| # taz.de -- Ein Jahr Frauenrevolution in Iran: Marketing statt Solidarität | |
| > Die Iranpolitik der Bundesregierung ließ großen Worten wenig Taten | |
| > folgen. Selbst für die inhaftierten deutschen Geiseln hat sich nichts | |
| > verändert. | |
| Bild: Deutschland fordert nicht die Freilassung, nur bessere Haftbedingungen | |
| Berlin taz | Fünf Tage nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini und dem | |
| [1][Ausbruch der Proteste] in Iran spricht der Präsident der Islamischen | |
| Republik, Ebrahim Raisi, bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen | |
| (UN) in New York. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz ist dort und hält eine | |
| Rede. Dabei erwähnt er die Ermordung Jinas und das gewaltsame Vorgehen | |
| gegen die Protestierenden mit keinem Wort. Ein Schweigen, das seine gesamte | |
| Iranpolitik des folgenden Jahres dominieren wird. | |
| Es dauert eine Weile, bis die deutsche Öffentlichkeit und vor allem | |
| politische Entscheidungsträger*innen sich für die Proteste in Iran | |
| interessieren. Doch als die Sichtbarkeit langsam erwacht, ist die | |
| Solidarität groß: Der Bundespräsident empfängt iranische | |
| Journalist*innen und Aktivist*innen, Politikerinnen schneiden sich die | |
| Haare ab, große Reden werden gehalten. | |
| Scholz braucht lange, bis er sich zu Wort meldet. Erst mit nichtssagenden | |
| Floskeln, dann – nach öffentlichem Druck – auch endlich mit einem starken | |
| Video, bis er dann quasi für immer aus dem Diskurs verschwindet. | |
| Gut, dass wir passend zur feministischen Revolution in Iran eine | |
| Außenministerin haben, die auf [2][feministische Außenpolitik] setzt, | |
| denken wir zu Beginn. Doch die großen Reden stellen sich schon bald als | |
| leere Worte heraus – Taten folgen nur wenige. | |
| ## Die Revolutionsgarde steht nicht auf der Terrorliste | |
| Anfang November 2022 nimmt der Bundestag [3][einen Antrag der | |
| Ampelfraktionen an]. Darin stehen 25 Forderungen zur Unterstützung der | |
| Protestierenden in Iran. Werfen wir einen genauen Blick auf einige Punkte | |
| und ihre oft fehlende Umsetzung: | |
| Die Bundesregierung wird aufgerufen, sich dafür einzusetzen, dass die | |
| Vereinten Nationen (UN) die Gewalt gegen Protestierende verurteilen und | |
| eine unabhängige Untersuchungskommission einführen. Dafür setzt sich | |
| Deutschland gemeinsam mit Island ein. Groß ist die Freude Ende November, | |
| als die UN eine Resolution verabschieden. Die Islamische Republik wird | |
| wenig später aus der Frauenrechtskommission der UN geworfen. Gute erste | |
| Schritte. | |
| Doch schnell verblasst die Freude über diese Teilerfolge. Denn einige | |
| Monate danach wählen die UN dasselbe Regime, das Protestierenden gezielt | |
| ins Auge schießt und wohl Mädchen an Schulen vergiftet, in die Kommission | |
| zur Kriminalprävention und zum Vorsitzenden des Menschenrechtsforums. | |
| Welche Werte vertreten die UN? | |
| Auch die Sanktionen, die Baerbock in der EU auf den Weg bringt, scheinen | |
| zunächst eine gute Sache zu sein. Doch schon bald stellt sich heraus, dass | |
| sich die Bundesregierung auf diesen wenigen Sanktionen ausruht. Nach einem | |
| Jahr sind lediglich 223 Einzelpersonen und 37 Organisationen sanktioniert – | |
| und die Revolutionsgarde der Islamischen Republik (IRGC) steht nach wie vor | |
| nicht auf der EU-Terrorliste. Immer wieder werden Scheinargumente genannt, | |
| weshalb die Listung rechtlich nicht möglich sei. Dass das Europäische | |
| Parlament mehrheitlich für die Listung der IRGC stimmt, scheint wenig zu | |
| beeindrucken. Und außerdem, so das Auswärtige Amt, tue man ja mit den | |
| Sanktionen gegen Einzelpersonen schon viel. | |
| ## Teherans Bürgermeister reiste ungestört in die EU ein | |
| Wie effektiv diese Sanktionen sind, zeigt das Beispiel des Teheraner | |
| Bürgermeisters [4][Alireza Zakani]. Im Juni 2023 wird er von dem Brüsseler | |
| Bürgermeister Pascal Smet nach Belgien eingeladen. Wie kann jemand, der von | |
| der Europäischen Union wegen Menschenrechtsverbrechen sanktioniert ist, | |
| ohne Weiteres nach Europa einreisen? | |
| Diese Frage stellt auch die belgische Öffentlichkeit, sodass Smet | |
| zurücktreten muss. Belgiens Außenministerin Lahbib, die für die Erteilung | |
| des Visums zuständig ist, kann die Kritik jedoch aussitzen und ihr Amt | |
| unbehelligt fortführen. Dieselbe Ministerin, die sich zu Beginn der | |
| Proteste in Solidarität mit den Frauen in Iran die Haare abschneidet, | |
| erteilt nun dem Mann ein Visum, der für das brutale Vorgehen gegen eben | |
| jene Frauen in Teheran verantwortlich ist. Die Reaktion der Bundesregierung | |
| zu all dem? Schweigen. | |
| Dieses Schweigen zieht sich durch alle Bereiche, auch die | |
| Wirtschaftspolitik: Nach wie vor ist Deutschland stärkster Handelspartner | |
| der Islamischen Republik in Europa. | |
| Und nach wie vor unterhalten Banken des Regimes Filialen in Deutschland und | |
| können unbehelligt ihren schauerlichen Tätigkeiten nachgehen. Die Bank | |
| Saderat etwa in Hamburg unterstützt das Regime in Iran sowie | |
| Terrororganisationen wie die palästinensische Hamas und die libanesische | |
| Hisbollah. | |
| ## Nahid Taghavi und Jamshid Sharmahd weiter in Haft | |
| In dem Antrag wird außerdem gefordert, dass die Bundesregierung sich für | |
| die Freilassung aller politischen Gefangenen und der in Iran inhaftierten | |
| deutschen Staatsbürger*innen einsetzen soll. Doch die Bundesregierung | |
| forderte öffentlich nicht etwa die Freilassung der deutschen Geiseln Nahid | |
| Taghavi und Jamshid Sharmahd, sondern lediglich verbesserte | |
| Haftbedingungen. [5][Sie werden nicht einmal als Geiseln bezeichnet]. Wie | |
| soll ein Problem gelöst werden, wenn man es nicht beim Namen nennen kann? | |
| In den letzten Monaten haben es fünf verschiedene Staaten geschafft, | |
| insgesamt elf Geiseln zu befreien. Doch auch das birgt Probleme: Für die | |
| Freilassung des belgischen Gefangenen Olivier Vandercasteele änderte | |
| Belgien seine Gesetze, um im Gegenzug den verurteilten Terroristen | |
| Assadollah Assadi freilassen zu können, der jetzt in Iran von dem Regime | |
| als Held gefeiert wird. | |
| Nun schließen sich auch die USA solchen schmutzigen Deals an und geben | |
| eingefrorene Gelder in Milliardenhöhe an das Regime zurück mit dem Ziel, | |
| fünf US-amerikanische Geiseln zu befreien. Solche Deals fördern die | |
| Geiseldiplomatie des Regimes weiter. | |
| Der mangelnde Einsatz der Bundesregierung für die Befreiung deutscher | |
| Geiseln wirft auch die Frage auf, wie Oppositionelle in Deutschland | |
| eigentlich geschützt sind. Immerhin dürfen selbst Berufsunterdrücker wie | |
| Alireza Zakani nach Europa einreisen. Selbst der Verfassungsschutz warnt | |
| vor den Machenschaften des Regimes in Deutschland. | |
| ## Abschiebestopp? Ist Ländersache – oder doch nicht? | |
| Doch Schutzmaßnahmen scheint es keine zu geben, selbst einen bundesweiten | |
| Abschiebestopp gibt es nicht. Das Bundesinnenministerium schiebt es auf die | |
| Bundesländer. Die wiederum sagen, dass sie den Abschiebestopp nicht über | |
| sechs Monate hinaus verlängern dürfen, und spielen den Ball auf die | |
| Bundesebene zurück. So spielen Länder und Bund Pingpong miteinander – auf | |
| dem Rücken Schutzsuchender. | |
| Der fehlende Wille, sich für Schutzsuchende einzusetzen, zeigt sich auch am | |
| Beispiel der humanitären Visa. Baerbock versprach zu Beginn der Proteste, | |
| die Visakapazitäten der Deutschen Botschaft in Teheran zu erhöhen. Doch ein | |
| Aufnahmeprogramm scheint in weiter Ferne zu liegen, die Verfahren dauern | |
| teilweise Monate und es ist kein politischer Wille zu erkennen, Menschen in | |
| Not aufzunehmen. | |
| Die Enttäuschung über die samtpfötigen Reaktionen Deutschlands macht sich | |
| auch in Gesprächen mit Protestierenden in Iran bemerkbar. Die Hoffnung, | |
| dass Europa aufhört, die Machthaber zu unterstützen, haben viele längst | |
| aufgegeben. „Das, was uns Mut gemacht und Kraft gegeben hat, [6][waren die | |
| Patenschaften]“, sagt ein ehemaliger politischer Gefangener, der aus | |
| Sicherheitsgründen anonym bleiben will. „Zu wissen, dass es einige gibt, | |
| die an uns denken und nicht zulassen, dass uns etwas passiert, hat uns sehr | |
| beruhigt.“ | |
| Die Iranpolitik des letzten Jahres zeichnet sich durch ein Engagement | |
| vieler einzelner Abgeordneter aus – und dem Nichtstun der Bundesregierung. | |
| Den Fototerminen des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und der | |
| Außenministerin folgte wenig. Solidarität, die sich nur auf die sozialen | |
| Medien und Fototermine beschränkt, ist letztlich nur Marketing. | |
| 16 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Todestag-von-Jina-Mahsa-Amini/!5957808 | |
| [2] /Ein-Jahr-nach-Beginn-der-Proteste/!5957055 | |
| [3] https://dserver.bundestag.de/btd/20/043/2004329.pdf | |
| [4] https://www.nzz.ch/international/warum-rollte-belgien-iranischen-hardlinern… | |
| [5] /Jamshid-Sharmahd-in-iranischer-Haft/!5944932 | |
| [6] /Abgeordneten-Patenschaften-fuer-Iran/!5909155 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniela Sepehri | |
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