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# taz.de -- Machtübernahme und Unterdrückung durch die Taliban: Religion stat…
> Die Taliban übernahmen vor zwei Jahren die Herrschaft in Afghanistan. Die
> Folgen sind verheerend, insbesondere für Frauen.
Bild: Selbst der Einkauf auf dem Markt kann für afghanische Frauen gefährlich…
Nachdem die Taliban an die Macht kamen, verlor die Kabulerin Nilofar ihren
Job. „Davor habe ich für die Regierung gearbeitet, und mein Gehalt genügte,
uns zu unterhalten“, sagt sie. „Die Taliban zahlten es eine Weile weiter,
aber dann stoppten sie das.“ Die 26-Jährige, die bittet, ihren Nachnamen
nicht zu veröffentlichen, muss weiterhin allein für ihre Familie sorgen.
Neben ihrem kriegsversehrten Ehemann sind das ihre zwei Kinder, vier
Schwestern und der alte Schwiegervater.
Bei einer Firma holte Nilofar sich einen Karatschi, einen Handkarren, mit
einem Gefrierkübel, um Eiskrem zu verkaufen. „Ich bekomme einen Anteil von
allem, was ich verkaufe – 2 Afghani (etwa 2,5 Eurocent, Anm. der Redaktion)
für eine kleine Eiswaffel, die 10 Afghani kostet, und 5 Afghani für eine
große zu 20. So komme ich auf 100 bis 200 Afghani am Tag. Das ist genug, um
die Miete und laufende Kosten zu zahlen.“
Aber viele Taliban machen es Nilofar schwer zu arbeiten. „Sie sagten mir
immer wieder, ich könnte das nicht ohne Mahram machen“ – ohne einen
männlichen Verwandten als Begleitung. „Dann sah sich ein netter Talib
unsere Situation zu Hause an. Er half mir, eine offizielle Genehmigung zum
Verkaufen zu besorgen, mahnte mich, die Verschleierung zu beachten und an
einer Stelle zu bleiben. Aber ich muss durch die Straßen ziehen, um genug
einzunehmen.“ Es bleibe ein „Katz-und-Maus-Spiel“, Taliban-Kontrolleuren
aus dem Weg zu gehen.
[1][Es sind Afghanistans Frauen, die am meisten unter der erneuten
Machtübernahme der Taliban vor zwei Jahren leiden.] Auch die
Wirtschaftskrise, ausgelöst durch faktische Sanktionen und die Einstellung
aller Entwicklungszahlungen des Westens, trifft sie am stärksten. Laut
Internationaler Arbeitsorganisation ILO sank ihre Beschäftigungsquote im
formellen wie informellen Sektor seit August 2021 um rund 25 Prozent; die
der Männer ging im Vergleich nur um 7 Prozent zurück. Übrig blieben für
Frauen überwiegend niedrig bezahlte Heimarbeitsjobs.
Insgesamt schrumpfte Afghanistans Wirtschaft laut UN seit 2021 um fast ein
Viertel. Die Zahl der Afghan*innen unter der Armutsgrenze erhöhte sich
um 15 auf 34 Millionen – von insgesamt 40,1 Millionen Gesamtbevölkerung. 96
Prozent können sich aus eigenen Mitteln nicht ausreichend ernähren. Viele
verschulden sich, um überhaupt Nahrungsmittel kaufen zu können. 16 Prozent
der Haushalte besitzen keine Kochutensilien, 40 Prozent keine
Wasserbehälter und 54 Prozent keine Heizgeräte. Gleichzeitig kündigten die
UN im Juli an, 8 Millionen Afghan*innen Nahrungsmittelhilfe streichen zu
müssen, weil die Geberländer nicht mehr genügend Geld dafür zur Verfügung
stellen. Bisher versorgten die UN 20 Millionen Menschen in Afghanistan
mit Nahrungsmittelhilfen.
Politische Priorität der Taliban nach ihrem Sieg im zwanzigjährigen Kampf
gegen eine US-geführte Militärkoalition ist es, Afghanistan in eine
vollständig vom islamischen Recht, der Scharia, geregelte Gesellschaft
umzubauen, also in eine islamische Theokratie. [2][Bei einer Großen
Versammlung der islamischen Geistlichkeit des Landes in Kabul im vorigen
Sommer] erklärte ihr Amir (der Oberste Führer) Hebatullah Achundsad alle
weltlichen Gesetze, vor allem die unter der westlich gestützten
Vorgängerregierung erlassenen, für ungültig. Allah habe den Heiligen Krieg
gegen die „Ungläubigen“ zum Sieg geführt, begründete er dieses Vorgehen.
Deshalb werde nun seine göttliche Ordnung auf Erden errichtet. Das sei auch
der Wunsch des afghanischen Volkes, das diesen Kampf unterstützt habe.
Institutionen und Medien, in denen Afghan*innen eine andere Meinung
äußern können, existieren nicht mehr. Öffentlichen Protest und Widerstand
unterdrücken die Taliban brutal. Oft gehen sie auch gegen die Familien,
sozialen oder ethnischen Gruppen vor, aus denen Aktivist*innen stammen.
Herzstück dieses Umbaus ist das systematische Zurückdrehen von
Frauenrechten wie etwa des Rechts auf Bildung und Berufstätigkeit in vielen
Branchen. Jene Frauenrechte seien westlichen Ursprungs und deshalb
„unislamisch“, so die Taliban. Schülerinnen bis zur fünften Klasse sind d…
Einzigen, die noch Zugang zu Bildung haben und von Frauen unterrichtet
werden dürfen.
Ende vorigen Jahres beschlossen die Taliban, Frauen komplett von den
Universitäten zu verbannen, als Lehrende wie als Studentinnen. Seit Juli
lassen sie junge Frauen nicht mehr zu den Aufnahmeprüfungen zu. Schon im
vergangen Jahr durften sie sich in viele Fachrichtungen nicht mehr
einschreiben. Ebenfalls im Juli schlossen die Taliban alle
Schönheitssalons. Sie gehörten zu den wenigen öffentlichen – wohlgemerkt
bereits gendersegregierten – Orten, an denen Afghaninnen nicht nur
eigenständig Geld verdienen, sondern auch soziale Kontakte pflegen konnten.
UN-Expert*innen haben der Weltorganisation deshalb nahegelegt, die weltweit
einmalige „schwere, systematische und institutionalisierte Diskriminierung
von Frauen und Mädchen“ durch die Taliban offiziell [3][als
„Gender-Apartheid“ einzustufen]. Aber vielleicht reicht dieser Begriff
nicht einmal aus, Afghanistans Gegenwart zu beschreiben. Im Hochschul- und
in Teilen des Bildungssystems schaffen die Taliban ja keine separaten Räume
für Frauen und Mädchen, sondern verdrängen sie komplett aus der
Öffentlichkeit. Eine nun ausgesperrte Studentin meint bitter: „Die Taliban
kennen nur zwei Plätze für Frauen: das Haus und das Grab.“
Auch für Studenten und Schüler ändern die Taliban drastisch die
Rahmenbedingungen. Islamische Geistliche revidieren Lehrpläne und
Curricula, der Fokus liegt auf religiöser Unterweisung. „Die Immersion in
die modernen Wissenschaften ist destruktiv für den Glauben“, schrieb der
Oberste Richter der Taliban, Scheich Abdul Hakim Hakkani, der als
wichtigster Berater Hebatullahs gilt. „In einem islamischen Staatswesen
muss religiöser gegenüber moderner Bildung Vorrang gegeben werden. Wenn ein
Student eine Stunde mit Arithmetik, Agrarkunde oder Chemie verbringt, muss
er sich wenigstens zwei Stunden religiösen Studien widmen, nicht
andersherum.“
Die Taliban wandeln staatliche in Koranschulen um. Sie stellen islamische
Seminare den Universitäten gleich. An den Universitäten verdreifachten sie
die Zahl der Semesterstunden für das obligatorische Fach „islamische
Kultur“ von 16 auf nunmehr 48. Die Hochschulen müssen Beamte für
„Verkündigung und Anleitung“ rekrutieren, die das Personal und die
Studierenden in religiösen Fragen unterweisen sollen. Dabei geht es um
„surat und sirat“, Erscheinung und Verhalten, wie es in der religiösen
Sprache der Taliban heißt. Das heißt: Aus für Anzug und Krawatte bei
Dozenten, Jeans und T-Shirt bei Studenten, nicht mehr rasieren,
Unterbrechung der Vorlesungen zu den Gebetszeiten.
Das Hochschulministerium organisiert „religiös-wissenschaftliche Seminare“
für Geistliche und Dozenten, damit beide Gruppen sich auf „eine
übergreifende Vision“ verständigen, „dem Volk und dem Land zu dienen“.
Imperativ sei es dabei, so Minister Neda Muhammad Nadim, „Gott, seinem
Propheten und dem Amir Gehorsam zu leisten“. Ausländische
Nichtregierungsorganisationen, die bis dahin vor allem in unterversorgten
Regionen das Bildungssystem am Laufen hielten, wurden aufgefordert, ihre
Projekte an die Taliban-Regierung zu übergeben. Die aber haben dafür kaum
qualifiziertes Personal, also sollen Mullahs auch diese Aufgabe übernehmen.
„Insgesamt haben die Taliban Afghanistan komplett aus den international
standardisierten Systemen und Normen von Bildung herausgelöst“, kritisiert
ein afghanischer Universitätsdozent, der anonym bleiben möchte.
Bald könnte Afghanistan ohne wirklich qualifizierte Fachkräfte dastehen.
Ohne Ärztinnen, Lehrerinnen und Ingenieurinnen sowieso. Sorgen die Taliban
nicht wenigstens graduell für wirtschaftliche Verbesserungen, könnte auch
die Zustimmung oder Anpassung jener, die den Taliban bisher wenigstens die
Beendigung des 40-jährigen Krieges zugutehalten, schwinden.
Nilofar, die am Ende ihres langen Arbeitstages Brot und, wenn das Geld
dafür reicht, etwas Gemüse und Joghurt für ihre Familie kauft, sagt: „Ich
sorge mich vor dem Winter, wenn die Leute kein Eis kaufen.“
12 Aug 2023
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## AUTOREN
Thomas Ruttig
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