# taz.de -- Ehemalige Abgeordnete über Afghanistan: „Meine Seele ist nicht h… | |
> Yalda Farangis Sawgand hat als junge Frau im afghanischen Parlament | |
> gesessen. Jetzt ist sie in Deutschland und fürchtet um ihre Familie. | |
Bild: Wollte Afghanistan als Politikerin und Journalistin verändern: Yalda Far… | |
taz: Frau Sawgand, Sie haben in Afghanistan als Journalistin gearbeitet und | |
Sie waren Parlamentsabgeordnete in Ihrem Heimatbezirk. Und dabei sind Sie | |
heute gerade 33 Jahre alt. Erzählen Sie ein bisschen von sich. | |
Yalda Farangis Sawgand: Mich selbst vorzustellen, finde ich schwierig, da | |
bin ich eher schüchtern. Aber es stimmt, ich habe in meiner Heimat einiges | |
erlebt. Ich war die jüngste Abgeordnete, schon in der Schule war ich sehr | |
aktiv, kulturell und politisch. Nach der Schule habe ich mich beim Rundfunk | |
beworben. | |
Im Bayan-e-Shamal-Mediencenter, das die Bundeswehr in Mazar-i-Sharif | |
aufgebaut hat? | |
Genau, in Mazar lebte unsere Familie. Ich habe mich beworben und wurde | |
genommen. Ich habe da mit viel Begeisterung gearbeitet, auch einen Preis | |
gewonnen und übernahm im Laufe der Zeit mehr Verantwortung. Anfangs | |
moderierte ich eine Kindersendung, dann wurde ich Nachrichtensprecherin auf | |
Usbekisch und auf Persisch und produzierte vier Radiosendungen. Ich habe | |
den ganzen Tag gearbeitet und abends Jura und Politik studiert. | |
Das war eine Art Fernstudium? | |
Nein, es war eine Privatuniversität, die Lehrveranstaltungen fanden von 17 | |
bis 21 Uhr statt. Dort kam ich zur Politik. Viele Leute in Afghanistan | |
glauben, dass du Geld und Macht haben und überall bekannt sein musst, um in | |
die Politik einzusteigen. Aber wir jungen Leute an der Uni und viele junge | |
KünstlerInnen haben beschlossen, jemanden ins Parlament zu schicken, damit | |
wir gehört werden. Die Gruppe hat mich ausgewählt, wir haben Wahlkampf von | |
Haus zu Haus gemacht und haben Erfolg gehabt. | |
Und dann kamen Sie Anfang 2014 ins Parlament, da waren Sie 25 Jahre alt? | |
Leider blieb ich nur kurz als Abgeordnete. Schon im September 2015 musste | |
ich nach Deutschland fliehen. | |
Weil Sie von den Taliban bedroht wurden – erhielten Sie Mails, Anrufe? | |
Oh nein, ganz anders! Ich sollte eine Rede halten, in einem Ort außerhalb | |
von Mazar-i-Sharif. Mein damaliger Verlobter, heute mein Mann, hat mich | |
gefahren. Als Abgeordnete hätte ich bewaffnete Soldaten zum Schutz haben | |
können. Das wollte ich nicht, also fuhren mich entweder mein Bruder oder | |
mein Ehemann. An jenem Abend verfolgten uns zwei maskierte Männer auf einem | |
Motorrad. Mein Mann fuhr so schnell er konnte, die Straße war sehr | |
schlecht, nur Sand und Steine. Der Wagen kam ins Rutschen, das Motorrad kam | |
näher, die Männer schossen auf uns. Ich konnte die Polizei im Nachbarort | |
anrufen. Man empfahl uns einen schmalen Pfad zur Rückreise in die Stadt. | |
Wir haben das geschafft, aber ich konnte zwei Wochen nicht rausgehen, so | |
viel Angst hatte ich. | |
Und danach haben Sie Asyl beantragt? | |
Ja, im September 2015 kamen mein Mann und ich hierher. Mein Sohn wurde in | |
Deutschland geboren, er ist jetzt fünf. Wir sind nach Schleswig-Holstein | |
gezogen, weil eine meiner Cousinen damals in Kiel lebte. | |
Also, Sie sind hier, aber Ihre restliche Familie ist noch in Afghanistan. | |
Wie geht es ihnen? | |
Nachdem die Taliban die Macht ergriffen haben, ist meine Familie nach Kabul | |
geflohen und hat sich bei Verwandten versteckt. Als die Taliban auch dort | |
einmarschierten, haben sie Haus für Haus durchsucht. Meine Familie ist | |
wieder nach Mazar zurückgekehrt und versteckt sich jetzt bei Bekannten, die | |
selbst sechs Kinder haben. Vor einigen Tagen musste mein Bruder das | |
Versteck verlassen, um Geld abzuheben, das ist gerade nicht so einfach in | |
Afghanistan. Die Taliban stoppten das Taxi, nötigten ihn auszusteigen, | |
verlangten seinen Ausweis und sein Handy, auf dem sensible Daten | |
gespeichert waren. Er weigerte sich. Sie haben ihn auf den Kopf und den | |
Körper geschlagen und zerrten ihn mit sich, aber er schrie so laut, dass es | |
einen Menschenauflauf gab und sie ihn auf der Straße liegen ließen und | |
verschwanden. Passanten halfen ihm, und auf Umwegen gelangte er zu seinem | |
Versteck, wo meine Mutter und meine Schwester seine Wunden versorgen. | |
Alle Ihre Verwandten, Ihre Mutter, Ihre Geschwister und ein Cousin, werden | |
von den Taliban gesucht – es gibt eine Vorgeschichte, warum Ihre Familie | |
besonders in Gefahr ist? | |
Ich stamme aus einer Familie, die schon seit drei Generationen sozial und | |
politisch aktiv ist. Mein Großvater war eine Art inoffizieller | |
Bürgermeister in seinem Dorf und hat sich dafür eingesetzt, dass alle | |
Kinder zur Schule gehen können. Dafür haben sich die Mudschahedin 1981 | |
gerächt, sie haben seine Villa in Brand gesetzt und acht Familienmitglieder | |
getötet. 1998 haben die Taliban meinen Vater getötet, ich habe ihn auf der | |
Straße liegen sehen … Wir sind die dritte Generation, die bedroht wird. | |
Meine Mutter hat zuletzt für das Schwedische Afghanistan-Komitee | |
gearbeitet, war vorher Lehrerin, Hebamme und Krankenschwester. Mein Bruder | |
ist Anwalt. Meine Schwester hat Medizin studiert und will Chirurgin | |
werden, mein Cousin studiert Anglistik. Wir waren immer aktiv und wir haben | |
viele Opfer gebracht. | |
Sie versuchen, Ihre Verwandten herauszuholen – wie ist die Reaktion der | |
Behörden? | |
Ich habe an alle geschrieben: An das Auswärtige Amt (AA), die Bundeswehr, | |
die Landesregierung. Die Bundeswehr sagt: Du bist Ortskraft, dich und deine | |
Kernfamilie haben wir in Sicherheit gebracht, mehr machen wir nicht. Die | |
Antwort vom AA war wirklich eine Katastrophe. Sie schreiben von der | |
allgemeinen Lage im Land, die eine Ausreise nur in Fällen außergewöhnlicher | |
Härte erlaubt – aber das bezieht sich auf die Zeit, bevor die Taliban | |
zurückgekommen sind. Ich verstehe nicht, warum jetzt noch daran | |
festgehalten wird, dass – so wörtlich – „die Voraussetzungen in ständig… | |
höchstrichterlicher Rechtsprechung eng ausgelegt werden“. Jetzt, wo die | |
Welt zusieht, was die Taliban mit uns Afghanen und Afghaninnen anstellen? | |
Selbst wenn es Papiere gäbe, führt zurzeit kein Weg aus dem Land heraus … | |
Oh, nein, es gibt Wege! Fast jeden Tag starten Flugzeuge aus | |
Mazar-i-Sharif. Ich habe Kontakt mit Hilfsorganisationen, die meine Familie | |
aus dem Land holen würden. Sie brauchen nur eine Aufnahmebestätigung eines | |
anderen Staates, dann könnten sie nach Pakistan ausreisen. Gern würde ich | |
Herrn Seehofer, Herrn Maas oder den höchsten Richtern unsere Geschichte | |
erzählen und sie fragen, ob sie selbst eine Mutter und Geschwister haben | |
und ob sie die im Stich lassen würden. Ist der Verlust meines Vaters durch | |
die Taliban nicht genug? Soll ich jetzt noch tatenlos zusehen, wie meine | |
restlichen Angehörigen umkommen? | |
Wie soll es nun weitergehen? | |
Ich suche nach anderen Möglichkeiten, hoffe und warte, gehe an die | |
Öffentlichkeit. Ich habe hier ein Leben, mein Sohn braucht mich, und ich | |
will mein Masterstudium in Kiel beginnen, in Internationaler Politik oder | |
Migration und Diversität. Aber meine Seele ist nicht hier, denn ich muss | |
ständig an meine Familie denken. Ich träume, wie sie erschossen werden oder | |
wie wir gemeinsam fliehen. | |
Das Ausland tut sich gerade sehr schwer, wie es mit Afghanistan umgehen | |
soll. Was meinen Sie: Soll man mit den Taliban reden und ihnen Geld geben? | |
Nein! Ich weiß, es ist hart, denn ohne Hilfe sterben Menschen, vielleicht | |
auch meine Familie. Aber die Taliban-Regierung darf nicht anerkannt werden, | |
sonst werden wir nie ein freies Leben haben, Schulen für Frauen, ein | |
bisschen Normalität. Ich weiß, unsere Regierung war nicht gut, überall | |
herrscht Korruption. Aber Frauen konnten studieren, ins Café gehen, in | |
allen Berufen arbeiten, und wir als junge Generation hatten Hoffnung auf | |
ein besseres Leben. Jetzt ist alles weg, nach 20 Jahren und Milliarden von | |
Dollar. Die Frauen sitzen zu Hause, die Taliban kontrollieren alles. Musik | |
– ist haram. Schulunterricht für Mädchen – haram. Alle Künste – haram. | |
Dabei steht nichts davon im Koran. Der Koran sagt: Jeder Mensch ist allein | |
Gott verantwortlich. Aber sie zwingen die Männer, Turban zu tragen, und die | |
Frauen die Burka, unter der man nicht atmen kann. Sie schlagen Frauen, die | |
für ihre Rechte demonstrieren. Ich habe als Kind erlebt, wie sie meinen | |
Vater getötet haben, und ich will mich denen nicht beugen. Als Mensch | |
akzeptiere ich das nicht. | |
Aber soll das Ausland zusehen, wie die Bevölkerung stirbt? | |
Ich höre diese Geschichten, ich habe Kontakt zu vielen Organisationen. | |
Kinder sterben bereits an Hunger, Frauen erhalten keine Hilfe im | |
Krankenhaus. Ich habe von einer Frau gehört, die ihr Kind auf der Straße | |
geboren hat; es starb. Aber wenn man den Taliban Geld gibt, hilft das den | |
Menschen nicht. Die Taliban essen auch jetzt gut. Sie nennen sich Muslime, | |
aber sie handeln nicht so: Muslime teilen und helfen den Armen. Ja, das | |
Ausland muss helfen, denn an der heutigen Lage sind sie mit Schuld. Sicher | |
hat unsere Regierung vieles falsch gemacht, der Präsident hat Geld an seine | |
eigenen Leute verteilt. Aber die USA oder Deutschland haben das zugelassen, | |
sie haben nicht geprüft, was mit dem Geld passiert. Die internationale | |
Hilfe ist unkontrolliert in falschen Kanälen versickert. | |
Wie also sollte die Welt mit Afghanistan umgehen? | |
Die Taliban müssen Hilfsorganisationen reinlassen, die das Geld direkt zu | |
Notleidenden bringen. Und es muss echte freie Wahlen geben. Aber ich habe | |
wenig Hoffnung: Die Nachbarländer wollen Unruhe in Afghanistan. So | |
wiederholt sich die Geschichte alle 20 Jahre. Ein schäbiges Spiel …, das | |
Menschen tötet. | |
Haben Sie einen Wunsch an die LeserInnen der taz? Gibt es etwas, bei dem | |
Sie Hilfe brauchen? | |
Wenn jemand eine Lösung hat, wie ich meiner Familie helfen kann, oder eine | |
Stelle weiß, an die ich mich noch wenden könnte, dann, bitte, kontaktieren | |
Sie mich. Ich will hier leben, arbeiten und politisch und als Lyrikerin | |
aktiv sein, aber zurzeit ist mein Kopf zu voll mit Sorgen um meine Familie. | |
18 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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