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# taz.de -- Strukturwandel im Kohlegebiet: Hoffnung in Hoyerswerda
> Der Ostbeauftragte der Bundesregierung reist durch den strukturschwachen
> Osten. Ziele sind Hoyerswerda, das Kohlerevier in der Lausitz und
> Dresden.
Bild: Mit der Autorin Grit Lemke besucht der Ostbeauftragte Carsten Schneider H…
Berlin taz | Der Himmel über Hoyerswerda ist leer, genau wie die Straßen.
Zwischen den Betonplatten sprießt Löwenzahn. „Früher um diese Zeit wäre
hier alles voller Kinder gewesen“, erzählt Grit Lemke. Die Regisseurin und
Autorin ist in Hoyerswerda aufgewachsen. Ihre Kindheit und Jugend in der
einstigen sozialistischen Musterstadt beschreibt sie in dem Buch [1][„Die
Kinder von Hoy“]. Längst lebt Lemke in Berlin. Sie ist nicht die Einzige.
Seit der Wende hat Hoyerswerda die Hälfte seiner Einwohner verloren, 30.000
Leute zogen weg.
An diesem Mittwoch steht Lemke zwischen den verbliebenen Plattenbauten, um
dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider, ihre Stadt zu
zeigen. Eine Stadt, die rund um das Gaskombinat Schwarze Pumpe in den 60er
und 70er Jahren aus der Heide gestampft wurde, das die Hälfte der DDR mit
Gas und Strom versorgte, deren Herz im Takt der Schichtbusse schlug und
nach 1990, als das Werk an die Treuhand übergeben und Zehntausende
entlassen wurden, fast aufhörte zu schlagen. Aus der kinderreichsten Stadt
der DDR wurde eine der ältesten der Bundesrepublik.
Inzwischen keimt wieder vorsichtige Hoffnung in „Hoywoy“, der Heimatstadt
des [2][Liedermachers Gundermann], auf. SPD-Bürgermeister Torsten Ruban-Zeh
berichtet, man denke sogar wieder über neue Kitaplätze nach. „Was völlig
neu ist für uns, wir haben ja jahrelang nur bergab geplant.“
Dass es wieder etwas aufwärts geht, hängt ausgerechnet mit dem Ende der
Kohle zusammen. In die Kohleregionen und damit auch in die Städte und
Gemeinden der Lausitz, die jahrzehntelang an der Braunkohle hingen, fließen
mit dem von Bund und Ländern beschlossenen Kohleausstieg rund 40 Milliarden
Euro an Fördergeldern. Die sollen dazu dienen, die verbliebenen Kohlekumpel
umzuschulen sowie neue Unternehmen, Bundesbehörden und Forschungsinstitute
anzusiedeln. Strukturwandel nennt sich das Großprojekt.
## Leag will sich neu erfinden
Schneider will sich ein Bild von den Umwälzungen machen, reist mit einem
Tross zwei Tage durch Sachsen und Brandenburg. Wie es so laufe, will er in
der Lausitz wissen. „So schlecht isses nich“, meint Christine Herntier,
Sprecherin der Lausitzrunde, einem Bündnis von über 50 Kommunen, und
parteilose Bürgermeisterin von Spremberg. „Jahrelang hat sich niemand für
uns interessiert, aber mit dem Kohleausstieg sind wir dermaßen in den Fokus
gerückt.“ Die resolute Mittsechzigerin setzt auf den [3][Industriepark
Schwarze Pumpe], der rund um das jetzige Braunkohlekraftwerk entsteht.
Der Betreiber Leag will sich als Produzent von Wind- und Solarenergie neu
erfinden, ein Speicherkraftwerk auf Wasserstoff-Basis soll in zwei Jahren
in Betrieb gehen. Die vier sächsischen Universitäten wollen im
Industriepark vier Institute zum Thema Kreislaufwirtschaft ausgründen. „Wir
sind stolz wie sonst was, dass die da hinkommen. Und ohne den
Strukturwandel wäre das nicht gelungen“, meint Herntier. Sie sei
optimistisch. „Ist verdammt viel Arbeit, aber ich denke, das klappt.“
Auch ihr Cottbusser Kollege Tobias Schick, ein Parteifreund von Schneider,
findet: „Es bewegt sich was, und das macht auch was mit den Leuten hier.“
Im Lausitz Science Park, der in Zusammenarbeit mit der Technischen
Universität Cottbus entsteht, sollen irgendwann mal bis zu 10.000 Menschen
arbeiten, er soll für Wachstum und Wohlstand sorgen. Die Fördermilliarden
vom Staat seien als Schmiermittel der Transformation sehr willkommen,
bedankt sich Schick bei Schneider.
Doch das größte Problem, das die Region zurzeit hat, ist nicht fehlendes
Geld, sondern es sind die fehlenden Menschen. Nicht nur Hoyerswerda, der
gesamte Osten hat seit 1990 einen Exodus erlebt. „Uns fehlen anderthalb
Generationen, wir brauchen dringend Zuzug“, sagt Herntier. „Wir müssen mehr
und wir müssen jünger werden. Und ohne Menschen aus dem Ausland wird es
nicht gehen.“
Das gilt für alle ostdeutschen Bundesländer. An der Eingangstür der Elbe
Flugzeugwerke in Dresden hängt ein Flugblatt: „Wanted. 2500 Euro. Sie
werben Mitarbeiter – wir zahlen.“ Die Flugzeugwerke beschäftigen 2.000
Mitarbeiter, die hauptsächlich ausgediente Passagierflugzeuge zu
Frachtflugzeugen umbauen. Das Geschäft wächst, das Unternehmen auch, rund
150 Stellen sind derzeit unbesetzt. Die Flugzeugwerke suchen auf der ganzen
Welt nach Fachkräften.
Jordi Boto, einer von drei Geschäftsführern und gebürtiger Spanier, führt
Schneider am Donnerstag durch eine der riesigen Hallen, in der vier
Flugzeuge gerade in unterschiedlichen Stadien des Ausweidens stehen.
Sachsen ist der Hauptsitz des Unternehmens, weitere Standorte gibt es in
China, Singapur und den USA.
## Standortnachteil AfD
Aktuell wird in Deutschland über einen verbilligten Industriestrompreis für
energieintensive Unternehmen diskutiert. Die Bundesregierung ist da
gespalten, selbst in der SPD ist man uneinig. Sachsens
SPD-Wirtschaftsminister Martin Dulig findet ihn wie seine Kolleg:innen
in den anderen Ländern unerlässlich, damit internationale Unternehmen
weiter in Deutschland investieren. Schneider widerspricht umgehend. „Schön,
dass die 16 Landesminister das beschließen, aber bezahlen muss es der
Bund.“ Eine teure Subvention wie der Industriestrompreis stehe in
Konkurrenz zu anderen Ausgaben und höherer Neuverschuldung.
Auch Boto wäre einem [4][Industriestrompreis] nicht abgeneigt, aber was er
sich von der Politik vor allem wünsche, seien keine Subventionen. Sondern
weniger Bürokratie. „Es kann doch nicht sein, dass es neun Monate dauert,
um Mitarbeiter aus Malaysia und den Philippinen zu holen. In den USA geht
das in sechs Wochen.“
Die Bundesregierung hat zwar ein [5][Fachkräfteeinwanderungsgesetz
beschlossen] und will ausländische Abschlüsse leichter anerkennen, doch in
die Praxis übersetzt es sich noch nicht.
Und dann gibt es da noch ein weiteres Problem. Die ostdeutschen
Bundesländer gelten als Hochburg von Rechtsextremen und ihrer
parlamentarischen Ableger. Macht sich der Geschäftsführer eines
internationalen Unternehmens Sorgen wegen Umfragen, nach denen einen
nationalistische und rassistische Partei wie die AfD in Sachsen bei 30
Prozent liegt? Sehr, sagt der. „Wenn Dresden mit diesen Rechten assoziiert
wird, ist das ein Problem.“ Seine Mitarbeiter:innen, von denen immerhin 40
Prozent aus dem Ausland stammen, hätten bislang keine ausländerfeindlichen
Vorkommnisse berichtet. Aber Kund:innen hätten schon angekündigt, das sie
nicht nach Dresden kommen würden, wenn sich das so entwickle.
Dresden ist wirtschaftliches Zentrum Ostdeutschlands, eine blühende und
wachsende Stadt. Doch wie lockt man Menschen in Regionen, aus denen
Ausländer:innen nach der Wende regelrecht vertrieben wurden und wo die
AfD auch heute noch locker auf Umfragewerte weit über 30 Prozent kommt?
Sowohl Schick in Cottbus als auch Herntier in Spremberg mussten sich in
Stichwahlen 2022 und 2021 jeweils gegen einen AfD-Kandidaten behaupten.
## Beängstigende Atmosphäre
In Hoyerswerda zeigt Lemke dem Ostbeauftragen die „Polenmauer“. Die
Einheimischen nannten den riesigen Plattenbau so, weil dort einst die
polnischen Vertragsarbeiter untergebracht waren, später wohnten vor allem
Vietnamesen und Mosambikaner hier. Im September 1991 versammelte sich ein
Mob von Rechtsradikalen und Zuschauer:innen tagelang vor dem Haus, sie
schmissen Scheiben ein und später Molotowcocktails.
„Es gab diese Jugendlichen, die jeden verdammten Tag vor der Kaufhalle
standen und tranken. Die wären ein Jahr vorher in der Berufsschule oder in
der Pumpe gewesen. Die sind losgezogen, haben Vietnamesen belästigt und am
Ende entwickelte sich das zu diesem Pogrom“, erzählt Lemke.
„Es war ’ne Atmosphäre, wo man Todesangst hatte und dachte, wenn du was
sagst, wirst du totgemacht. Und es war trotzdem ein Fehler, nichts zu
sagen“, zitiert sie „Röhli“, einen ihrer Kindheitsfreunde und Protagonis…
in ihrem Buch. Röhli, der eigentlich Uwe Röhl heißt, ist in Hoyerswerda
geblieben. „Dann war man 20 Jahre im Reaktionsmodus, das begann sich erst
in den letzten Jahren zu ändern“, berichtet er.
Die Vertragsarbeiter wurden weggebracht – „zu ihrer eigenen Sicherheit“ �…
die Rechten blieben. Heute sind viele der damaligen Täter schon tot, in dem
Haus wohnen neue Familien, viele von ihnen sind geflüchtet. Sam und
Mohammed, zwei halbwüchsige Jungen, hören mit großen Augen zu, als Lemke
Schneider die Ereignisse von damals erzählt. Haben sie gewusst, dass hier
mal Ausländer gejagt wurden? Ja, sagt Sam, der hier mit seiner Mutter und
drei Geschwistern wohnt. Die Familie stammt ursprünglich aus Äthiopien.
An der Kaufhalle, heute ein Supermarkt, stünden manchmal immer noch
Betrunkene und würden ihn und seine Freunde beleidigen. „Ihr Hurensöhne,
eure Eltern sollen arbeiten gehen.“ Aber ihm sei das egal, seine Mutter
habe einen Job, und in der Schule habe er viele Freunde. Er fühle sich wohl
in Hoyerswerda, bloß die Fußballplätze könnten besser sein.
Mehr Kinder kommen, Schneider geht auf sie zu. „Und, wie isses hier?“,
fragt er. „Gut“, sagen die Kinder. „Und was könnte besser sein?“ – �…
Sportplätze.“ – „Spielt ihr Fußball“- „Klar“, sagen sie. Schneide…
aus, als würde er am liebsten eine Runde kicken, aber er muss weiter, der
Bus wartet. „Ich kann mich auch nicht jeden Tag mit der AfD beschäftigen“,
sagt Schneider. Das heiße nicht, dass er alles schönreden wolle. Aber er
wolle gezielt jene stärken, die im Osten die Zivilgesellschaft am Laufen
hielten. „Die werden meist nicht gesehen, sondern die anderen, die die
Schilder tragen.“
Und wie schätzt er die Gefahr ein, dass die AfD in Sachsen, Brandenburg und
Thüringen, wo im nächsten Jahr Landtagswahlen sind, stärkste Kraft wird?
Schneider runzelt die Stirn. Die Umfragen seien nicht in Stein gemeißelt,
da gebe es noch viel Bewegung. Man müsse den Leuten die Verantwortung für
ihr Land zurückgeben, „man muss raus aus dieser Trotzphase: Jetzt zeigen
wir es denen mal.“ Was helfen könnte, seien mehr Ostdeutsche in
Führungspositionen. „Die können anders und authentisch mit ihren
Landsleuten reden. Das ist für mich eine ganz zentrale Frage der Akzeptanz
und des Funktionierens von Demokratie.“ Die Wahlen 2024 seien auch eine
Selbstvergewisserung der Gesellschaft.
[6][Christine Herntier, die Bürgermeisterin von Spremberg], ist fast
genervt von der Frage. „Das geht mir manchmal auf den Senkel. Klar kämpfen
wir gegen die AfD. Aber wenn Sie mich das fragen, dann besetzen die
automatisch dieses Thema, obwohl sie nichts dafür tun. Und wir brauchen
unsere Kraft für anderes.“ Ihre Strategie gegen die Rechten: „Die AfD lebt
vom Trotzpotenzial. Wir müssen weitermachen und nicht verzweifeln.“
In Hoyerswerda glaubt Lemke, dass das gelingen kann. „Wir stehen mitten im
Strukturwandel. Und wenn wir hier eins haben, ist es Arbeit.“ Und gute
Spielplätze. Und Einkaufszentren. Und Wohnungen. Es sei eigentlich alles
da. Fehlen nur noch die Menschen. Damit die Straßen wieder voller Kinder
sind.
1 Sep 2023
## LINKS
[1] /30-Jahre-Pogrome-in-Hoyerswerda/!5799570
[2] /Veranstalter-ueber-Liedermacher-Gundermann/!5938574
[3] /Braunkohleabbau-in-der-Lausitz/!5864099
[4] /DIW-Chef-Fratzscher-ueber-Subventionen/!5956208
[5] /Einwanderung-von-Arbeitskraeften/!5938852
[6] /Braunkohlefoerderung-in-der-Lausitz/!5358104
## AUTOREN
Anna Lehmann
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