# taz.de -- Enissa Amani über die Lage im Iran: „Ich muss von hier aus laut … | |
> Ihre Familie stammt aus dem Iran, als Aktivistin berichtet sie über den | |
> Aufstand. Enissa Amani fordert mehr Unterstützung für die | |
> Protestierenden. | |
Bild: Schülerinnen in Teheran skandieren „Tod dem Diktator“ | |
taz am wochenende: Frau Amani, vor etwa drei Wochen [1][starb in Iran die | |
junge Kurdin Jina Mahsa Amini], nachdem sie verhaftet und mutmaßlich | |
misshandelt wurde. Seither sind die Menschen [2][im ganzen Land auf der | |
Straße]. Sie berichten quasi rund um die Uhr davon, [3][auf Twitter], | |
[4][Instagram] oder auf Kundgebungen. Warum? | |
Enissa Amani: Ich habe so Momente – ich denke wie jeder von uns, der diese | |
Bilder sieht –, da will ich mir ein Ticket kaufen, nach Teheran fliegen und | |
mich in die erste Reihe stellen. Aber dann denke ich an meinen Papa, der in | |
Iran als Sozialist politisch verfolgt wurde. Seit ich als 20-jährige | |
Studentin angefangen habe, mich öffentlich deutlich zur politischen | |
Situation in Iran zu äußern, sagt er mir, dass ich nie wieder in das Land | |
einreisen darf. Und dann bin ich doch nicht mutig genug. Diese Frauen da in | |
Iran, oder die, die solidarisch in Afghanistan auf die Straße gehen, unter | |
dem Talibanregime: Vor denen können wir uns nur verneigen. Das ist Mut. | |
Dann muss ich doch wenigstens von hier aus laut sein. | |
Sie teilen Videos, haben diese Woche bei einer Kundgebung auf dem Römerberg | |
in Frankfurt gesprochen und einen [5][Solidaritätsbrief deutscher | |
Künstler*innen] an die Protestierenden in Iran mit unterzeichnet. Können | |
solche Aktionen wirklich etwas bewirken gegen ein Regime, das allein in den | |
vergangenen Tagen wieder zahlreiche Tote in Kauf genommen hat? | |
Das alleine reicht selbstverständlich nicht, auch die Politik muss handeln. | |
Und zwar mehr und deutlicher als bisher. Aber auf diese Art weiß das | |
Regime, dass seine Verbrechen gesehen werden. Das übt Druck aus. Vor allem | |
aber gibt es den Menschen Hoffnung. Und ein Mensch in Not braucht Hoffnung. | |
Damit er weiß: Vielleicht sterbe ich hier, aber mein Sterben wird gesehen. | |
Das Unrecht wird gesehen. Deswegen bitte ich auch den letzten Zyniker, der | |
sagt, es wird sich eh nie etwas ändern: Schenkt den Menschen doch | |
wenigstens diese Hoffnung. | |
Aber haben Sie wirklich Hoffnung, dass sich etwas ändert? Große Proteste | |
gab es in Iran ja schon früher. | |
Ich werde immer wieder mit dieser Haltung konfrontiert: Das wird immer so | |
bleiben. Sei es bei Rassismus, Sexismus, egal. Das ist doch Quatsch! Ich | |
glaube extrem an die Menschheit, trotz aller Gräueltaten und | |
Horrorszenarien, die wir entwickelt und durchgezogen haben. Aber wir haben | |
auch die Vereinten Nationen geschaffen und den Internationalen | |
Strafgerichtshof. Natürlich funktioniert das alles nicht makellos, im | |
Gegenteil. Aber vor diesem Gerichtshof will ich die Verantwortlichen aus | |
Iran sehen. Die Menschen werden das Regime in Iran stürzen, irgendwann. Ob | |
es jetzt passiert, hängt davon ab, ob wir weggucken und denken: Das wird | |
sowieso blutig niedergeschlagen. Oder ob wir eben hingucken und den Motor | |
am Laufen halten. Dass die internationale Aufmerksamkeit etwas bewirkt, | |
sieht man ja jetzt schon. | |
Woran? | |
Zum Beispiel an der Freilassung des Sängers [6][Shervin Hajipour.] Er wurde | |
verhaftet, nachdem ein Lied von ihm viral ging, das zur Hymne der Proteste | |
wurde. [7][Am Dienstag dann hieß es, dass er freigekommen ist.] Er hat ein | |
Statement gepostet, so im Sinne von: Danke, dass ihr den Song feiert, aber | |
er wurde instrumentalisiert und ich liebe mein Land. Das ist bizarr, in dem | |
Lied heißt es: Wir dürfen auf den Straßen nicht tanzen, nicht küssen, wir | |
wollen Freiheit. Das Lied endet auf den Satz „Für die Freiheit“! Es ist | |
klar, dass er gezwungen wurde. Aber ohne dass Millionen diesen Song | |
gepostet hätten, wäre er hingerichtet worden. Die internationale | |
Aufmerksamkeit hat ihn gerettet. Und dieses Vorgehen – das ist die | |
iranische Regierung par excellence. | |
Wie meinen Sie das? | |
Mein Vater sagt immer, er werde niemals nach Iran reisen, solange das | |
Regime nicht gestürzt wird. Ich habe mal zu ihm gesagt, dass andere | |
politische Köpfe inzwischen ja auch wieder eingereist sind, ohne, dass sie | |
hingerichtet wurden. Und er hat geantwortet: „Aber sie nehmen dich mit zum | |
Verhör und zwingen dich, ein falsches Statement abzugeben. Dass du falsch | |
lagst mit der Kritik, dass du den Staat und die Regierung liebst. Das nimmt | |
allen anderen, die kämpfen, die Kraft und den Mut.“ Mein Vater kann | |
entscheiden, nicht einzureisen. Shervin Hajipour, der in Iran lebt, hatte | |
keine andere Wahl. | |
Eigentlich sind Sie Künstlerin. Plötzlich aber ist Ihre Hauptbeschäftigung, | |
Menschen mit Informationen zu versorgen. Wie ist dieser Rollenwechsel für | |
Sie? | |
Eigentlich fühlt es sich sehr natürlich an. Klar, ich weiß zur Zeit oft | |
nicht so recht, wie ich mich Leuten vorstellen soll. Denn trotz allem | |
Aktivismus bin ich ja immer noch Künstlerin, das ist mir wichtig. Ich | |
schreibe Drehbücher, ich stehe seit acht Jahren durchgehend deutschlandweit | |
mit großer Tour auf der Bühne. Aber ich bin eben mit Politik und | |
Menschenrechtlern groß geworden. | |
Das hat Sie von früh auf geprägt? | |
Wenn du als kleines Mädchen deinen Vater ganz abgemagert mit 30 anderen | |
Männern beim Hungerstreik siehst, das brennt sich ein. Wenn du als | |
Fünfjährige mit deinen Eltern und ihren Freunden bei einer Kundgebung auf | |
dem Römerberg stehst und eigentlich nichts verstehst, nur, dass es gegen | |
eine ungerechte Regierung geht. Und 30 Jahre später sind wir, die nächste | |
Generation, dran zu sprechen. Und unsere Eltern und alle diese Onkels und | |
Tanten stehen da und hören zu. Sie haben fast alle das Land nie wieder | |
gesehen. Diese Diktatur hat seit vier Jahrzehnten ein ganzes Land mit allen | |
darin lebenden Völkern gekidnappt. | |
Ist diese Multiplikatorinnenrolle nicht auch belastend? | |
Doch, klar. Aber das ist auch nicht neu. Einerseits ehrt es mich total, | |
wenn mir junge Menschen schreiben, dass sie schon lange meine Videos gucken | |
und jetzt entschieden haben, Politikwissenschaft oder Völkerrecht zu | |
studieren. Das ist so unfassbar schön, dass man einen jungen Kopf so prägen | |
durfte. Die werden mal viel gebildeter, als ich es bin. Aber ich habe halt | |
auch manchmal 500 Nachrichten im Postfach, ich solle doch bitte die | |
Situation in Kuba erklären und man wünsche sich meine Perspektive, und ich | |
komme aber grade von sieben Tagen Tour ohne Pause und muss erst mal eine | |
Zeitung aufschlagen und gucken, was auf Kuba überhaupt los ist. Ich bin | |
weder Journalistin noch ein Nachrichtensender. Und ich kann auch nicht zu | |
allem eine Position beziehen. Weil mir die Kenntnisse fehlen, weil ich auch | |
noch einen Beruf habe, oder einfach auch ein Leben. Trotzdem empfinde ich | |
Dankbarkeit, das ist alles auch wunderschön. Man muss es nur mit größerer | |
Ruhe betrachten. | |
Die sogenannte Sittenpolizei behauptete, Aminis Kopftuch habe nicht richtig | |
gesessen. Jetzt reißen überall im Land Frauen ihr Kopftuch herunter. Welche | |
Rolle spielt bei diesen Protesten, das Jina Mahsa Amini eine Frau war? | |
Das ist sehr wichtig. Schon 2009 gab es in Iran große Demonstrationen, und | |
auch damals war eine Frau das Gesicht der Bewegung: [8][Neda Aghan-Soltan], | |
die bei Protesten nach der Präsidentschaftswahl erschossen wurde. Und | |
diesmal ist es Jina. Das Kopftuch steht symbolisch für Patriarchat, | |
Unterdrückung, dafür, dass ein Land den Menschen einen Glauben vorschreiben | |
will. Die einfachsten frauenrechtlichen Dinge sind in Iran nicht gegeben; | |
dass eine Frau sich etwa von einem prügelnden Ehemann trennen kann. Aber es | |
ist kein Protest gegen das Kopftuch an sich: Es gehen auch viele Frauen mit | |
Kopftuch auf die Straße. Sie wollen ihres tragen und kämpfen Seite an Seite | |
mit ihren Freundinnen für deren Recht, es abzulegen. Und noch etwas ist | |
ganz wichtig: Jina war nicht nur Frau, sie war auch Kurdin. | |
Warum ist das so wichtig? | |
Es gibt so viele Minderheiten im Iran. Falludschen, Kurden, Aramäer, | |
Assyrer, Armenier, Aserbeidschaner … Diese Minderheiten sind so ungesehen | |
und haben mit enorm viel Rassismus innerhalb Irans zu kämpfen. Das Wort | |
„Afghane“ zum Beispiel wird als Schimpfwort benutzt! In der Person von Jina | |
kommen zwei Unterdrückungsformen zusammen, und das ist für die Proteste | |
wichtig. Das zeigt auch der Slogan der Proteste: „Jin, jiyan, azadî“, also | |
„Frau, Leben, Freiheit“ – und zwar auf Kurdisch. | |
Normalerweise ist es ja leider so, dass für die Rechte Marginalisierter vor | |
allem diese selber kämpfen müssen. | |
Stimmt, das sehen wir ja auch hier in Deutschland. Doch die Proteste | |
richten sich gegen ein System, das alle betrifft: Unterdrückung, | |
Korruption, Armut, Hunger und Durst. Aber viele haben Angst. Mein Papa hat | |
früher schon immer gesagt: Die Minderheiten haben den meisten Mut. Weil sie | |
an einem Punkt sind, wo sie nicht mehr viel verlieren können. Von ihnen | |
ging der erste Funke aus. Die Minderheiten haben in Iran gerade Großartiges | |
möglich gemacht. | |
7 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Frauenrechte-in-Iran/!5879645 | |
[2] /Anhaltende-Proteste-in-Iran/!5883516 | |
[3] https://twitter.com/enissaamani | |
[4] https://www.instagram.com/enissa_amani/?hl=de | |
[5] https://frauenlebenfreiheit.com/ | |
[6] http://ne.de/iranischer-protestsong-baraye-wird-zum-viral-hit-2501637/ | |
[7] https://twitter.com/NatalieAmiri/status/1577327580419567616 | |
[8] /Tod-einer-Frau-auf-Video/!5161050 | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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