# taz.de -- Grenzregion zu Belarus: Lukaschenkos Krieg fordert Tote | |
> Seit Wochen harren Dutzende Geflüchtete an der polnisch-belarussischen | |
> Grenze aus. Nun sind vier Leichen entdeckt worden. | |
Bild: Sperrgebiet für Geflüchtete, Journalisten und Menschenrechtler an der p… | |
Die Abschottung der polnisch-belarussischen Grenze mit einem hohen | |
Stacheldrahtzaun hat die ersten Todesopfer gefordert: Am Sonntag wurden auf | |
polnischer Seite drei Leichen gefunden und auf belarussischer – angeblich | |
nur einen Meter von der polnischen Grenze entfernt – die Leiche einer Frau. | |
„Sie sind an Unterkühlung und körperlicher Erschöpfung verstorben“, | |
erläutert Polens Premier Mateusz Morawiecki am Montag in Warschau. „Noch | |
wissen wir nicht, wer die Iraker sind, aber wir werden alles in unserer | |
Macht Stehende tun, um ihnen ihre Identität zurückzugeben“. | |
Zum ersten Mal seit Ausrufung des Ausnahmerechts im Grenzstreifen zu | |
Belarus erfahren die Polinnen aber auch von Rettungsaktionen. „Wir haben | |
acht Menschen aus dem Sumpfgebiet bei Suprasl gerettet, sieben davon wurden | |
sofort ins Krankenhaus gebracht und werden dort von uns behandelt“, so | |
Morawiecki. Und: „Wir haben fünfzehn migrantische Kinder gerettet, die | |
Hälfte davon an Corona erkrankt. Auch sie werden in unseren Krankenhäusern | |
behandelt“. | |
Überprüfen lässt sich das nicht. Auch nicht die täglich vom polnischen | |
Grenzschutz bekannt gegebenen Zahlen von versuchten und verhinderten | |
„illegalen Grenzübertritten“. Denn vor rund einem Monat verhängte Polens | |
Präsident Andrzej Duda auf Antrag der nationalpopulistischen Regierung den | |
[1][Ausnahmezustand über die Grenzregion zu Belarus]. Entlang der über 400 | |
km langen Grenze zu Belarus sind auf einer Breite von drei Kilometern knapp | |
183 polnische Städte und Dörfer betroffen. | |
Touristen, Journalisten wie anderen Ortsfremden ist der Zutritt zu dieser | |
Grenzregion streng verboten, zudem gibt es eine Nachrichtensperre. Dagegen | |
gab es zwar heftigen Protest zahlreicher Zeitungsverlage, doch Polens | |
Innenminister Mariusz Kaminski wimmelte den Protest am Montag erneut ab: | |
„Wir tragen auch Verantwortung für die Sicherheit von Journalisten. Sie | |
können auch gut drei Kilometer von der Grenze entfernt berichten. In der | |
Grenzregion sind schwer bewaffnete Soldaten unterwegs.“ | |
## Kein Essen, kein Schutz, keine Menschlichkeit | |
Die letzten Bilder, die von der Flüchtlingskrise an Polens Ostgrenze über | |
die Bildschirme flimmerten, zeigten eine Gruppe von 32 frierenden Afghanen | |
– darunter vier Frauen, ein 15-jähriges Mädchen und ein 17-jähriger Junge … | |
die den polnischen Soldaten immer wieder auf Englisch zuriefen: „Wir wollen | |
internationalen Schutz!“ Sie lagerten auf dem blanken Boden rund um ein | |
schlecht brennendes Lagerfeuer und konnten weder vor noch zurück, denn | |
hinter ihnen standen bewaffnete belarussische Soldaten und vor ihnen | |
polnische, die ihnen den Grenzübertritt verweigerten. | |
Obwohl Menschenrechtsorganisationen die Regierung in Warschau aufforderten, | |
die knapp drei Dutzend Afghanen aufzunehmen, ihnen warmes Essen und ein | |
Dach über dem Kopf zu geben und sie dann ein reguläres | |
Asylbewerbungsverfahren durchlaufen zu lassen, weigerten sich die | |
regierenden Nationalpopulisten von der Recht und Gerechtigkeit (PiS). „Wir | |
lassen uns nicht erpressen!“, so Morawiecki auch am Montag wieder. „Weder | |
von Minsk noch von Moskau!“ | |
Mit diesen Worten ist ein letztes Bild aus der Zeit vor dem Ausnahmezustand | |
verbunden: Ein großer weißer Topf mit heißem Letscho und zehn kleine | |
Packungen Pizza, die Dorfbewohner aus der Umgebung den Geflüchtete hatten | |
zukommen lassen. Doch der Grenzschutz ließ das Essen nicht durch. Und so | |
stand es tagelang bei Wind und Wetter im Gras und verschimmelte langsam. | |
„Befehl von oben!“ knurrte ein Grenzer hinter seiner Gesichtsmaske hervor. | |
Obwohl Rechtsanwälte versicherten, dass sie die mündlich erteilte Vollmacht | |
der Flüchtlinge hätten, um einen Asylantrag zu stellen, verhinderten | |
Soldaten jeden weiteren Kontakt über Megafone, indem sie die Motoren der | |
Militärfahrzeuge laut aufdrehten. | |
Ob die Gruppe immer noch dort lagert, ob die kranke Afghanin noch lebt, was | |
aus den beiden Jugendlichen geworden ist, wissen seit Verhängung des | |
Ausnahmezustandes nur noch der Grenzschutz, die Soldaten vor Ort, der | |
Geheimdienst und die Regierung. Die Journalisten und alle Hilfswilligen | |
mussten gehen. Von der polnisch-belarussischen Grenzregion gibt es nur noch | |
offizielle Verlautbarungen, Gerüchte, aber keine überprüften Informationen | |
mehr. | |
## Das Narrativ vom hybriden Krieg | |
Morawiecki und Kaminski gehen davon aus, dass es sich bei dem | |
ungewöhnlichen Flüchtlingsandrang an der Ostgrenze um einen hybriden Krieg | |
von Minsk und Moskau gegen die EU handle. Er sei eine Vergeltungsaktion für | |
die Sanktionen gegen Belarus, die die EU nach den gefälschten | |
Präsidentschaftswahlen gegen das Lukaschenko-Regime verhängt hatten. | |
Tatsächlich hatte Lukaschenko vor einigen Wochen gesagt, dass er die | |
Flüchtlinge „nicht mehr an der Weiterreise in die EU“ hindern werde. | |
Auf Aufnahmen mit Nachtsichtkameras des polnischen Grenzschutzes ist zu | |
sehen, wie auf belarussischer Seite Militärfahrzeuge an die Grenze | |
heranfahren, viele Menschen aussteigen und dann in Richtung polnischer | |
Grenze rennen. Angeblich, so Morawiecki, habe es allein im September 4.000 | |
Versuche gegeben, die polnisch-belarussische Grenze zu überschreiten. In | |
den meisten Fällen habe Polen den Grenzübertritte verhindern können. | |
In der Praxis sieht das so aus, dass Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak | |
oder Somalia, die laut Kaminski „Menschenhändlern in Minsk 2.500 Dollar für | |
die Reise nach Deutschland“ bezahlen, von Belarus an die Grenze gebracht | |
werden, die es auch oft über die Grenze schaffen, dann aber von polnischen | |
Grenzschützen aufgegriffen und zurückgebracht werden. Die Bitte, einen | |
Asylantrag stellen zu dürfen, wird in den meisten Fällen „überhört“. | |
Da Minsk inzwischen Zehntausende Iraker, Afghanen und Somalier habe | |
einfliegen lassen, die alle über Polen oder Litauern nach Deutschland | |
wollten, werde Polen die ohnehin schon stark gesicherte Grenze mit weiteren | |
500 Soldaten und schwerem Militärgerät verstärken, so Morawiecki. „Der | |
hybride Krieg wird noch einige Monate lang andauern.“ | |
20 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Polen-schottet-sich-ab/!5793065 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Polen | |
Menschenrechtsverletzungen | |
EU-Außengrenzen | |
Flüchtlinge | |
Belarus | |
Schwerpunkt Flucht | |
Kolumne Grauzone | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
EU-Außengrenze zu Belarus: Die EU spielt mit | |
Das Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus erlebt eine humanitäre | |
Katastrophe. Daran ist nicht nur der belarussische Präsident schuld. | |
Grenzregion zwischen Polen und Belarus: Grünes Licht für Geflüchtete | |
In Polen kommen viele Geflüchtete aus Belarus an. Die Grenzregion gilt als | |
rechtskonservativ. Doch viele Bewohner:innen zeigen sich solidarisch. | |
Ausnahmezustand an Polens Ostgrenze: Noch mal 60 Tage | |
Das Parlament stimmt für eine Verlängerung des Notstandes. | |
Hilfsorganisationen warnen vor einer humanitären Krise. | |
Flüchtlingsdrama an Polens Ostgrenze: Sterben ohne lästige Zeugen | |
Polens Regierung will den Ausnahmezustand verlängern. Für die | |
Gefährlichkeit Geflüchteter werden „Beweise“ vorgelegt. Überprüfen kann… | |
niemand. | |
Grenzregion zu Belrarus: Unsere Toten | |
Vier Geflüchtete sind an der Grenze zwischen Polen und Belarus gestorben. | |
Die geringe Beachtung zeigt: Wir haben uns an die Grausamkeiten gewöhnt. | |
Tote an polnisch-belarussischer Grenze: Brüsseler Balance | |
EU-Politikerinnen geben Belarus die Schuld am polnisch-belarussischen | |
Grenzstreit. Der hat jetzt vier Tote gefordert. Zu Polens Rolle schweigt | |
man. | |
Grenzregion zwischen Polen und Belarus: Zynischer Machtpoker | |
Der Streit zwischen Polen und Belarus fordert erste Tote. Die EU darf dem | |
grausamen Spiel nicht tatenlos zusehen, wenn sie neue Opfer verhindern | |
will. | |
Geflüchtete in Polen: Morawieckis Augenwischerei | |
Der Ausnahmezustand an der polnischen Ostgrenze zu Belarus ist grundlos. | |
Polens Ministerpräsident spielt sich damit zum Retter auf. | |
Polen schottet sich ab: Im Ausnahmezustand | |
Um Geflüchtete aus Belarus abzuwehren, will Warschau an seiner östlichen | |
Grenze den Notstand verhängen. Dadurch werden Bürgerrechte eingeschränkt. |