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# taz.de -- Die AfD und der Rechtsstaat: Von wegen Law and Order
> Als deutsche Partei für Recht und Ordnung, so inszeniert sich die AfD
> gern. Ein Blick in die Praxis zeigt: Das Gegenteil stimmt.
Bild: Verhandlungseröffnung zum Fall des Ex-AfD-Bundestagsabgeordneten und Ric…
Berlin taz | „Wir vertreten hier das Grundgesetz und Herr Haldenwang steht
außerhalb des Grundgesetzes“, erklärte AfD-Co-Chef [1][Tino Chrupalla]
selbstsicher auf dem Magdeburger Parteitag Anfang August und griff damit
den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz an. Die Partei als
Retter und Bewahrer eines angeblich aus den Fugen geratenen Rechtsstaats zu
stilisieren, ist ein bei Rechtspopulisten beliebter und häufig
praktizierter argumentativer Kniff.
Dieses Verdrehen der Realität zu entlarven, fällt meist leicht. Einen Tag
später plädierte Irmhild Boßdorf, auf Platz 9 der [2][AfD-Kandidatenliste
für die Europawahl 2024], für eine „millionenfache Remigration und
Pushbacks, egal was der Europäische Gerichtshof dazu sagt“. Diese offene
Aufforderung, ein Urteil des höchsten Europäischen Gerichts zu missachten,
ist ein eklatanter Verstoß gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz der
Bindung an Gesetze. Er verrät ein gebrochenes Verhältnis zu
rechtsstaatlichen Prinzipien.
Im öffentlichen Echo auf den Magdeburger Parteitag, auf dem die AfD sich so
offen radikal wie noch nie gezeigt hat, tauchte die Haltung der Partei zum
Rechtsstaat nur am Rande auf.
Im Scheinwerferlicht von Politik und Medien dominierten ihr ethnisch
geprägtes Volksverständnis, Fremden- und Islamfeindlichkeit, demokratie-
und europafeindliche Äußerungen sowie Kritik am militärischen und
wirtschaftlichen Engagement der Bundesrepublik für die Ukraine in ihrem
Kampf gegen [3][die russische Aggression].
## „Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze“
Ein Punkt erfährt hingegen zu wenig öffentliche Aufmerksamkeit: die Haltung
der AfD zum Rechtsstaat. Auch der Magdeburger Extremismusforscher
[4][Matthias Quent] erkennt dieses Defizit: Die „Rechtsstaatsverstöße der
AfD sind in Wissenschaft, Politik und Medien unterbewertet“.
Das Hauptargument für diese Einschätzung liefert die Münsteraner
Verfassungsrechtlerin Nora Markard mit einem Blick auf die durch
rechtspopulistische und rechtsreligiöse Regierungen inzwischen amputierte
Justiz in Polen, Ungarn und Israel. Alle drei demokratisch gewählten
Regierungen haben Äxte an ihre rechtsstaatlichen Verfahren und
Institutionen gelegt, um ihre politische Macht auszubauen und zu
zementieren, ohne dabei durch ein lästiges Veto der Justiz gebremst zu
werden.
Die Erfahrungen in diesen drei Ländern zeigen für Markard, dass die
„Umgestaltung der Justiz“ für rechte Regierungen oft „die erste Station�…
ist, um ihre Macht zu verteidigen. Die Dritte Gewalt sei hier „sehr
verwundbar“. In diesen Ländern verfolgten neue Einrichtungen wie Justizräte
und Disziplinarkammern, Zwangspensionierungen von älteren Richtern und
Einschränkungen von Kompetenzen bei Verfassungsgerichten zwei Ziele: die
Entmachtung der unabhängigen Justiz und ihre Politisierung durch gesteuerte
Personalauswahl im Sinne der Regierungsmehrheiten.
Dies wäre auch in Deutschland ohne Änderung des Grundgesetzes durch
einfache Gesetze möglich. Neue Richterstellen könnten geschafft werden, die
mit Parteigängern besetzt würden. Eine dritte Möglichkeit wäre, das
Bundesverfassungsgericht durch einen dritten Senat zu erweitern, in dem
neue rechtslastige Robenträger über politische brisante Fälle befinden. Der
Blick in die Zukunft scheint von der heutigen Realität der Bundesrepublik
weit entfernt.
Trotzdem: Ein Blick in europäische Nachbarländer mit
Regierungsbeteiligungen rechtspopulistischer Parteien und auf die
bundesweiten Umfragen, die [5][die AfD als zweitstärkste Partei] mit über
20 Prozent sehen, zeigen, wie schnell sich grundlegende Säulen der
Gewaltenteilung abschaffen lassen und wie dringlich auch hierzulande das
Problem ist.
Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip sind tragende Säulen unserer
freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das Rechtsstaatsprinzip soll die
öffentliche Gewalt zum Schutz der Grundrechte begrenzen, die Bindung an
Gesetze und Recht und ihre Kontrolle durch unabhängige Gerichte garantieren
sowie einen effektiven Rechtsschutz und das Gewaltmonopol des Staates
verbürgen.
Ob die AfD hinter diesen Grundsätzen steht oder ihre Akzeptanz und
Bindungswirkung im Rahmen verfassungsfeindlicher Bestrebungen durch
Verächtlichmachung und Diffamierung untergräbt, hat das Bundesamt für
Verfassungsschutz untersucht. Dazu wurden drei Rechtsgutachten erstellt, in
denen die Gesamtpartei, die AfD-Jugendorganisation Junge Alternative und
der rechtsextremistische AfD-„Flügel“ analysiert wurden. Die Gutachten
liegen der taz komplett oder in Teilen vor. Alle enthalten ein gesondertes
Kapitel zum „Rechtsstaatsprinzip“ und sind „VS-Vertraulich“ gestempelt.
Als [6][Law-and-Order-Partei] greift die AfD den Rechtsstaat nie direkt an.
Ihre Methode sei vielmehr, so das Bundesamt für Verfassungsschutz, „durch
Übertreibungen und Verzerrungen wiederholt ein Schreckensbild über den
Zustand des Rechtsstaats zu zeichnen“. Nach Meinung der
Verfassungsschutzjuristen zeichnet sich die „Programmatik“ der
Jugendorganisation „durch eine drastische Missachtung rechtsstaatlicher
Grundsätze, insbesondere des Gewaltmonopols des Staates und der
Rechtsbindung der Verwaltung aus“.
## Höcke gab die Stoßrichtung vor
Bei der „Flügel“-Anhängerschaft meint das Bundesamt „Belege für die
Rechtsstaatsfeindlichkeit „auf allen Ebenen“ entdeckt zu haben. Es gebe
eine „Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols unter anderem durch
[7][die Forderung nach Bürgerwehren], einer Relativierung des gegen den
Rechtsstaat gerichteten Rechtsterrorismus sowie eine Missachtung der
Rechtsbindung der Staatsgewalt an Gesetz und Recht durch die
kontinuierliche Andeutung nicht gerechtfertigter staatlicher Gewalt“.
Außerdem werde das Rechtsstaatsprinzip durch die „unzutreffende Berufung“
auf das Widerstandsrecht des Grundgesetzes unterminiert.
Mit der apodiktischen Feststellung „Deutschland ist kein Rechtsstaat mehr!“
hat der „Flügel“-Chef Björn Höcke bereits im Dezember 2019 Tonalität und
Stoßrichtung der innerparteilichen Diskussion vorgegeben.
Ihren Niederschlag hat diese rechtsstaatsfeindliche Agitation im
AfD-Wahlprogramm 2021 mit einer realitätsfernen Diffamierung der
Gewaltenteilung gefunden: „Zahlreiche Gesetze und die politische Praxis
haben die Gewaltenteilung in Deutschland als Kernelement des Rechtsstaates
in Gefahr gebracht und zu einer überbordenden Staatsgewalt geführt.“
Als Konsequenz wollen die Rechtspopulisten „parteipolitische Netzwerke, die
durch eine verbotene, verfassungswidrige Ämterpatronage entstehen können“,
„nicht länger tolerieren“. Was diese Drohung im politischen Alltag bedeuten
soll, lässt die rechtsradikale AfD hier wie häufig offen.
Mit der zunehmenden Radikalisierung scheinen die Hemmschwellen für
rechtsstaatswidrige Aufrufe zu sinken. Im Schaufenster eines Reisebüros in
Hechingen hing zeitweise ein Poster mit dem Schriftzug: „Habeck in den
Knast“.
## „Es bröckelt schon“
In seiner Bewerbungsrede für einen Listenplatz bei der Europawahl fordert
der stellvertretende Vorsitzende der Jungen Alternative, Tomasz Fröhlich:
„Baerbock, Strack-Zimmermann, Merz und Scholz an die Ostfront.“ Der
[8][Zweitplatzierte Petr Bystron forderte in Magdeburg „Knast“] für die
linke Spitzenkandidatin und Seenotretterin Carola Rackete. Ordentliche
Gerichts- und Verwaltungsverfahren spielen hier offenbar keine Rolle mehr.
Ein beliebtes Agitationsziel der Rechtspopulisten ist die Justiz, die
angeblich unfähig sei, Missstände zu bekämpfen. Wegen angeblich zu „milder
Urteile gegen kriminelle Migranten“ fordert Thorsten Weiß, AfD-Mitglied des
Berliner Abgeordnetenhauses, das „Justizsystem endlich auszumisten“, es sei
ein „nicht mehr ernstzunehmender Trümmerhaufen“. [9][Stefan Räpple,
AfD-Abgeordneter in Baden-Württemberg], missfiel, dass angeblich
„Intensivtäter von der Justiz und grünen RichterInnen in Watte gepackt
werden“.
Stefan Möller, neben Höcke zweiter Landessprecher der AfD-Thüringen,
vertrat in einem Facebook-Post die Auffassung, dass es in der
Bundesrepublik im Widerspruch zum Grundgesetz „keinen effektiven
Rechtsschutz – auch gegen Übergriffe des Staates – also der regierenden
Parteien“ mehr gebe.
Der „normale Bürger“ finde dort „kaum Gehör“ und auch die größte
Oppositionsfraktion – gemeint ist die AfD – „habe dieses Recht nicht“. …
der Analyse des Verfassungsschutzberichtes 2021 des Landes stellt die AfD
Thüringen damit die „Institution des Rechtsstaats als politisch einseitig
gelenkt“ dar und spricht damit „den unabhängigen Gerichten ihre
Kontrollfunktion und somit der Bundesrepublik ein System der demokratischen
Gewaltenteilung ab“.
Während die AfD eine „Entpolitisierung“ der Justiz durch den Ausschluss von
Parteien bei der Wahl von Richtern und Staatsanwälten anzustreben
behauptet, spielt sich im Justizalltag das Gegenteil ab: eine Politisierung
ihrer Mitglieder und Sympathisanten in der Dritten Gewalt.
Eine „Erosion“ finde hier laut der Verfassungsrechtlerin Markard „heute
schon statt“: „Es bröckelt schon.“ Damit meint sie Robenträger mit einem
rechtspopulistischen bis rechtsextremen Vorverständnis, die die politische
Neutralität der Dritten Gewalt gerichtlich wie außergerichtlich mal offen,
mal versteckt verletzen.
## Ungarn schaffte den Rechtsstaat schnell ab
Drei prominente Beispiele: Den früheren Dresdner Landrichter und
rechtsextremistischen Ex-AfD-Bundestagsabgeordneten [10][Jens Maier] hat
das sächsische Richterdienstgericht in den vorzeitigen Ruhestand geschickt,
weil er „in seiner künftigen Rechtsprechung nicht mehr glaubwürdig
erscheint und das Vertrauen in seine Unvoreingenommenheit nicht mehr
besteht“.
Die frühere Berliner Landrichterin und AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit
Malsack-Winkemann, zurzeit wegen des Verdachts der Teilnahme an einem
gewaltsamen Staatsstreich in Untersuchungshaft, hat das Berliner
Richterdienstgericht vorläufig des Dienstes enthoben: „Das Vertrauen des
Dienstherrn und der Allgemeinheit“ sei durch ihre geheimbündlerischen
Aktivitäten „unheilbar zerstört“.
Den Freiburger Staatsanwalt und heutigen AfD-Bundestabgeordneten Thomas
Seitz hat das Richterdienstgericht Karlsruhe wegen seiner
„rechtsstaatswidrigen Haltung“ aus dem Dienst entlassen – unter anderem,
weil er im [11][Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise] den Staat als
„politisches Unterdrückungsinstrument“ und die Dritte Gewalt als
„Gesinnungsjustiz“ desavouiert hatte.
Im März 2022 hat das Verwaltungsgericht Köln die Einstufung der
Gesamtpartei AfD als „Verdachtsfall“ durch das Bundesamt für
Verfassungsschutz gebilligt, auch weil „Anhaltspunkte für Bestrebungen
gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip bestehen“. Mit Begriffen
„Systempresse“ oder „Systemparteien“ beziehungsweise „Kartellparteien…
würden „wesentliche Bestandteile der verfassungsmäßigen Ordnung diffamiert
und infrage gestellt“.
Ein Blick nach Polen und Ungarn zeigt, wie schnell sich der Rechtsstaat
abschaffen lässt. Ein [12][Blick nach Israel] verrät, dass auch
jahrzehntelang gefestigte Demokratien nicht vor einem autoritären Umbau
gefeit sind.
24 Oct 2023
## LINKS
[1] /Nach-Vorfall-mit-AfD-Chef-Chrupalla/!5964807
[2] /Falsche-Lebenslaeufe-in-der-AfD/!5961211
[3] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[4] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/landratswahl-sonneberg-102.ht…
[5] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-10/forsa-umfrage-union-afd-spd…
[6] https://www.weiterdenken.de/de/afd-law-and-order
[7] https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/buergerwehren-rechtsextremismus-…
[8] https://www.welt.de/politik/deutschland/plus247476236/Petr-Bystron-Ermittlu…
[9] /Nachrichten-zur-Coronakrise/!5829061
[10] /Bundesgerichtshof-bestaetigt/!5960494
[11] /Schwerpunkt-Flucht/!t5201005
[12] /Umbau-von-Israels-Justiz/!5915586
## AUTOREN
Joachim Wagner
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