Personalisierung von | |
| Kapitalismuskritik ausspricht, sucht man vergebens nach einer Erwähnung des | |
| Antisemitismus. Nachjustiert wurde hier zuletzt in seinem Podcast. | |
| Kindler ist der Linke im kapitalistischen Realismus. Nichts Neues, nur neu | |
| gemixt. Ist es die Angst vor den eigenen Ansprüchen als linker | |
| Emporkömmling und letzte Hoffnung oder doch die vor den großen Idealen in | |
| kleinen roten Büchlein? Zumindest eine Sache sollte dem Buch dann doch | |
| gelungen sein: die Anregung zu Diskussionen über den Zustand der Linken. | |
| Anm. der Redaktion: Der Artikel wurde nachträglich gekürzt. | |
| 1 Jan 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /CDU-Brandmauer-zur-AfD/!5948981 | |
| [2] /Podcast-Nymphe--Soehne/!5923184 | |
| [3] /Neuerscheinungen-zu-Liberalismus/!5964053 | |
| [4] /Finanzmarktregulierung-in-der-EU/!5920618 | |
| [5] /Buendnis-Sahra-Wagenknecht/!5976147 | |
| [6] /Linker-Antisemitismus/!5966630 | |
| [7] /Neue-Biographie-ueber-Hannah-Arendt/!5964063 | |
| ## AUTOREN | |
| Valentin Goldbach | |
| Theresa Lehmann | |
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