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# taz.de -- Reform der Ersatzfreiheitsstrafe: Freifahrtschein aus dem Knast
> Die Initiative Freiheitsfonds kauft 75 Schwarzfahrer*innen aus dem
> Gefängnis frei und fordert die Abschaffung von Ersatzfreiheitsstrafen.
Bild: Zelle in der JVA Plötzensee: Hier werden Menschen inhaftiert, die eine G…
Berlin taz | Lautes Klappern mit Spendendosen, Applaus und vereinzelter
Jubel ist vor dem Bundestag zu hören, als die Zahl der Gefangenen, die an
diesem Tag bundesweit befreit wurden, bekannt gegeben wird: 75 Menschen,
darunter 10 Frauen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen Fahrens ohne
Fahrschein verbüßen, konnte die [1][Initiative Freiheitsfonds] am Mittwoch
mit Spendengeldern aus dem Gefängnis freikaufen.
Rund 57.000 Euro hat die Aktion laut Initiator Arne Semsrott gekostet.
Damit konnten 4.654 Tage Gefängnis, also mehr als zwölf Haftjahre, getilgt
werden. „Das ist die größte Gefangenenbefreiung der deutschen Geschichte“,
ruft Semsrott den 30 Aktivist*innen zu. Sie haben sich an diesem
„Freedom Day“ in Berlin versammelt, um für die Abschaffung der
Ersatzfreiheitsstrafe zu demonstrieren.
Insgesamt hat der Freiheitsfonds seit seiner Gründung vor anderthalb Jahren
bereits 716 Schwarzfahrer*innen aus Gefängnissen ausgelöst. „Wir hätten
noch viel mehr befreien können, es gab so viele Anträge wie noch nie“, sagt
Semsrott zur taz. Das führt der Aktivist darauf zurück, dass sich die
[2][soziale Situation für arme Menschen verschärft hat]. „Immer mehr
Menschen können sich ihre Geldstrafen nicht leisten und müssen ins
Gefängnis. Dadurch werden sie aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen,
verlieren ihre Wohnung oder ihren Therapieplatz.“
## Strafe vor Gesundheit
Einer dieser Menschen ist Hasan. Der Berliner war laut der bundesweiten
Gefangenengewerkschaft GG/BO vor Antritt seiner Ersatzfreiheitsstrafe in
einer Entgiftung und hatte sich bereits um eine anschließende
Langzeittherapie gekümmert. Die Berliner Staatsanwaltschaft habe seine Haft
jedoch nicht aufgeschoben und Hasan sei direkt aus der Entzugsklinik in die
JVA Plötzensee geschickt worden – wodurch er seinen Therapieplatz verloren
habe.
„Das ist unverhältnismäßig“, sagt GG/BO-Sprecher Manuel Matzke zur taz.
„Die Ersatzfreiheitsstrafe wurde höher gestellt als seine Gesundheit.“
Angesichts [3][der langen Wartezeiten] sei es nun extrem schwierig, einen
neuen Therapieplatz zu finden
Dabei gibt es eigentlich ein Gesetz, das Gesundheit vor Strafe stellt: Laut
[4][Paragraf 35 Betäubungsmittelgesetz] kann eine Haftstrafe bis zu zwei
Jahre ausgesetzt werden, wenn der Betroffene sich wegen seiner Abhängigkeit
in eine Therapie begibt. Doch ausgerechnet für Ersatzfreiheitsstrafen gilt
dieser Paragraf nicht. „Das ist völlig unverständlich, immerhin handelt es
sich bei Geldstrafen um Bagatelldelikte“, kritisiert Matzke die
Ungleichbehandlung von Gefangenen.
## Vor allem arme Menschen betroffen
Tatsächlich sitzen die meisten der mehr als 50.000 Menschen, die jedes Jahr
wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe inhaftiert werden, wegen Fahrens ohne
gültigen Fahrschein ein. Danach erst folgen Diebstahl und andere
Kleinkriminalität. „Diese Form des Freiheitsentzugs trifft fast
ausschließlich arme Menschen“, kritisiert Anthony Obst von der Initiative
Justice Collective, die Teil des Bündnisses zur Abschaffung der
Ersatzfreiheitsstrafe ist.
Am internationalen Tag gegen Polizeigewalt will er auch darauf aufmerksam
machen, dass vor allem stigmatisierte Menschen – Migrant*innen, Obdachlose,
Drogenabhängige – kontrolliert und eingesperrt werden.
Laut der Senatsverwaltung für Justiz in Berlin, wo bundesweit die meisten
Schwarzfahrer*innen inhaftiert sind, haben 40 Prozent der
Ersatzfreiheitsstrafler*innen keinen festen Wohnsitz. Die
Arbeitslosenquote liegt demnach zwischen 60 und 85 Prozent, viele sind
massiv verschuldet, drogensüchtig oder psychisch krank. Dass es sich bei
den Ersatzfreiheitsstrafen um eine unsoziale Praxis handelt, die arme
Menschen diskriminiert, ist zumindest in Berlin angekommen.
## Reform des Sanktionsrechts auf dem Weg
„Das Problem, dass Menschen im Gefängnis landen, die zu einer Geldstrafe
verurteilt wurden, kann nicht durch die Zivilgesellschaft gelöst werden,
sondern es braucht eine legislative Lösung“, so Justizsenatorin Lena Kreck
mit Blick auf den „Freedom Day“ zur taz. Die Linken-Politikerin würde
Ersatzfreiheitsstrafen am liebsten abschaffen, auch einige
Gefängnisleitungen [5][sprechen sich dafür aus]. Damit wäre nicht nur das
Problem der Überbelegung von Gefängnissen gelöst, es wäre auch sehr viel
günstiger. Ein Haftplatz kostet im Schnitt 200 Euro pro Tag – ein
Vielfaches der Geldstrafe, die die Betroffenen absitzen müssen.
Das Justizministerium sieht in der Ersatzfreiheitsstrafe jedoch „ein
effektives Druckmittel zur Durchsetzung der Geldstrafe“, so ein Sprecher
zur taz. Vor dem Hintergrund, dass fast 90 Prozent aller Verurteilungen auf
Geldstrafe lauten, sei dies „leider notwendig“. Die von
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vorgelegte Reform des
Sanktionsrechts sieht deshalb nur eine [6][Halbierung der Haftdauer] vor.
Am Mittwochabend wird der Vorschlag in erster Lesung im Bundestag
diskutiert.
Den Demonstrant*innen vor dem Bundestag reicht das nicht aus. Immerhin
würde dadurch keine einzige Person davor bewahrt, wegen Schwarzfahrens ins
Gefängnis zu müssen. Sie wollen weiter Druck machen, bis „diese Form der
Klassenjustiz“ abgeschafft wird.
15 Mar 2023
## LINKS
[1] https://www.freiheitsfonds.de/
[2] /Steigende-Armut-in-Berlin/!5918695
[3] /Hilfe-bei-psychischen-Erkrankungen/!5876557
[4] https://www.gesetze-im-internet.de/btmg_1981/__35.html
[5] /Ersatzfreiheitsstrafen-in-Berlin/!5857164
[6] /Demo-gegen-Ersatzfreiheitsstrafen/!5885526
## AUTOREN
Marie Frank
## TAGS
Ersatzfreiheitsstrafe
Gefängnis
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Gefängnis
Kriminalität
JVA Plötzensee
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