# taz.de -- Michael Müller über Afghanistan: „Es tauchte die ‚Ursünde‘… | |
> Beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan ging vieles schief. Michael Müller | |
> (SPD) leitet die Enquetekommission, die Fehler und Versäumnisse aufklärt. | |
Bild: Soldaten der Bundeswehr während der hektischen Evakuierungsmaßnahmen im… | |
wochentaz: Herr Müller, in Afghanistan jähren sich die Machtübernahme der | |
Taliban und der Abzug der Bundeswehr zum zweiten Mal. Die von Ihnen | |
geleitete [1][Enquetekommission des Bundestags] arbeitet 20 Jahre deutsche | |
Politik am Hindukusch auf. Was ist Ihre Zwischenbilanz nach dem ersten Jahr | |
der Kommission? | |
Michael Müller: Wir formulieren gerade den Zwischenbericht. In den | |
Anhörungen tauchte immer wieder die „Ursünde“ auf, wie es einige nennen: | |
dass die Taliban nie Gesprächspartner waren. Auch dass der Einsatz zu | |
überhastet umgesetzt wurde, Bundeswehr und zivile Helfer hatten sich kaum | |
vorbereiten können. Der Bundeswehr wurde zu viel übertragen, was nicht ihre | |
Aufgabe ist, wie etwa der Staatsaufbau. Und dann hörten wir, dass die | |
Koordinierung des Einsatzes der verschiedenen Ressorts weder hier noch vor | |
Ort ausreichend funktioniert hat. Das klare Commitment, wer macht was, und | |
wer steuert es dann von Berlin aus, damit es vor Ort umgesetzt wird, hat | |
nach einigen Aussagen nicht hinreichend stattgefunden. | |
[2][Die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hätte | |
doch nicht Nein gesagt], hätte sie mehr Ressourcen und eine größere Rolle | |
beim Institutionenaufbau bekommen, wo sich die Bundeswehr reingedrängt hat. | |
War das keine politische Entscheidung? | |
Ja, aber auch Wieczorek-Zeul sagte uns, dass sie gar nicht gewollt hätte, | |
dass die Bundeswehr mehr Aufgaben übernimmt. Damit stimmt beides: Das | |
Entwicklungsministerium hätte gern mehr Ressourcen und eine klare | |
Verständigung gehabt, was es machen soll. Aber auch die Koordination | |
zwischen den Ressorts Verteidigung, Inneres, Entwicklung, Wirtschaft und | |
Finanzen hat untereinander offenbar nicht ausreichend stattgefunden. | |
Nach außen war stets die Rede vom „vernetzten Ansatz“ zwischen | |
militärischen und zivilen Mitteln. Die Bundeswehr bekam aber das Gros der | |
Mittel. Hat der vernetzte Ansatz so gar nicht stattgefunden? | |
Der Einsatz begann mit der militärischen Aufgabe Kampf gegen den Terror. Es | |
bestand eine Abhängigkeit von militärischen Fähigkeiten und vom Engagement | |
der Amerikaner, die bald ihren Hauptfokus auf den Irak richteten. Wir | |
blieben ohne diese Koordinierung weiter in dieser militärischen | |
Verpflichtung in Afghanistan. Die war damit von Anfang an auf einer | |
schiefen Ebene. Es ist nachvollziehbar, dass man mit den Amerikanern gegen | |
den Terror kämpfen wollte. Aber diese selbstkritische Bestandsaufnahme – | |
was haben wir erreicht, was wollen wir mit welchem Schwerpunkt und welchen | |
Ressourcen erreichen? – hat mutmaßlich nicht hinreichend stattgefunden. | |
Warum versäumte die Regierung eine ehrliche Bestandsaufnahme? | |
Es mag mehrere Gründe für eine nicht weit genug gehende Analyse geben. Zum | |
Ersten, um in dem internationalen Bündnis engagiert zu bleiben, zum Zweiten | |
mangelndes Wissen zu Kultur, Geschichte und Entscheidungsstrukturen des | |
Landes. Und drittens gab es ja durchaus Erfolge, insbesondere in der | |
Anfangsphase. Bundeswehr und zivile Helfer waren gerade zu Beginn | |
akzeptierte Partner. Bildungs-, Gesundheits- und Wasserinfrastruktur wurde | |
aufgebaut, was zunächst beruhigte, denn es lief doch. | |
Wollte man es womöglich gar nicht so genau wissen aus Angst vor möglichen | |
Konsequenzen? Und war eine Funktion dieser Berichte vielleicht auch, | |
leichter Flüchtlinge abschieben zu können? | |
Ich bleibe dabei: Eine intensivere Ressortabstimmung hätte vielleicht | |
vieles in dem Dialog der Ministerien miteinander offengelegt. Womöglich gab | |
es auch innenpolitische Gründe, nicht alles so klar zu formulieren. Bei den | |
Anhörungen wurde deutlich: Wenn wir zumindest auf Regierungsebene zum | |
Schluss kommen, dass wir nicht erfolgreich sind, was ist dann die | |
Konsequenz? Können wir uns aus der internationalen Solidarität | |
verabschieden? Es haben sich auch Abgeordnete vor Ort selbst ein Bild | |
gemacht. Es gab kritische Diskussionen, aber nicht mit den Konsequenzen, | |
die uns aus heutiger Sicht notwendig erscheinen. | |
War die Option eines deutschen Rückzugs realistisch? | |
Es gab ja die Freiheit, sich nicht am Krieg der Amerikaner im Irak zu | |
beteiligen. Vielleicht war dieses Nein möglich wegen des Ja zu Afghanistan. | |
Dass Deutschland auch in der Verantwortung war, diesen auch von Afghanistan | |
ausgehenden Terror zu bekämpfen, stellte niemand ernsthaft in Frage. Ich | |
erinnere mich: 15 Jahre später als Regierender Bürgermeister– was wir hier | |
in Berlin für Sorgen hatten nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz 2016 | |
und dem Terror in unseren Partnerstädten. | |
Deutschland war 2001 Gastgeber der Konferenz auf dem Petersberg, die nicht | |
nur einen sehr kleinen militärischen Einsatz beschloss, sondern vor allem | |
den Aufbau staatlicher Strukturen. Hat man sich von dieser Führungsrolle zu | |
früh verabschiedet? | |
Hatten wir nach 9/11 wirklich die Führungsrolle? Ihre Frage impliziert, | |
dass Deutschland insbesondere am Anfang eine andere Rolle hätte spielen | |
können. Aus den Anhörungen kann ich das nicht schlussfolgern. | |
In der Kommission wurde deutlich, dass es beim Antiterrorkampf der USA wie | |
der Verbündeten viele zivile Opfer gab und dies die Taliban stärkte. Müsste | |
die Kommission nicht die Option diskutieren: Wir machen bei dieser Art | |
Militäreinsatz nicht mehr mit, sondern kümmern uns um den Aufbau | |
politischer Institutionen? | |
[3][Wir waren sehr aktiv beim Aufbau der Polizei, der auch nicht | |
funktioniert hat.] Aber viele haben uns bestätigt, dass wir da inklusive | |
der Stadt Berlin sehr engagiert waren und viel versucht haben. Doch welche | |
Konsequenzen ziehen wir daraus, wenn wir heute sehen, dass es so nicht | |
funktioniert hat? | |
Polizei ist bei uns Sache der Länder, von denen sich viele nicht beteiligt | |
haben. War es denn sinnvoll, das die Bundesregierung etwas übernommen hat, | |
das unwillige Bundesländer umsetzen sollten? | |
Der Bundeswehreinsatz und die humanitäre Hilfe fanden ja auf Bundesebene | |
statt. Bei der Polizei sollte gerade unsere Erfahrung der zivilen, also | |
nichtmilitärischen Struktur eingebracht werden. Da sehe ich kein Problem. | |
Aber wie? Da kommen wir doch wieder zur Frage: Hat der vernetzte Ansatz | |
geklappt oder müssen wir nicht eigentlich viel mehr politisch tätig werden? | |
Eine Konsequenz dürfte sein, dass es eine klare Fehlerkultur geben muss, | |
eine offene Auseinandersetzung zu Zielen und Fähigkeiten, der permanenten | |
Evaluierung eines Einsatzes samt Schlussfolgerungen, um gegebenenfalls | |
Dinge zu ändern. | |
Die Intervention in Afghanistan scheiterte auch politisch. [4][Die | |
Kooperation mit Warlords diskreditierte und destabilisierte das | |
demokratische System], das man errichten wollte. Was lernen Sie aus dem | |
gescheiterten Demokratie-Aufbau? | |
Offensichtlich kann man eine Demokratie oder ein Staatsgebilde aus | |
Legislative, Exekutive und Judikative einer anderen Kultur nicht von außen | |
überstülpen. Wir haben versäumt, auf relevante Entscheider zuzugehen und | |
sie einzubinden. Dadurch fehlte bei ihnen wie bei großen Teilen der | |
Bevölkerung die Akzeptanz für das Vorgehen. | |
Kriminelle Warlords wurden bei Wahlen zugelassen und so in Positionen | |
gebracht, wo sie von internationaler Hilfe sehr profitierten. | |
Ausgangspunkt war ein weltweiter Schock, das Engagement war anfangs klar | |
militärisch geprägt. Nach Jahrzehnten Krieg in Afghanistan war die Frage: | |
Wie können wir da überhaupt Strukturen aufbauen? Man hat zunächst mit | |
Menschen kooperieren müssen, die einen mitunter zweifelhaften Ruf hatten. | |
Dass man dann nicht auf andere zugegangen ist, die eine andere wichtige | |
Rolle spielten, wird als größerer Fehler gesehen. | |
Warlords stellten bei der Bonner Konferenz 2001 drei der vier Delegationen. | |
Eine fünfte, demokratische Delegation wurde wieder ausgeladen. | |
Ich sehe das als großen Fehler. Wir haben noch nicht aufarbeiten können, | |
warum es so war. | |
Brauchen wir eine andere parlamentarische Begleitung? | |
Deutschland wird international wahrscheinlich mehr gefordert, woraus auch | |
die Diskussion um den Bundessicherheitsrat folgt: Brauchen wir ein | |
Regierungsgremium, wo Ressortinteressen und -verpflichtungen | |
zusammengeführt werden? Wir haben aus gutem Grund starke | |
Ressortverantwortung bei den Ministerien und kein Präsidialsystem. | |
Parlamentarier haben die Aufgabe, das Regierungshandeln zu kontrollieren, | |
einschließlich der Ressortabstimmung. Möglicherweise ist es sinnvoll, das | |
in einem Gremium zu diskutieren, das das zusammenführt, oder in gemeinsam | |
tagenden statt getrennten Ausschüssen. | |
Transparenzhinweis: Thomas Ruttig ist taz-Autor und Mitglied des | |
Afghanistan Analysts Network. Früher arbeitete er für die UN in Kabul, | |
weshalb er von der Enquetekommission zur Afghanistan-Konferenz 2001 befragt | |
wurde. | |
13 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
Thomas Ruttig | |
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