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# taz.de -- Koalitionsvertrag von CDU und SPD: Das schwarz-rote Handbuch
> Bauen, Soziales, Integration: Das Programm für die kommenden drei Jahre
> enthält viele Absichtserklärungen, aber wenig konkrete Maßnahmen.
Bild: Stefan Evers, Franziska Giffey und Kai Wegner bei der Vorstellung des Koa…
## Bauen als Hoffnung
Obwohl bauen, bauen, bauen das Leitmotiv ist, stellt sich die [1][Koalition
aus CDU und SPD] direkt auf das Scheitern ihrer Ziele ein. Statt 20.000
neuen Wohnungen pro Jahr sollen demnach „bis zu“ 20.000 Wohnungen
entstehen, davon „bis zu“ 5.000 Sozialwohnungen. Wörtlich heißt es:
„Angesichts der aktuellen schwierigen und krisenhaften Rahmenbedingungen in
der Bauwirtschaft wird dieses Ziel in der verbleibenden Legislaturperiode
nicht sofort erreichbar sein.“ Die neue Stadtentwicklungssenatorin der SPD
wird die nächsten Jahre wohl stets niedrigere Zahlen präsentieren als die
bisherige rot-grün-rote Koalition.
Um nicht vollends hinter den Erwartungen zu bleiben, soll der Wohnungsbau
beschleunigt werden, durch ein Schneller-Bauen-Gesetz, das Investoren von
allzu lästigen Auflagen, etwa beim Denkmalschutz oder Natur- und
Artenschutz entbindet. Eine neue Bauordnung soll Widerspruchsverfahren
verkürzen oder auch verhindern, Bebauungspläne durch
„Genehmigungsfiktionen“ ersetzt werden, Investoren mit mehr Förderungen und
weniger Sozialstandards gelockt werden.
Neben dem Ziel der [2][Teil-Bebauung des Tempelhofer Feldes] wurde zudem
eine „strategische Ankaufspolitik“ vereinbart, um die Bestände der
kommunalen Wohnungsbaugesellschaften „perspektivisch auf 500.000 Wohnungen
zu erhöhen“.
Die Vergesellschaftung als Mittel ist dagegen für diese Koalition
ausgeschlossen. Sollte die Enteignungskommission bei ihrem
Abschlussbericht, der in wenigen Wochen vorliegen soll, zu einem positiven
Ergebnis kommen, will man zwar ein „Vergesellschaftungsrahmengesetz“
verabschieden, das einen Rechtsrahmen für Enteignungen beschreibt, dieses
soll aber erst zwei Jahre nach seiner Verkündigung inkraft treten. Mit der
konkreten Forderung des Volksentscheids wird sich die Koalition damit in
den nächsten drei Jahren nicht befassen.
In Sachen Mieterschutz ist von Schwarz-Rot nichts zu erwarten: Die
Kontrolle der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften durch die
Wohnraumversorgung Berlin wird aufgeweicht, Mietenstopp und
Kündigungsmoratorium wohl nicht verlängert. Das Ziel eines Mietenkatasters
wird an ein Bundesvorhaben gekoppelt und damit in ferne Zukunft verschoben.
Die Einrichtung einer Prüfstelle zur Einhaltung der Mietpreisbremse ist
nichts als eine Absichtserklärung.
## Sozialpolitik bleibt unkonkret
Im Bereich Soziales hat der Koalitionsvertrag viel Prosa, aber wenig
Konkretes zu bieten. So lesen sich die nicht einmal vier Seiten zum Thema
wie eine Auflistung jeder Menge guter, aber unverbindlicher Absichten: So
soll die Gleichstellung von Frauen in der Arbeitswelt gestärkt werden –
wie, wird nicht gesagt. Ebenso wenig erschließt sich, woher die ganzen
Wohnungen und Häuser kommen sollen, in denen Mehrgenerationenwohnprojekte
entstehen oder Familien aus Flüchtlingsheimen einziehen sollen.
Auch beim digitalen „Chancenpass“, den alle Berliner Kinder erhalten
sollen, ist unklar, welche Angebote dieser genau enthalten soll, „um einen
unbürokratischen Zugang zu Bildung und sozialer Teilhabe für Kinder aus
einkommensschwachen Familien sicherzustellen“. Auch der geplante „Tag gegen
Einsamkeit“ ist weniger eine politische Strategie als vielmehr kostenlose
Symbolpolitik.
Konkreter wird es da schon im Bereich Obdachlosenhilfe. Zwar wird an keiner
Stelle erwähnt, wie das Ziel erreicht werden soll, Obdachlosigkeit bis 2030
zu beenden. Dass das 2018 unter Rot-Rot-Grün eingeführte Prinzip
[3][„Housing First“], also die bedingungslose Vergabe von Wohnungen an
Wohnungslose, fortgeführt werden soll, wird angesichts der niedrigen
Unterbringungszahlen alleine nicht ausreichen.
Dafür werden jedoch durchaus einige konkrete Verbesserungen in Aussicht
gestellt: So sollen zusätzliche Obdachlosen-Treffs eingerichtet und die
Anzahl der Plätze in 24/7-Einrichtungen erhöht werden. Auch soll in
Notunterkünften ein Kontingent an Einzelfahrscheinen für den öffentlichen
Nahverkehr zur Verfügung gestellt werden. Das könnte insbesondere die hohe
Anzahl von Obdachlosen verringern, die wegen Schwarzfahrens eine
Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis absitzen. Zudem soll es mehr mobile
Hygieneangebote, mobile Sozialarbeit und zusätzliche
suchtmittelakzeptierende Angebote geben. Genaue Zielzahlen fehlen
allerdings auch hier.
Das ist auch bei der in Zeiten hoher Energiepreise immer wichtiger
werdenden Vermeidung von Energiearmut der Fall. So sollen zwar bei sozialen
Härtefällen Strom- und Gassperren verringert und möglichst ganz vermieden
werden. Wie hoch die finanzielle Unterstützung dafür aussehen soll, steht
jedoch in den Sternen.
## Strafvollzug: Mehr Haftkontrollen
Wie die meisten Kapitel im Koalitionsvertrag sind auch die Vorhaben im
Bereich Justiz in Unterpunkte aufgegliedert. Die Passage zum Strafvollzug
beginnt mit einer Absichtserklärung, die sicher viele unterschreiben
könnten: „Wir werden den Strafvollzug in Berlin sicher und modern
ausgestalten (…). Unser Ziel ist die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger
vor Kriminalität zu steigern und die Resozialisierung der Straftäterinnen
und Straftäter zu stärken.“
Aber dann kommt es: „Zum Auffinden gefährlicher und unerlaubter Gegenstände
werden wir anlassbezogene Haftkontrollen verstärken und Sanktionen von
Regelverstößen schärfen. Wir stellen uns dem Kampf gegen Drogen im
Strafvollzug.“ Aber das ist nicht alles: „Die Koalition prüft den Einsatz
von Handyblockern im Strafvollzug.“ Gemeint ist damit die Installation von
Störsendern, um zu verhindern, dass mit eingeschmuggelten Handys aus dem
Knast telefoniert werden kann.
2022 wurden in den acht Berliner Gefängnissen 930 Mobiltelefone
beschlagnahmt, 2021 waren es 1.154. „Ein Rückfall in das Programm von vor
30 Jahren“, kommentiert Olaf Heischel, Vorsitzender des Berliner
Vollzugsbeirats, am Montag das Vorhaben zur Verstärkung der Haftkontrollen.
Der Vollzugsbeirat ist ein unabhängiges Gremium, das für „Menschlichkeit,
Vernunft und Recht“ in Gefängnissen einsteht. Heischel hat sich schon vor
Jahren für die Legalisierung von Handys in den Knästen ausgesprochen. Alles
andere sei realitätsfremd.
## Bekenntnis zu Vielfalt
Der große Backlash findet in anderen Bereichen statt. CDU und SPD bekennen
sich laut Vertrag zu einer „Stadt der Vielfalt“. Bleiben und fortentwickelt
werden soll das Antidiskriminierungsgesetz – stets ein rotes Tuch für die
CDU. Neu ist die Einrichtung von Queer-Beauftragten „für die Akzeptanz
sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ auf Landes- und Bezirksebene.
Darüber hinaus hat man sich einen Runden Tisch und eine Strategie zum Thema
vorgenommen und plant eine Studie zu Transfeindlichkeit. Für Betroffene von
queer- und transfeindlicher Gewalt sollen Schutzwohnungen entstehen.
Geeinigt hat man sich auch auf den Ausbau der Frauenhäuser, von denen zwei
weitere entstehen sollen.
In den Blick genommen wird auch der Bereich der Islamfeindlichkeit. Der 15.
März, Jahrestag des Terroranschlags auf Moscheen in Christchurch, soll als
Internationaler Tag gegen Islamfeindlichkeit „öffentlich thematisiert und
gewürdigt“ werden. Für Polizei und Staatsanwaltschaft soll ein Leitfaden
hinsichtlich Islamfeindlichkeit erarbeitet, die
Landesantidiskriminierungsstelle als Anlaufstelle erweitert werden.
Geflüchtete könnten zukünftig einen Wohnberechtigungsschein erhalten,
unabhängig von der Dauer des Aufenthaltsstatus. Insgesamt bleibt bei der
Flüchtlingspolitik alles beim Alten, ob Familiennachzug,
Winterabschiebestopp, oder Bleibemöglichkeiten für Geduldete.
## Kampf dem Unterrichtsausfall
Mit einer zukünftigen schwarz-roten Landesregierung soll Berlins säkularer
Sonderweg enden. Religionsunterricht soll als Wahlpflichtfach eingeführt
werden. Im Volksentscheid „Pro Reli“ 2009 hatten sich die
Berliner*innen gegen eine solche Änderung entschieden.
Religionsunterricht, ob katholisch oder evangelisch, war damit bisher
freiwillig. Weiterhin soll zwar Ethik verpflichtendes Fach bleiben, aber
die Schüler*innen sollen von nun an ab Klasse 7 zwischen Religion und
Lebenskunde wählen. Dafür bräuchte es allerdings entsprechendes Personal.
An Lehrkräften mangelt es nämlich schon jetzt. 1.000 Polizeibeamte will
sich die Koalition leisten. Aber bei den Lehrer*innen drücken sie sich
um eine konkrete Zahl. „Wir streben eine Personalausstattung an, die
Unterrichtsausfall vermeidet“, steht im Koalitionsvertrag. Dafür sollen
Lehrkräfte vereinfacht quer einsteigen und ausländische Abschlüsse
schneller anerkannt werden. Die Koalition will außerdem Schulen in freier
Trägerschaft stärker fördern.
Vieles bleibt in der Bildung mit einer schwarz-roten Koalition aber auch
wie gehabt, gebührenfreie Bildung bleibt erhalten. Das heißt:
Kindertagesstätten und Horts sowie ÖPNV Tickets sind weiter kostenfrei
zugänglich. Grundschüler*innen steht ein warmes Essen zu. Mit dem
Kita-Chancenjahr sollen Sprachdefizite vor Schulbeginn beglichen werden.
Eine ähnliche Initiative existiert bereits. Viel größer ist das Problem,
dass dieses – eigentlich verpflichtende Angebot – nicht genutzt wird. Einen
Ansatz, wie dies in Zukunft besser angenommen werden könnte, liefert der
Koalitionsvertrag nicht.
Eine Ausbildung soll deutlich attraktiver werden. Dafür will die Koalition
bis Ende April 2025 „gemeinsam mit der Wirtschaft“ 2.000 betriebliche
Ausbildungsplätze schaffen. Gelingt dies nicht, soll eine Ausbildungsumlage
eingeführt werden, eine solidarische Querfinanzierung, die ausbildende
Unternehmen stützt. Um insbesondere den Fachkräftemangel im Handwerk zu
bekämpfen, soll die Fortbildung zum Meister kostenfrei werden. Wie auch das
Schulgeld für werdende Sozialassistent*innen.
Für die Studierenden bleibt fast alles gleich. Gegen den Wohnungsmangel
wolle man für Studierende und Auszubildende gezielt bauen.
3 Apr 2023
## LINKS
[1] /Koalitionsverhandlungen-von-CDU-und-SPD/!5925481
[2] /Koalitionsverhandlungen-in-Berlin/!5921996
[3] /Housing-first-in-Finnland/!5914243
## AUTOREN
Erik Peter
Adefunmi Olanigan
Marie Frank
Plutonia Plarre
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