Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Tugendgesetz“ in Afghanistan: Singen gegen die Taliban
> Afghanische Frauen dürfen nach dem neuen „Tugendgesetz“ öffentlich nicht
> mehr singen. Nun erheben sie in Social-Media-Videos ihre Stimme als
> Protest.
Wir Frauen werden uns aus diesem Gefängnis befreien, wir werden uns aus
diesem Käfig befreien“, singen zwei verhüllte Afghaninnen mit
entschlossener Stimme. Es ist eines [1][von vielen Videos], die in den
letzten Tagen nicht nur in Afghanistan die Runde machten. Meist wurden sie
auf Tiktok, Instagram oder X (ehemals Twitter) verbreitet und erreichten
Zehntausende.
Kurz nach dem dritten Jahrestag [2][der Rückkehr der Taliban] verkündeten
die Radikalislamisten „Tugendgesetze“, die sich in erster Linie gegen
afghanische Frauen richten und die zunehmende Gender-Apartheid im Land
befeuern. Laut den neuen Anordnungen ist es Afghaninnen unter anderem nicht
erlaubt, in der Öffentlichkeit laut zu sprechen oder zu singen. Viele
Frauen reagierten prompt auf die Repressalien und teilten Gesangsvideos in
den sozialen Medien.
Während Afghaninnen in der Diaspora ihr Gesicht zeigten, beteiligten sich
jene, die weiterhin in Afghanistan leben, anonym an der Aktion. Ein Video
zeigt etwa eine mutmaßliche junge Frau, die singend durch die Straßen
Kabuls läuft, während höchstwahrscheinlich in ihrer unmittelbaren Umgebung
Taliban-Soldaten patrouillieren.
Die Message ist klar: Die afghanische Frau lässt sich nicht unsichtbar
machen, obwohl die Taliban alles daran setzen, dass dies geschieht. Und
dies geschieht auch, weil der Westen seit seinem desaströsen Abzug aus
Afghanistan wegschaut, mit anderen Konflikten beschäftigt ist oder – wie in
den letzten Tagen in Deutschland – sich nur mit Afghanistan beschäftigen
will, sobald es [3][um Abschiebungen] und rechte Migrationsdebatten geht.
Am Freitag wurden 28 Personen überraschend [4][wieder nach Afghanistan
ausgewiesen], zum ersten Mal seit der militant-islamistischen
Machtübernahme.
Gender-Apartheid
Seit der Wiedergeburt des Taliban-Emirats im August 2021 ist der Alltag für
afghanische Mädchen und Frauen düster geworden. Seit über 1.000 Tagen
dürfen Afghaninnen keine Oberstufenschulen besuchen. Ende 2022 kam ein
Universitätsverbot hinzu. Außerdem bestehen zahlreiche Arbeitsverbote: Im
afghanischen Fernsehen gibt es vor den Kameras praktisch keine Frauen mehr.
Vor einem Jahr wurden Zehntausende Schönheitssalons im Land geschlossen,
unter anderem, weil die Taliban sie mit Bordellen gleichstellten. Auch die
Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt. Mädchen und Frauen dürfen keine
öffentlichen Parks besuchen und sich nicht ohne männliche Begleitung
(„mahram“) fortbewegen. Taxifahrer, die Frauen, die alleine sind,
mitnehmen, müssen mit Strafen rechnen.
Durchgesetzt wird all dies von der [5][Sittenpolizei der Taliban], die
nicht überall gleichermaßen agiert. Vor allem in Kabul fällt es den neuen,
alten Machthabern schwer, alle Frauen wegzusperren. Proteste gegen das
Regime wurden aber brutal niedergeschlagen. Und Frauenaktivistinnen wurden
verschleppt, drangsaliert und mehreren Berichten zufolge gefoltert.
„Ich musste vor sechs Monaten wieder schließen. Es kamen einfach keine
Kundinnen mehr“, erzählt Khatera*, eine Visagistin aus Kabul, der taz am
Telefon. Vor einem Jahr war sie gezwungen, ihren Schönheitssalon aufgrund
des Taliban-Dekrets zu schließen. Kurz darauf begann sie, von zu Hause aus
zu arbeiten. Anfangs lief das gut und Khatera konnte sich auf einige ihrer
Stammkunden verlassen. Doch mittlerweile liegt das Geschäft brach.
Ein internationales Publikum
Allein der Umstand, dass das im 21. Jahrhundert so einfach geht und dass
Khatera oder die singenden Afghaninnen innerhalb weniger Minuten die ganze
Welt erreichen können, ist eine Hürde, die für die Taliban praktisch
unüberwindbar ist. Als die Radikalislamisten das erste Mal während der
1990er Jahre regierten, verließen nur wenige Nachrichten das isolierte
Land.
Doch für viele Afghanen und Afghaninnen ist das noch lange kein Grund für
Optimismus. „Irgendwann wird man müde. Man hat Angst und ist
eingeschüchtert“, erklärt Mustafa Akbari*, ein Student aus Kabul. Die
Sittenregeln der Taliban gelten auch für ihn und andere Männer – und seit
einem Jahr hält er sich daran. Einst trug der Student Jeans und westliche
Hemden, war kahl rasiert. Es war sein kleiner, persönlicher Protest gegen
das Taliban-Regime. „Ich habe kein Problem mit Vollbart und traditioneller
Tracht. Aber ich mag es nicht, wenn mir das aufgezwungen wird“, meint er.
Doch dann wurde der Druck an der Universität zu groß. Wer den Taliban nicht
gehorchte, wurde von den Sittenwächtern schikaniert und eingeschüchtert.
„Es ging einfach nicht mehr“, so Akbari.
Auch nach den jüngsten Videos gilt Vorsicht, denn der Taliban-Geheimdienst
scheint überall zu sein, vor allem in den sozialen Medien. Dass Afghaninnen
unter all diesen Umständen überhaupt demonstrieren, ist ein mutiges
Zeichen, das vor allem in diesen Tagen unseren Respekt verdient.
*Namen aus Sicherheitsgründen geändert
3 Sep 2024
## LINKS
[1] https://x.com/DahliaKurtz/status/1830787119897247810?t=2OrFBzEterIYXaVfgYAb…
[2] /Rueckkehr-der-Taliban-nach-Kabul/!5793772
[3] /Abschiebung-nach-Kabul/!6033417
[4] /Afghanistan-wieder-Abschiebeziel/!6030886
[5] /Afghanistan-unter-den-Taliban/!5985035
## AUTOREN
Emran Feroz
## TAGS
Schwerpunkt Afghanistan
Taliban
Social Media
Social-Auswahl
Schwerpunkt Pressefreiheit
Schwerpunkt Afghanistan
COP29: Klimakonferenz in Baku
Social Media
Flucht
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Abschiebung
Proteste in Iran
## ARTIKEL ZUM THEMA
Pressefreiheit unter den Taliban: Frauenradio-Sender in Afghanistan darf wieder…
Unter der Taliban-Herrschaft in Afghanistan gibt es keine Pressefreiheit
mehr. Dass der Sender Begum FM wieder senden darf, ist Grund zur Hoffnung.
Kinderbuchautorin aus Afghanistan: Geschichten für die nächste Generation
Naeema Ghani floh nach der Rückkehr der Taliban aus Kabul nach Berlin.
Heute ist sie eine der bekanntesten afghanischen Kinderbuchautorinnen.
Afghanistan auf der Weltklimakonferenz: Klima-Taliban in Baku
Die Taliban sind zur COP geladen. Als einer der am stärksten vom
Klimawandel betroffenen Staaten sollte Afghanistan Zugang zur Konferenz
haben.
TikTok-Trend „No revenge, because“: Guter Ansatz, trotzdem daneben
Der Social Media-Trend „No revenge, because“ propagiert Selbstliebe und
Heilung, doch fördert stattdessen Sexismus und den Male Gaze.
Urteile zu Rechten von Geflüchteten: Frausein ist Asylgrund
Die Maßnahmen der Taliban gegen afghanische Frauen sind laut EuGH als
Verfolgung einzustufen. Der EGMR verurteilt Menschenrechtsverletzungen auf
Samos.
Abschiebung nach Afghanistan und Syrien: Islamismus-Förderprogramm
Die Ampel reagiert auf das islamistische Attentat von Solingen, indem sie
mit Islamisten zusammenarbeitet. Für sie zählen wohl nur deutsche Opfer.
Abschiebung nach Kabul: 28 Straftäter abgeschoben
Deutschland hat erstmals seit der Taliban-Machtübernahme Straftäter nach
Afghanistan abgeschoben. Die Aktion sei von Kanzleramt und Innenbehörden
vorbereitet worden.
Todestag von Jina Mahsa Amini: Stachel im Fleisch des Regimes
Der Tod von Jina Mahsa Amini löste Massenproteste aus, die das Regime mit
extremer Gewalt niederschlug. Wie steht es heute um die Protestbewegung?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.