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# taz.de -- Todestag von Jina Mahsa Amini: Stachel im Fleisch des Regimes
> Der Tod von Jina Mahsa Amini löste Massenproteste aus, die das Regime mit
> extremer Gewalt niederschlug. Wie steht es heute um die Protestbewegung?
Bild: Der Stachel im Fleisch des iranischen Regimes: Frauen
Für Omid Shariati kam es nie infrage, den Iran zu verlassen. In seinem
Viertel in Teheran lebt er seit seiner Geburt. Hier wollte er für immer
bleiben. Seit dem Herbst 2022 aber hat sich für ihn alles verändert. Es war
Mitte Oktober, als er mit zwei Freunden auf den Straßen protestierte.
[1][Die Demonstrationen], die auf den Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini am
16. September 2022 folgten, waren da gerade auf ihrem Höhepunkt.
Omid und seine Freunde flohen vor Schüssen der bewaffneten Kräfte in eine
Gasse. Zwei Basidsch-Milizen, paramilitärische Freiwilligengruppen, folgten
ihnen. Sie waren in einer Sackgasse. Anwohner öffneten ihre Türen, damit
Omid und seine Freunde Schutz finden konnten, aber es war zu spät.
Bevor die Milizen das Feuer eröffnen konnten, griffen die drei Männer sie
an und überwältigten die Milizionäre. Kurz dachte Omid, sie könnten
entkommen. Dann aber kamen andere Milizen ihren Kumpanen zu Hilfe. Omid
schleppten sie in ein Auto. Bevor sie ihm ein Tuch über den Kopf stülpten,
konnte er noch sehen, wie ein Milizionär mit dem Motorrad einen seiner
Freunde überfuhr. Dann wurde alles dunkel.
So erzählt Omid, der eigentlich anders heißt, den Tag seiner Verhaftung
heute in einem Telefonat. Genau wie bei allen anderen
Gesprächspartner*innen in diesem Text ist sein Name aus
Sicherheitsgründen geändert.
## Die Staatsdoktrin: Menschen zu brechen
Nach seiner Verhaftung verbrachte Omid mehrere Tage in einem der
berüchtigten Folterkeller, die [2][Recherchen des US-Nachrichtensenders]
CNN zufolge im gesamten Land verteilt sind. Dieses Netz aus versteckten
Anlagen benutzt das iranische Regime, um Menschen zu foltern, zu
vergewaltigen und zu töten.
Menschen zu brechen – das kann man als die Staatsdoktrin der Islamischen
Republik bezeichnen. Vor einem Jahr sagten viele Menschen im Iran: Es
reicht. Auslöser war die Ermordung von Jina Mahsa Amini. Am 13. September
2022 wurde die 22-jährige Studentin während eines Besuchs in Teheran von
der sogenannten Sittenpolizei festgenommen. Sie habe ihr Kopftuch nicht
„richtig“ getragen. Sie wurde dann so schwer misshandelt, dass sie auf der
Polizeistation zusammenbrach und ins Koma fiel. Drei Tage später starb sie.
Jina Mahsa Amini war Kurdin, Sunnitin und Frau. Identitäten, die das
iranische Regime seit nunmehr 44 Jahren besonders brutal unterdrückt.
Kontakt mit der Moralpolizei, die die vermeintlichen Sitten des Staats mit
gewaltsamen Methoden durchsetzt, hat im Iran praktisch jede Frau mindestens
einmal in ihrem Leben.
## „Jin, Jiyan, Azadî!“ – „Frau, Leben, Freiheit!“
Und so begann [3][der Protest] am 17. September auf Jina Mahsa Aminis
Beerdigung im kurdischen Saqqez, ihrer Heimatstadt. Im Trauerzug nahmen die
Frauen alle ihre Kopftücher ab, schwenkten sie in der Luft und riefen:
„Jin, Jiyan, Azadî!“ – „Frau, Leben, Freiheit!“ Ein kurdischer Schla…
mit dem Kurd*innen in den Kampf gegen den Islamischen Staat zogen.
Feminismus als Waffe gegen Extremismus. Der feministische Protest im Iran
war geboren.
Der Protest breitete sich im ganzen Land aus. Die sozialen Medien wurden
von Videos geflutet, die Mädchen und Frauen zeigten, die sich aus Trauer
die Haare abschnitten und ihre Kopftücher ins Feuer warfen. Nargess Karimi
war eine von ihnen. „Ich werde den Moment nie vergessen, als ich das erste
Mal in der Menge war“, schreibt die 18-Jährige über einen verschlüsselten
Chat. „Wir riefen mit einer gemeinsamen Stimme und protestierten.“ Zuerst
habe sie Angst gehabt. „Aber als ich die Stärke der Rufe und der
Forderungen sah, kam ich zu mir und rief mit den anderen: ‚Frau, Leben,
Freiheit!‘ “
Nargess ging immer wieder zu den Protesten – obwohl die Zahl der Toten und
Inhaftierten von Tag zu Tag stieg. Im Zusammenhang mit den Protesten sind
seit September 2022 mindestens 520 Menschen getötet worden, darunter viele
Jugendliche und Kinder. Der britische [4][Guardian berichtete] im Dezember,
dass Regimekräfte Frauen gezielt ins Gesicht, auf die Brüste und in den
Genitalbereich schießen. Auch scheint es Befehle gegeben zu haben,
Protestierenden in die Augen zu schießen. Unzählige junge Menschen verloren
eines oder beide Augen.
## Gegen die Entschlossenheit kommt das Regime nicht an
Es sind besonders die Frauen, die seit Beginn der
Frau-Leben-Freiheit-Bewegung ein Stachel im Fleisch des iranischen Regimes
sind. Seit einem Jahr weigern sich viele von ihnen, sich weiter dem
Verschleierungszwang der Machthaber zu beugen. Mit Beginn der Revolte haben
sie das Kopftuch abgelegt und wollen es nicht mehr aufsetzen.
Das Regime hat alles versucht, um diese Frauen einzuschüchtern und zu
bestrafen – vergebens. Auch ein Jahr nach dem Tod von Jina Mahsa Amini, die
wegen ihres nicht ordnungsgemäß getragenen Hidschabs ermordet wurde,
bewegen sich viele Frauen ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit. Sie gehören
inzwischen an vielen Orten des Landes zum normalen Stadtbild.
Gegen die Entschlossenheit dieser Frauen kommt das Regime nicht an – auch
wenn es alles versucht. Im Januar ernannten die Machthaber Ahmad-Reza Radan
zum landesweiten Polizeichef. Als Teheraner Polizeichef hatte er sich vor
Jahren einen Namen gemacht, weil er die Hidschabgesetze besonders
„effektiv“ durchsetzte. Bisher ist Radan gescheitert. [5][Im April kündigte
er an], Hightechkameras und Gesichtserkennung einzusetzen, um Frauen ohne
Kopftuch zu identifizieren und zu bestrafen. Die Frauen widersetzten sich
weiter.
## Männer während der Revolution der Frauen
Schließlich wurde eine Gesetzesverschärfung verabschiedet, die horrende
Strafen wie jahrelange Haft, Ausreiseverbote oder hohe Geldbußen für Frauen
vorsieht, die sich nicht dem Hidschabzwang beugen.
Auch Reza Edalatian wurde schon von der Moralpolizei festgenommen. Der
junge Schauspieler trägt aus Solidarität mit den Frauen, die ihre
Kopftücher abgelegt haben, in der Öffentlichkeit Shorts, also kurze Hosen.
Männer im Iran dürfen keine kurzen Hosen tragen. „Das ist eine Revolution
der Frauen“, schreibt er in verschlüsselten Chatnachrichten. „Aber wir
Männer kämpfen an ihrer Seite. Männer werden verhaftet und sterben.“
Im Untergrund, erzählt er, machten er und seine Kolleg*innen illegale
Theaterperformances. Aufgrund der politischen Situation könnten sie seit
einem Jahr nicht mehr künstlerisch arbeiten.
## Die Situation in Kurdistan verschärft sich
Die Repressionen, die gegen die Menschen im Iran eingesetzt werden, sind in
den Landesteilen, wo ethnische Minderheiten leben, besonders hart zu
spüren. Zum Beispiel in Sistan, in Belutschistan oder in Kurdistan, der
Heimat von Jina Mahsa Amini. Kurz vor dem Jahrestag ihres Todes wurde ihr
Onkel festgenommen, ihr Vater wurde vom Geheimdienst verhört. Das Regime
hat [6][in den vergangenen Wochen] die Gewalt noch weiter eskaliert.
„Die Situation in Kurdistan ist sehr schwer“, sagt Salar Pashai. Pashai ist
Kurde und lebt in Deutschland. Er und seine Familie stammen aus Saqqez,wie
Jina Mahsa Amini. „Überall werden Überwachungskameras und militärische
Kräfte eingesetzt“, sagt der 46-Jährige, der früher in Kurdistan als
Journalist gearbeitet hat. Er steht mit Menschen in seiner Heimat in
Kontakt. Die Kontrollen seien sehr verstärkt worden, berichtet er. Die
Familie von Jina Mahsa Amini hat angekündigt, trotz aller Repressionen am
16. September eine Trauerfeier abzuhalten.
## Proteste am Todestag sollen verhindert werden
Salar Pashai geht davon aus, dass die Eltern von Jina Mahsa Amini
festgenommen oder anders davon abgehalten werden, den Tod ihrer Tochter zu
betrauern. „Es kann alles passieren“, sagt Pashai.
Die Machthaber gehen schon seit Wochen mit noch mehr Entschlossenheit und
Gewalt gegen die Menschen im ganzen Land vor. Angehörige von ermordeten
Protestierenden werden drangsaliert oder inhaftiert, Frauen für
Hidschabverstöße in Gefängnisse verschleppt und nur gegen hohe Kautionen
freigelassen. Die Städte, ganz besonders Teheran, sind voll mit Militär.
Sollte es zum Jahrestag irgendwo zu Protesten kommen, sollen sie schnell
aufgelöst werden. Das Regime hat große Angst davor, dass es nochmals zu
wochenlangen Protesten kommt. So nah wie während der Proteste nach Aminis
Tod standen die Machthaber noch nie am Abgrund. Um an der Macht zu bleiben,
werden sie auch weiter töten.
## Widerstand, die Kraft und die Werte bleiben unzerstörbar
Omid Shariati, der im Oktober 2022 mehrere Tage in einem der Folterkeller
des Regimes verbracht hat, glaubt nicht, dass sich im Land etwas
Grundlegendes ändern wird. „Die ganze Welt redet nur“, sagt er, „sie seh…
alles, was hier passiert. Sie applaudieren den Menschen im Iran und reden
davon, dass sie unsere Verbündeten seien.“ Omids Stimme wird laut. „Was tut
ihr denn, um uns zu unterstützen?“, fragt er. „Ihr stellt euch in
Parlamente und redet. Reden können wir selbst.“ Er, der niemals gehen
wollte, hat beschlossen, den Iran zu verlassen. Zu tief sind seine Wunden.
Die 18-jährige Nargess hat den Glauben an ihre Kraft und die der Menschen
im Iran nicht aufgegeben. „Als Frau und als die hauptsächliche Stimme und
Treiberin dieser Revolution bin ich froh, dass ich meiner und der nächsten
Generation dienen kann. Wir haben den antidiktatorischen Geist in der
Gesellschaft geweckt“, erklärt sie.
Ein Jahr nach Beginn der größten Proteste in der Geschichte der Islamischen
Republik ist eines sicher: Das Regime, das keine anderen Mittel als Angst
und Gewalt kennt, hat die Menschen, die unter seiner Herrschaft leben,
verloren. Die Machthaber, die Sittenpolizei, die Regimekräfte, sie werden
weiterhin töten. Der Widerstand, die Kraft und die Werte der Menschen aber
bleiben unzerstörbar.
15 Sep 2023
## LINKS
[1] /Demonstrationen-im-Iran/!5884279
[2] https://edition.cnn.com/interactive/2023/02/middleeast/iran-torture-jails-b…
[3] /Proteste-in-Iran/!t5884344
[4] https://www.theguardian.com/global-development/2022/dec/08/iranian-forces-s…
[5] /Unterdrueckung-in-Iran/!5924804
[6] /Iran-vor-wichtigem-Jahrestag/!5955619
## AUTOREN
Gilda Sahebi
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