# taz.de -- Ersatzfreiheitsstrafe in Berlin: Mehr Knast für arme Menschen | |
> In Berlin sitzen immer mehr Menschen Ersatzfreiheitsstrafen ab. Die | |
> Initiative Freiheitsfonds beklagt Unverhältnismäßigkeit und fürchtet | |
> steigende Zahlen. | |
Bild: Fahren ohne Fahrschein muss man sich leisten können | |
BERLIN taz | Wer eine gerichtlich verordnete Geldstrafe nicht bezahlen | |
kann, muss nach geltendem Gesetz eine sogenannte [1][Ersatzfreiheitsstrafe] | |
verbüßen. Sprich: in den Knast. Wie aus einer Anfrage der Deutschen Presse | |
Agentur an die Senatsjustizverwaltung hervorgeht, waren das im ersten | |
Halbjahr 2023 in Berlin bereits 1.606 Menschen. | |
Und die Tendenz ist steigend. Im gesamten Jahr 2022 mussten 2.390 Menschen | |
eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. In den beiden Vorjahren waren es | |
coronabedingt weit weniger, da die Vollstreckung ausgesetzt war. | |
Ein häufig zugrundeliegendes Delikt ist das Fahren ohne Fahrschein, im | |
Strafgesetzbuch unter Paragraf 265a als „Erschleichen von Leistungen“ | |
geregelt. Von Januar bis Juni 2023 mussten deswegen 317 Menschen eine | |
Ersatzfreiheitsstrafe antreten. Im Jahr 2022 waren es noch 414. | |
Arne Semsrott, von der [2][Initiative Freiheitsfonds], die bislang 838 | |
Menschen aus Gefängnissen freigekauft hat, davon ein Viertel in Berlin, | |
prophezeit auch weiter zunehmende Ersatzfreiheitsstrafen: „Wirtschaftskrise | |
und Inflation bedeuten, dass sich die Situation für viele Menschen | |
perspektivisch verschlechtert. Dann wird es auch mehr Leute geben, die ihre | |
Strafen nicht zahlen können und im Gefängnis landen.“ | |
## Steigende Zahlen befürchtet | |
Aus einer Erhebung der JVA Hakenfelde geht hervor, dass ohnehin besonders | |
Menschen von der Regelung betroffen sind, die eigentlich | |
unterstützungsbedürftig wären. Bis zu 85 Prozent der Ersatzinhaftierten | |
sind arbeitslos, etwa 38 Prozent wohnungslos, dazu seien fast alle | |
verschuldet und viele hätten Sucht- und psychische Erkrankungen. | |
Semsrott beklagt, dass die verhängten Tagessätze gerade für | |
armutsbetroffene Menschen unverhältnismäßig hoch angesetzt seien. „Eine | |
übliche Strafe für das wiederholte Fahren ohne Fahrschein sind 30 | |
Tagessätze à 15 Euro, also insgesamt 450 Euro. Menschen mit | |
Bürger*innengeld oder ohne Einkommen können das nicht bezahlen“, sagt | |
er. | |
Eine Reduzierung der Mindesttagessätze auf 5 Euro, wie es die Berliner | |
Generalstaatsanwältin Margarete Koppers im Januar Staatsanwält*innen | |
und Anwält*innen empfahl, sei deshalb auf Landesebene ein guter Vorstoß, | |
so Semsrott. Aus einer Recherche des Neuen Deutschlands ging jedoch erst im | |
Juli hervor, dass dieser Mindestsatz in der Berliner Justiz bisher nur | |
selten Anwendung findet. | |
Aus Semsrotts Sicht müsse neben der konsequenteren Anwendung die Höhe des | |
Mindestsatzes weiter reduziert werden, um Verhältnismäßigkeit herzustellen. | |
„Das Existenzminimum muss beachtet werden. Bei zu hohen Tagessätzen wird | |
das schnell überschritten. Bei wirklich kleinen Einkommen sollte man | |
deshalb auf 1 Euro runtergehen“, sagt er. Eigentlich fordert er die | |
Entkriminalisierung, also die Abschaffung des Paragrafen 265a. Eine | |
Alternative wäre vergünstigter oder kostenloser ÖPNV. | |
Im Juni hatte der Bundestag beschlossen, [3][die Berechnungsregelung | |
anzupassen]. Während bisher für 60 Tagessätze auch 60 Tage Freiheitsentzug | |
verhängt wurden, sind es von nun an noch 30, also die Hälfte. | |
8 Aug 2023 | |
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[1] /Ersatzfreiheitsstrafe-fuer-Arme/!5908952 | |
[2] /Reform-der-Ersatzfreiheitsstrafe/!5918975 | |
[3] /Reform-der-Ersatzfreiheitsstrafe/!5908954 | |
## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
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