# taz.de -- Afghanistan nach dem Abzug: Es droht eine Hungersnot | |
> In dem Land herrscht wirtschaftliches Chaos. Wem die Taliban nicht Grund | |
> genug waren, den könnte bald Armut und Nahrungsmangel in die Flucht | |
> treiben. | |
Bild: Eine afghanische Familie warten in einem Camp für Binnenvertriebene in K… | |
Für ihre Wirtschaftspolitik sind die Taliban, die seit zwei Monaten | |
Afghanistan beherrschen, nicht bekannt. Ob sie jenseits übertriebener | |
Hoffnungen auf [1][Rohstoffdeals mit China] und Finanzhilfen aus den | |
Golfstaaten überhaupt eine wirtschaftliche Strategie haben, ist fraglich. | |
Fairerweise muss erwähnt werden, dass es auch der westlichen Intervention | |
trotz Milliardeninvestitionen und einem Heer teurer Expert*innen in 20 | |
Jahren nicht gelungen ist, eine nachhaltige Wirtschaft aufzubauen, die über | |
den Opiumanbau hinausgeht. Nach dem Abzug der letzten westlichen | |
Soldaten*innen, Berater*innen und Entwicklungshelfer*innen droht | |
jetzt eine humanitäre Katastrophe und der Zusammenbruch des Staatsapparats, | |
der immerhin teilweise funktioniert hat. | |
Noch steckt das Land im Übergang zwischen der zu 75 Prozent aus dem Ausland | |
finanzierten alten Regierung und dem Regime der Taliban. Deren mangelnde | |
Regierungsfähigkeit, eine außergewöhnliche Dürre, der massenhafte Verlust | |
lokaler Expert*innen, Washingtons Blockade von 9 Milliarden Dollar | |
Währungsreserven sowie das Einfrieren internationaler Hilfen haben [2][zum | |
Kollaps des Finanzsystems] geführt. Normales Wirtschaften ist unmöglich | |
geworden, und es droht laut UNO eine Hungersnot. | |
Wer noch unter den Taliban ausgeharrt hat, dürfte spätestens jetzt | |
Fluchtgedanken entwickeln. Dabei herrscht international | |
Afghanistanmüdigkeit. Warum sollen den bisher schon am Hindukusch | |
versenkten Milliarden weitere Gelder hinterhergeworfen werden? Doch | |
abgesehen davon, dass westliche Länder für die Misere in Afghanistan | |
mitverantwortlich sind, muss den Menschen natürlich allein aus humanitären | |
Gründen geholfen werden. Das nicht zu tun, hieße sie für das Regime der | |
Taliban zu bestrafen. | |
## Eigennützige Finanzhilfe | |
Allerdings könnten die Taliban die Hilfe für eigene Zwecke | |
instrumentalisieren. Die Kunst wird sein, das eine zu tun und das andere zu | |
verhindern. Dabei ist die von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der | |
Leyen diese Woche zum [3][G20-Sondergipfel] angekündigte Hilfe von 1 | |
Milliarde Euro durchaus auch eigennützig. Die EU-Kommission zieht ihre | |
Lehren aus dem Jahr 2015. | |
Damals hatte unzureichende Hilfe für syrische Bürgerkriegsopfer dazu | |
geführt, dass sich viele Flüchtlinge aufmachten, um via Türkei Europa zu | |
erreichen. Die zugesagte Hilfe soll jetzt also mit verhindern, dass | |
Afghanen*innen ihr Land und ihre Region verlassen. Nach der ersten | |
Taliban-Herrschaft 2001 lebten 4,5 Millionen afghanische Flüchtlinge im | |
Ausland, meist in Pakistan und Iran. Afghanistans Bevölkerung zählte damals | |
22 Millionen. | |
Derzeit leben 2 bis 3 Millionen Afghanen*innen im Ausland, die | |
Bevölkerung zählt heute 38 Millionen. Die rund 100.000 Afghanen und | |
Afghaninnen, die seit der Einnahme Kabuls am 15. August ins Ausland flohen, | |
dürften nur Vorgeschmack dessen sein, was passiert, wenn die Taliban die | |
Krise nicht in den Griff bekommen. Und Pakistan, Iran, die Nachbarn in | |
Zentralasien bis hin zur Türkei haben bereits erklärt, dass sie keine | |
größere Zahl afghanischer Flüchtlinge aufnehmen. | |
Ein Massenexodus wäre zwar ein Gesichtsverlust für die Taliban. Doch | |
dürften Flüchtlinge ihr wirksamster Hebel gegenüber westlichen Staaten | |
sein. Zwar werden die EU die Taliban wohl kaum dafür bezahlen und ausbilden | |
wollen, Menschen an der Flucht nach Europa zu hindern, wie einst mit | |
Milizen in Libyen. Die nennt die EU beschönigend libysche „Küstenwache“. | |
Doch Europa ist an einem gewissen Gelingen der Wirtschaftspolitik der | |
Taliban interessiert und wird auf manche ihrer Forderungen eingehen müssen. | |
Taliban-Außenminister Amir Chan Muttaki warnte bereits vor weiteren | |
internationalen Sanktionen. Eine Schwächung der Regierung in Kabul liege | |
„in niemandes Interesse“. Denn die Konsequenzen für die Situation der | |
Flüchtlinge wären laut Muttaki weltweit spürbar. Wie es schon [4][Erdoğan] | |
und [5][Lukaschenko] praktiziert haben, könnten auch die Taliban versucht | |
sein, Europa mit Flüchtlingen unter Druck zu setzen. | |
16 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Machtuebernahme-in-Afghanistan/!5793849 | |
[2] /Lage-in-Afghanistan-verschaerft-sich/!5792626 | |
[3] /G20-Sondergipfel-zu-Afghanistan/!5807794 | |
[4] /Erdoan-in-Bruessel/!5670287 | |
[5] /Grenzregion-zu-Belarus/!5797848 | |
## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Hungersnot | |
Taliban | |
Kabul | |
Schwerpunkt Armut | |
Schwerpunkt Armut | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Pakistan | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Mehr humanitäre Krisen weltweit: Eine schockierende Rekordzahl | |
Laut der Hilfsorganisation IRC stieg die Anzahl von Menschen, die derzeit | |
weltweit in humanitärer Not sind, erschreckend an. Vor allem betroffen ist | |
Afghanistan. | |
Ehemalige Abgeordnete über Afghanistan: „Meine Seele ist nicht hier“ | |
Yalda Farangis Sawgand hat als junge Frau im afghanischen Parlament | |
gesessen. Jetzt ist sie in Deutschland und fürchtet um ihre Familie. | |
Angst und Armut in Afghanistan: Brutalstmögliche Unfähigkeit | |
Sie behaupten, „Ordnung zu schaffen“. Tatsächlich stürzen die Taliban das | |
geschundene Land jedoch täglich tiefer ins Chaos. | |
Pakistans Umgang mit den Taliban: Zwischen Gut und Böse | |
Pakistans Taliban sind wieder in der Offensive. Das hat vor allem mit ihren | |
afghanischen Glaubensbrüdern zu tun – die von Islamabad gestützt werden. | |
Völkerrechtler über Taliban-Regierung: „Pragmatische Anerkennung denkbar“ | |
Wie soll Deutschland mit den neuen Machthabern in Afghanistan umgehen? | |
Völkerrechtler Matthias Hartwig über Möglichkeiten und Grenzen der | |
Diplomatie. |