# taz.de -- Nach dem Abzug aus Afghanistan: Wahnsinniger Hochmut | |
> Die Aufarbeitung des Militäreinsatzes in Afghanistan wird gemieden wie | |
> ein heißes Eisen. Grund dafür ist die Angst vor bitteren Erkenntnissen. | |
Bild: Bundeswehrpatrouille westlich von Kundus im September 2008 | |
Wie konnte es geschehen, dass wir Afghanistan so schnell wieder vergessen | |
haben. Nicht das Land, das hat uns nie besonders interessiert, sondern den | |
Krieg, an dem wir 20 Jahre lang beteiligt waren. Wie kann es sein, dass all | |
jene, die militärische Interventionen für notwendig erachten, für ein | |
legitimes Instrument der Außenpolitik, jetzt nicht hinterfragen, wie | |
Hunderttausende Menschen sterben konnten und weit mehr als eine Billion | |
Dollar ausgegeben wurde, mit dem Resultat, dass erneut [1][die Taliban | |
regieren]. | |
Wie kann es sein, dass wir als angeblich rationale, zivilisierte | |
Gesellschaft nun unsere Annahmen und Wertigkeiten nicht einer | |
grundsätzlichen Kritik unterziehen? Die Antwort liegt auf der Hand: Eine | |
solche Auseinandersetzung würde unsere Blindheit offenbaren, das ganze | |
Ausmaß einer Tragödie, die an erster Stelle darin besteht, dass der | |
„Westen“ oder die „USA und ihre Lakaien“ Afghanistan umfassend neu | |
gestalten wollten, erschaffen im eigenen Bild, nach unserem Gleichnis. | |
Sich dem Fiasko des Einsatzes zu stellen würde bedeuten, sich kritisch mit | |
der eigenen ideologischen Anmaßung zu beschäftigen, was Fortschritt heißt | |
und wie er erzielt werden kann. Jetzt wissen wir zumindest eines: nicht auf | |
diesem ruinös destruktiven Weg. Wenn zukünftige Generationen auf diese | |
Epoche zurückblicken, werden sie den gewaltigen Wahn westlicher | |
Allmachtsfantasien klarer erkennen. | |
Um solche Katastrophen in Zukunft zu verhindern, ist es notwendig, einige | |
der größten Fehler zu benennen, die eigentlich keine Fehler sind, sondern | |
unserer politischen DNA seit dem Imperialismus eingeschrieben. | |
1. Als wäre das Präsidialsystem der Demokratie letzter Schluss, wurden | |
gleich nach der Vertreibung der Taliban ein zentralistisches System und ein | |
Staatsoberhaupt mit zu viel Macht installiert. Anstatt mit Blick auf die | |
regionalen Unterschiede im Land eine Demokratisierung von unten zu fördern, | |
lokal und kommunal, unter Berücksichtigung gewachsener Strukturen und mit | |
Einbindung aller Menschen in einem Prozess der selbst gestalteten | |
Ermächtigung. | |
2. Obwohl das ursprüngliche Ziel des militärischen Einsatzes die | |
[2][Vernichtung von al-Qaida] war und große Teile der Taliban mit dieser | |
Terrororganisation nichts zu tun hatten, wurden die Taliban von Anfang an | |
dämonisiert und zu keiner der vermeintlich inklusiven Konferenzen | |
eingeladen. 19 Jahre lang wurde weiter Krieg geführt, obwohl der | |
ursprüngliche Kriegsgrund weggefallen war, gegen Kräfte, die keine | |
Möglichkeit hatten, sich in eine pluralistischere Gesellschaft | |
einzubringen. | |
3. [3][Korruption] und Gewalt. Nur eine Zahl sei genannt: Laut einer Studie | |
der UNO zahlten Afghaninnen schon im Jahre 2010 Bestechungsgelder in Höhe | |
von 2,5 Milliarden Dollar an Soldaten, Richter und Beamte, sogar an Lehrer | |
und Ärzte. Unter den Taliban durften die Menschen wenig, unter der neuen | |
Regierung mussten sie blechen. Zudem waren unter den einheimischen | |
Verbündeten der internationalen Menschenrechtsmissionare jene brutalen | |
Warlords, die das Land zuvor zugrunde gerichtet hatten. | |
4. Lügenschützenhilfe. Von Anfang wurde dieser Angriffskrieg (Pardon: „die | |
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der | |
Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe“) begleitet von | |
euphemistischen Exzessen. Je düsterer die Lage, desto mehr musste | |
rhetorisch aufgerüstet werden. Auf der einen Seite die teuflischen Taliban, | |
die unsere Zivilisation gefährden, auf der anderen die phänomenalen | |
Fortschritte, für deren Absicherung es halt noch ein wenig Gewalt braucht. | |
Ein propagandistisches Schneeballsystem, das zusammenbrechen musste, | |
spätestens als die Zahl der Nato-Soldaten im Land die 100.000 überstieg, | |
als sich Selbstmordattentate häuften, Drohnen Kinder zerfetzten und Bomben | |
Hochzeiten in Beerdigungen verwandelten. Die mediale Berichterstattung | |
fokussierte sich zuletzt auf das schlechte Management der Götterdämmerung. | |
Als hätte sich bei einem geordneten Rückzug mit würdevollem Schutz für all | |
die Afghaninnen, die gefährdet waren und es weiterhin sind, die Frage nach | |
dem Unsinn des ganzen Unterfangens erübrigt. Anstatt unser Versagen | |
anzuerkennen (natürlich vor allem jenes der USA, aber wie der Volksmund | |
sagt: mitgefangen, mitgehangen), ist es simpel und billig zu behaupten, die | |
Menschen in Afghanistan seien zu rückständig oder zu muslimisch oder zu | |
tribalistisch gewesen. | |
Anstatt zu fragen, ob die Unbelehrbaren nicht eher im „Westen“ als im | |
Hindukusch sitzen und ob es nicht gute Gründe gibt, Geschenke abzulehnen, | |
die mit Gewalt verteilt werden, beharren viele darauf, Afghanistan wäre | |
einfach nicht bereit gewesen, von uns gerettet zu werden. Wir haben als | |
Gesellschaft viel zu wenig diskutiert, was wir in Afghanistan eigentlich | |
tun (nein, nicht Schulen bauen, die fehlen auch im Kongo und in | |
Papua-Neuguinea, wenn ich es mir recht überlege, fehlen die vielerorts). | |
Und ob wir durch unser Eingreifen nicht zu einer Spirale der Gewalt | |
beitragen, die das Land inzwischen völlig traumatisiert hat. Zu selten | |
haben wir protestiert gegen das, was in unserem Namen und mit unseren | |
Steuergeldern dort geschieht. Wie immer wir es drehen und wenden, der Krieg | |
in Afghanistan hat bewiesen, dass die demokratische Kontrolle über | |
kriegerische Einsätze bei uns viel zu schwach ausgebildet ist. | |
Was wäre geschehen, wenn wir der afghanischen Historie mehr Aufmerksamkeit | |
geschenkt hätten? Wenn wir akzeptiert hätten, dass es verschiedene Formen | |
der Ordnung gibt (wieso Polizei, wenn der Dorfälteste den Konflikt besser | |
lösen kann)? Wenn wir eingesehen hätten, dass Demut besser ist als | |
Arroganz, Zuhören besser als Belehren? Und dass Geld manchmal noch größere | |
Probleme schafft? Wir sollten nun trauern, um all die Opfer, aber auch | |
nachdenken, über unsere demokratieuntaugliche Hybris. | |
20 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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