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# taz.de -- Demonstrationen im Iran: Die neue Revolution
> Proteste sind im Iran eigentlich ein Dauerzustand. Doch was gerade
> passiert, hat eine völlig andere Qualität.
„Weg mit dem Diktator!“, rufe ich. Damit ist Ajatollah Chamenei gemeint.
Ich will den Menschen im Iran heute zeigen, dass ich sie in ihrem Kampf
gegen die Unterdrückung der iranischen Regierung unterstütze. Auch für mich
ist das gefährlich. Als iranische Staatsangehörige kann ich dafür schon am
Flughafen im Iran verhaftet werden, wenn ich das nächste Mal meine Familie
besuchen will.
Das ist aber nichts gegen das Risiko, das die Menschen vor Ort, auf den
Protesten eingehen. Die riskieren ihr Leben. Ich frage mich: Hätte ich mein
Gesicht mit einer OP-Maske verdecken sollen? Es gab bereits einige deutsche
Städte, in denen Spitzel der iranischen Regierung auf Demos gesichtet
wurden. „Niemand trägt hier Maske, es wird schon nichts passieren“,
beruhige ich mich. Sicher einreisen kann ich jetzt wahrscheinlich sowieso
nicht mehr.
In den letzten Wochen habe ich in den sozialen Netzwerken mehrfach Fotos
und Videos geteilt, die das brutale Vorgehen der Regierung gegen die
Protestierenden im Iran dokumentieren. Zuletzt hatte ich einen Text über
Iran für [1][die Süddeutsche Zeitung geschrieben]. Auf meinem Handy
erscheint plötzlich eine Nachricht von meinem Vater: „Dein Artikel ist
jetzt auf einer iranischen Internetseite, natürlich von Regimegegnern. Mach
dir keine Sorgen, ich kann auch nicht mehr dahin fliegen, weil ich dein
Vater bin.“ Mir gefriert das Blut in den Adern beim Lesen dieser Zeilen.
Ich klicke [2][auf den Link], den er mir geschickt hat. Die iranische Seite
hat Passagen aus meinem Artikel auf Farsi übersetzt. Glückwunsch, könnte
man meinen. Doch ich schaue mich jetzt auf der Demo genauer um: Wer ist
eigentlich der Mann dahinten, der uns filmt? Wo ist eigentlich die Polizei?
Wann wird es sich gelohnt haben, meine Familie zu gefährden? Wenn das
Regime gestürzt ist? Hat es sich jetzt schon gelohnt? Durch Beiträge,
Artikel und Demos hier in Deutschland trage ich, tragen wir doch dazu bei,
dass die Proteste im Iran groß werden. Die Aufmerksamkeit hierzulande nutzt
ihnen. Es sind die größten Proteste seit der Grünen Bewegung 2009.
Ja viele sagen sogar: „Das sind keine Proteste, das ist eine Revolution!“
So rufen es die Menschen auf den Straßen Irans. Sie haben recht. Was aber
macht diese Proteste anders als alle zuvor?
Im Iran ist niemand frei – deswegen protestieren jetzt alle auf der Straße.
Alle, das heißt: alle ökonomischen Schichten, alle Geschlechter, alle
ethnischen und religiösen Gruppen, Menschen jeden Alters.
Außerdem neu ist, dass die Proteste zum ersten Mal landesweit in dieser
Dimension stattfinden und nicht mehr nur in einzelnen Provinzen. Die vielen
Menschengruppen im Iran gehen zwar alle aus individuell unterschiedlichen
Gründen – aber alle mit dem gleichen Ziel – protestieren: Sie wollen das
Ende der Islamischen Republik.
Proteste sind im Iran nichts Neues. Im ersten Halbjahr 2022 gab es bereits
über 2.000 Proteste. Ja, man könnte sagen, Proteste sind im Iran
Dauerzustand. Einige haben es geschafft, sich in der Geschichte einen Namen
zu machen. Im Jahr 1999 waren es hauptsächlich die Studierenden, die auf
der Straße waren. Sie protestierten damals gegen die Abschaffung einer
regimekritischen Zeitung. Rückblickend werden diese Proteste deswegen
„Studentenproteste“ genannt.
Als Ahmadinedschad 2009 wieder Präsident wurde, ging hauptsächlich die
intellektuelle Mittelschicht gegen seine Wiederwahl auf die Straße. „Where
is my vote?“, war das Motto, Wahlbetrug der Vorwurf, der im Raum stand. Die
Iraner:innen wollten keinen Hardliner mehr an der Spitze des Landes, sie
wollten einen Reformer. Diese Entscheidung obliegt im Iran allerdings nicht
dem Volk, der Souverän ist der religiöse Führer Ajatollah Chamenei. Die
Wirtschaftssanktionen gegen Iran trafen 2019 nicht wie geplant die
iranische Führungselite, sondern die Zivilbevölkerung.
Ich habe das gesehen, als ich im August 2019 im Iran war. Gelegentlich gab
es keine Kartoffeln mehr. Meine Tante ärgerte sich dann beim Einkaufen
darüber, entschied sich dann dazu, etwas anderes zu kochen. Die
Wirtschaftssanktionen trafen sie nicht so hart, denn sie hatte Geld. Aber
was war mit den Menschen, die nicht so wohlhabend waren? Schon damals
musste man jahrelang auf ein neues Auto warten, wie zu DDR-Zeiten in
Ostdeutschland. Was war mit den Menschen, die nicht einmal von Luxusgütern
zu träumen wagten, ja die nicht einmal mehr die medizinische Versorgung
ihrer Familienmitglieder finanzieren konnten? Die gingen im November 2019
auf die Straße. Und heute?
Wer damals noch um Reformen gebeten hat, schreit heute: „Wir wollen die
Islamische Republik nicht mehr!“ Es geht längst nicht mehr um Wahlbetrug,
längst nicht mehr um eine wirtschaftliche Misslage, auch nicht um die
Abschaffung der Sittenpolizei oder die Kopftuchpflicht. Die Menschen im
Iran stellen die Systemfrage.
Und das Regime antwortet – mit weitaus stärkerer Aggression als je zuvor.
Diese Aggression ist aber Ausdruck wachsender Angst. Die Protestierenden
werden mit Tränengas befeuert und erschossen, sie werden getasert und
verprügelt. Damit diese Bilder nicht an die Öffentlichkeit gelangen können
und sich die Protestierenden schwieriger organisieren können, hat die
iranische Regierung das Internet landesweit gedrosselt. Das letzte Mal hat
sie das bei den Novemberprotesten 2019 gemacht. In dieser Zeit haben
Menschenrechtsorganisationen über 1.500 Tote verzeichnet, die Dunkelziffer
liegt natürlich weitaus höher. Da die Proteste mittlerweile schon seit fast
drei Wochen andauern und die Intensität kein Ende zu nehmen scheint, werden
diese Zahlen wohl diesmal übertroffen werden. Die Gewaltbereitschaft des
Regimes nimmt zu.
In Zahedan, in der Provinz Sistan und Belutschistan, hat die iranische
Revolutionsgarde am 30. September von oben aus Hubschraubern auf die
Menschen geschossen. Auch das: ein Novum. Bis dahin wurde nur vom Boden aus
geschossen. Auch die Hauptquartiere der kurdischen Parteien Irans sind im
Irak von Drohnen und Raketen der iranischen Regierung angegriffen worden.
Hunderte Tote, unzählige Verletzte. Die Bilder zeigen kriegsähnliche
Zustände. Es ist ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung.
Was wird passieren, wenn die iranische Regierung das Militär gegen die
eigene Bevölkerung einsetzt? In einem Video, das ein persischsprachiger
Fernsehsender aus London (Manoto) auf Instagram gepostet hat, wendet sich
ein hochranginger Marineoffizier direkt an Hossein Ashtari – jenen
Kommandeur der Polizei, der vor einigen Tagen die Sicherheitskräfte gegen
die protestierenden Menschen aufgehetzt hatte. Der Marineoffizier zeigt
dabei sein Gesicht und trägt seine Uniform. Und er stellt klar: Wenn das
Militär zu den Protesten hinzugezogen werden sollte, dann stünde er auf
Seiten der Bevölkerung. Er werde nicht auf unschuldige Menschen schießen.
Auch das ist neu, sehr beeindruckend und zeigt, dass es derzeit um mehr,
viel mehr geht als bei den vorherigen Protesten. Wenn sogar ein ranghoher
Offizier des iranischen Militärs seine persönlichen Überzeugungen
offenlegt, in einem diktatorischen System, das ihn dafür sofort hinrichten
lassen könnte, dann hat das alles eine neue Qualität.
Und was hat sich hier in Deutschland verändert im Vergleich zu den
Protesten davor? Auf jeden Fall die Tatsache, [3][dass wir darüber
sprechen]. Die 2.000 Proteste, die dieses Jahr bereits im Iran
stattgefunden haben, haben bei Weitem nicht die mediale Aufmerksamkeit
gefunden wie die Proteste jetzt.
Als in Abadan ein Hochhaus eingestürzt ist und die Menschen sich von den
iranischen Behörden im Stich gelassen gefühlt haben, als die Provinz
Khuzestan vom Missmanagement der Regierung und vom Klimawandel so stark
getroffen war, dass sie mit der schlimmsten Dürre seit 50 Jahren zu kämpfen
hatte, hörte man in unseren Medien kaum etwas darüber. Jetzt schon, zwar
zeitverzögert und oft lückenhaft, zwar oft mit zweifelhaft verharmlosendem
Vokabular, das teils fälschlicherweise von „Kopftuch-Unruhen“ spricht, aber
es wird berichtet.
Ein entscheidender Unterschied zu den vorherigen Protesten ist außerdem,
dass sie heute auf mehr [4][Solidarität] stoßen als in der Vergangenheit.
Während der Grünen Bewegung 2009, den bis dato größten Protesten, gab es in
Deutschland vereinzelte Demonstrationen. Jene, die sich nicht trauten, auf
die Straße zu gehen, solidarisierten sich beispielsweise, indem sie ein
grünes Armband trugen. Grün, die Farbe der Hoffnung, die Farbe der Grünen
Bewegung.
Diesmal haben am 1. Oktober Menschen in über 150 Ländern demonstriert in
Solidarität mit den Iraner:innen. Obgleich das Internet gedrosselt wurde,
veröffentlichen die Menschen im Iran unter Lebensgefahr Fotos und Videos
der Geschehnisse vor Ort. Sie werden hier in den sozialen Netzwerken
geteilt, auch das war während der Grünen Bewegung 2009 in dieser Dimension
noch nicht möglich. Kaum jemand hatte damals Twitter, Instagram hat zu
diesem Zeitpunkt noch gar nicht existiert.
Über die sozialen Netzwerke vernetzt sich auch die iranische Diaspora, und
die ist heute lauter denn je. Es werden Texte geschrieben und Beiträge
gelikt, Posts verbreitet und öffentlich mit Klarnamen kommentiert. Noch vor
ein paar Wochen wäre das für viele undenkbar gewesen. Zu groß war die
Angst, bei der nächsten Einreise inhaftiert zu werden. Aber der Wille, den
eigenen Familien im Iran gegenüber solidarisch zu sein und sie in ihren
Kämpfen zu unterstützen, ist bei vielen mittlerweile größer als die Angst.
Denn sie wissen ganz genau – wenn sie wirklich wieder sicher einreisen
möchten, um ihre Familien zu besuchen, dann geht das nur so: Die Menschen
im Iran müssen gegen das Regime gewinnen.
8 Oct 2022
## LINKS
[1] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/jetzt/iran-proteste-frauenrech…
[2] https://www.peykeiran.com/Content.aspx?ID=254435
[3] /Enissa-Amani-ueber-die-Lage-im-Iran/!5884174
[4] /Gewalt-an-der-Sharif-Universitaet/!5885192
## AUTOREN
Avin Khodakarim
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