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# taz.de -- Nach Machtübernahme in Afghanistan: Eingeschränkte Mädchenbildung
> Viele weiterführende Schulen in Afghanistan sind für Mädchen geschlossen.
> Doch die Linie der Taliban ist in dieser Frage alles andere als
> eindeutig.
Bild: Die Schule dieser beiden 15-jährigen Mädchen wurde schon vor Jahren von…
Die Taliban seien nicht gegen Mädchenbildung. Sie wäre durchaus möglich,
„bis zum Doktortitel“, aber „mit Hidschab“ – sprich: nach Geschlechte…
getrennt. Das sagte am 16. November Kari Fasihuddin, Chef des mächtigen
„Ministeriums zur Förderung des Rechten und Bekämpfung des Verwerflichen“,
bei einem Auftritt in der afghanischen Großstadt Masar-i-Scharif. Eine
Aussage, die nach Berichten über ein pauschales Mädchenschulverbot im
Westen manche:n überraschen dürfte.
Trotzdem hat die Machtübernahme der Taliban bereits zu einem
gesellschaftlichen Backlash geführt, der auch die Bildungschancen von
Mädchen und Frauen stark einschränkt. So schlossen Taliban-Kommandeure nach
ihrer Machtübernahme vielerorts Mädchenschulen, die über die sechs Klassen
der Grundstufe hinausgehen. Anderswo taten das die Schuldirektor:innen
in vorauseilendem Gehorsam oder aus Angst vor Übergriffen. Eltern schickten
ihre Töchter nicht mehr zur Schule.
Ein ausdrückliches Schulverbot für ältere Mädchen gibt es jedoch nicht. Am
18. September gab das Bildungsministerium lediglich bekannt, Jungen ab der
7. Klasse könnten nach Monaten coronabedingter Schließung in die Schulen
zurückkehren. Für die Mädchen müsse zuerst „eine nationale Regelung“
gefunden werden.
## Meinungsunterschiede in der Talibanführung
Der Großteil der Taliban-Kommandeure und des Schulpersonals interpretierten
das offenbar als Verbot, sagte Anders Fänge der taz. Fänge war viele Jahre
Landesdirektor des Schwedischen Afghanistan-Komitees (SAK), einer großen
NGO, die seit Jahrzehnten Schulen in Afghanistan fördert. Laut Fänge geht
das Fehlen konkreter Richtlinien auf Meinungsunterschiede in der
Talibanführung zurück: „Wir wissen, dass sie sich in solchen Fällen
offiziell gar nicht äußern.“
Das bestätigt Modaser Islam, Aktivist der talibankritischen
Islamistengruppe Dschamiat Eslah (Reformvereinigung), die für
Mädchenbildung eintritt. Er sagte der taz, die Geistlichen in der
Talibanführung hätten darüber „noch keinen Konsens erzielt“. Er erwarte,
dass sie „zunächst Änderungen im Lehrplan vornehmen und mehr Lehrerinnen
einstellen wollen“, bevor sie die Mädchenschulen wieder öffnen.
Taliban-intern gehe es vor allem darum, die jungen, stark ideologisierten
Kämpfer zu überzeugen, die das Bildungssystem der vergangenen 20 Jahre „als
„unislamisch betrachten“. Ihnen gegenüber wolle man argumentieren, dass
eine solche Haltung die lebensnotwendige Finanzhilfe aus dem Westen
gefährde.
Es ist vor allem die Realität im ländlichen Raum Afghanistans, die Mädchen
den Besuch weiterführender Schulen erschwert. Dort lehnen große Teile der
Bevölkerung das für Mädchen nach beginnender Pubertät ab. Das wird oft
vereinfachend als „Wertesystem der Stammesgesellschaft“ bezeichnet und ist
häufig noch konservativer als die Scharia. Viele Taliban stammen selbst vom
Land, haben diese Werte verinnerlicht und ignorieren, dass selbst der Koran
Bildung für alle postuliert.
## Schwierige Bedingungen schon vor den Taliban
Auch Armut spielt eine zentrale Rolle. Kinder werden als Arbeitskräfte
benötigt. Zudem war das Bildungssystem unter der westlich geförderten, nun
gestürzten Regierung korrupt. Obwohl laut Gesetz unentgeltlich, musste für
Schulbildung oft bezahlt werden, Lehrer:innen verlangen Schmiergeld für
Versetzungen. Das konnten sich viele Familien nicht leisten. Wenn
überhaupt, schickten sie oft nur Söhne zur Schule.
Mehrab Takal*, ein Analyst aus der Südostprovinz Paktia, sagt der taz, dass
dort auch unter der alten Regierung in vielen Dörfern allenfalls eine
Handvoll Mädchen die Schulen besuchten. In der Provinz Urusgan im Süden des
Landes schaffte es in den letzten 15 Jahren kein einziges Mädchen bis zum
Abitur.
Die fehlenden Richtlinien führen jetzt dazu, dass die Situation je nach
Provinz unterschiedlich ausfällt. Der unabhängige afghanische Privatsender
Tolo berichtete vorige Woche, dass in 7 der 34 Provinzen staatlich geführte
höhere Mädchenschulen offen seien. In der Metropole Herat öffneten am 8.
November mindestens 26 staatliche und private Mittel- und Oberschulen für
Mädchen wieder. Zuvor hatte Taliban-Provinzgouverneur Nur Ahmad Islamjar
bei einem Treffen mit der örtlichen Lehrervereinigung erklärt, man werde
„alles tun, damit alle Schulen in den kommenden Tagen wieder öffnen
können“.
## Jahresendprüfungen für Mädchen fallen aus
Nachdem ausländische Medien darüber berichtet hatten, zwang die örtliche
Taliban-Bildungsbehörde, die nicht dem Gouverneur untersteht, die Schulen
zum Zurückrudern. Sie habe alle Schulen der Stadt angeschrieben, keine
Jahresendprüfungen für Mädchen ab der 7. Klasse anzusetzen, sondern sie
automatisch zu versetzen, wie das von afghanischen Frauen gegründete
Online-Nachrichtenportal Ruchschana berichtete. Auch das ist kein direktes
Verbot, wirkt aber ähnlich. Dem Privatsender Tolo zufolge sei danach der
Schulbesuch von Mädchen rapide gesunken.
Und es gibt weitere Nischen. Das SAK konnte nach Verhandlungen mit
örtlichen Talibanvertrern ab Ende Oktober alle seine Schulen wieder öffnen,
darunter auch die mit Sekundär- und Gymnasialstufen für Mädchen. 60 Prozent
der 100.000 SAK-Schüler:innen sind Mädchen, allerdings nur 3.000 jenseits
von Klasse 6.
Auch Mehrab Takal ist optimistisch. Er sagt, die Haltung der Bevölkerung in
seiner Heimatprovinz habe sich geändert. Es gebe inzwischen private
Mädchenklassen in vielen Dörfern, was mit der konservativen Bevölkerung zu
vereinbaren sei. Dem könnten sich die Taliban „auf Dauer nicht
verschließen“.
Solche Ansätze könnte der Westen jetzt unterstützen, nachdem er mit dem
komplett gescheiterten Afghanistan-Einsatz den Taliban erst die Tür zurück
zur Macht geöffnet hat. Laut Anders Fänge schaden vor allem die
Anti-Taliban-Finanzsanktionen des Westens den Mädchenschulen, denn das
Lehrpersonal könne nicht bezahlt werden: „Sanktionen bestrafen die
Bevölkerung, nicht die Taliban.“
* Name auf Bitte des Interviewten geändert
21 Nov 2021
## AUTOREN
Thomas Ruttig
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