# taz.de -- Fahren ohne Ticket entkriminalisieren: 217 Tage Knast für „Schwa… | |
> Der Freiheitsfonds kauft erneut Gefangene frei und drängt auf eine Reform | |
> des Strafrechts noch vor der Wahl. Eine Frau war trotz Sozialticket in | |
> Haft. | |
Bild: Leonard Ihßen und Vivian Kube vom Freiheitsfonds vor der JVA Plötzensee | |
Berlin taz | Mit einem silbernen Koffer voller Geld stehen zwei Vertreter | |
vom Freiheitsfonds vor den Toren der Justizvollzugsanstalt (JVA) | |
Plötzensee. Es ist Dienstag 9 Uhr, gleich werden Leonard Ihßen und Vivian | |
Kube in der Zahlstelle des Gefängnisses 3.400 Euro aus dem Koffer holen und | |
damit sechs Gefangene freikaufen. Alle sitzen wegen Fahrens ohne Ticket in | |
öffentlichen Verkehrsmitteln ein: Herr K. zum Beispiel, habe eine | |
Ersatzfreiheitsstrafe von 217 Tagen bekommen, weil er seine Geldstrafe | |
nicht bezahlen konnte, erklärt Ihßen. „Weil wir ihn rausholen, wird er | |
seine Wohnung nicht verlieren.“ Dies passiere sonst oft bei Strafen von | |
über 6 Monaten, weil das Sozialamt die Miete nur so lange übernehme. | |
Zum elften Mal kauft der Freiheitsfonds Gefangene frei, die wegen | |
„Schwarzfahrens“ einsitzen – heute sind es bundesweit 60. Insgesamt sind | |
bisher laut der Kampagne mit gut einer Million Euro Spendengeld 1.190 | |
Menschen freigekauft worden – was dem Staat über 17 Millionen Euro Kosten | |
erspart habe. Denn Paragraf 265a des Strafgesetzbuchs, der das | |
„Erschleichen von Leistungen“ mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr | |
oder Geldstrafe sanktioniert, koste den Staat jährlich 120 Millionen Euro, | |
erklärt Kube, die Juristin der Kampagne. 9.000 Menschen sitzen laut | |
Freiheitsfonds jedes Jahr in deutschen Knästen, jeder Tag Haft koste pro | |
Person über 200 Euro. | |
Mit der [1][Freikaufaktion] an diesem Tag will die Kampagne darauf | |
aufmerksam machen, dass sich das Zeitfenster für die von der Ampel geplante | |
Änderung des Strafrechts am Mittwoch schließt. Ein fertiger | |
Gesetzesentwurf, mit dem Paragraf 265a zu einer Ordnungswidrigkeit | |
reduziert würde, liege seit Oktober vor, erklärt Kube. „Es ist | |
unverständlich, warum er noch nicht verabschiedet wurde.“ | |
An diesem Mittwoch sei die letzte Gelegenheit vor der Wahl, die Sache im | |
Rechtsausschluss zu beschließen und dem Bundestag zur Abstimmung | |
vorzulegen. Kube sagt: „Die Reformierung dieses veralteten Strafgesetzes, | |
das aus der Nazi-Zeit stammt, ist überfällig. Wenn Menschen sich keinen | |
Fahrschein leisten können, ist mit einer Gefängnisstrafe niemandem | |
geholfen.“ | |
## Grüne und FDP sind willig | |
Auf taz-Anfrage bei den Ampel-Fraktionen erklärt die Berliner Abgeordnete | |
Canan Bayram für die Grünen: „Für uns von Bündnis 90/Die Grünen steht fe… | |
niemand sollte eingeknastet werden, weil er sich eine Fahrkarte nicht | |
leisten kann.“ Sie erwarte von der FDP, den fertigen Entwurf jetzt | |
einzubringen. Aus der angesprochenen Partei erwidert die Abgeordnete Katrin | |
Helling-Plahr, ihre Fraktion habe ihn bisher nicht in den Ausschuss | |
gebracht, „da es die Aussage seitens SPD und Grüne gab, dass sie dem | |
Gesetzentwurf ohnehin nicht zustimmen wollen“. | |
Der Fall von Susanne Deuerling aus Spandau illustriert, was so eine Strafe | |
für Betroffene bedeutet. Die 55-Jährige wurde im November freigekauft. Wie | |
sie der taz erzählt, hatte sie ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“ von 60 | |
Euro bekommen, weil sie ihr Sozialticket nicht richtig ausgefüllt hatte. | |
Auf das vergünstigte Ticket für 9 Euro pro Monat hat sie als | |
Bürgergeldempfängerin Anspruch. Nur hatte sie nach eigener Aussage | |
vergessen, die „BG-Nummer“, die Nummer ihres Bürgergeld-Bescheids, auf das | |
Ticket zu schreiben. | |
Mit diesem Problem ist sie nicht allein: Seit der Abschaffung des | |
Berlin-Passes vor zwei Jahren gab es viele Unklarheiten, wie sich Menschen | |
als Berechtigte des Sozialtickets auszuweisen haben und [2][es gab deswegen | |
tausende Bußgeldbescheide]. Die BVG sagt, dass sie einen Strafbefehl, also | |
die Verurteilung zu einer Geldstrafe, nur beantragt, wenn jemand innerhalb | |
eines Jahres drei Mal beim „Schwarzfahren“ erwischt wird. Deuerling | |
beteuert allerdings, zuvor noch nie eine 60-Euro-Buße bekommen zu haben. | |
Sie ist der erste bekannte Fall, bei dem jemand wegen eines falsch | |
ausgefüllten Sozialtickets ins Gefängnis musste. | |
Dass es tatsächlich so weit kam, sei ein Schock gewesen, berichtet sie. Sie | |
habe vergessen, die dritte Rate der 60 Euro zu bezahlen, habe aber keine | |
Mahn-Briefe bekommen – vermutlich, weil ihr Postbote mal wieder Briefe | |
weggeschmissen habe. „Plötzlich stand die Polizei vor der Tür. Sie haben | |
mich vor allen Nachbarn abgeholt wie einen Verbrecher.“ | |
## „So viel geweint“ | |
Denn inzwischen war sie zu einer Geldstrafe von 750 Euro verurteilt worden, | |
ohne es zu wissen, erfuhr sie von der Polizei. 90 Tage hätte sie dafür | |
absitzen müssen, dank des Fonds war es nur eine Woche. Aber auch die war | |
„schrecklich“, erzählt die examinierte Krankenschwester, die alleine drei | |
Kinder großgezogen und so viel gearbeitet hat, dass sie jetzt zu krank ist | |
und einen neuen Job sucht. „Da waren Mörderinnen und Verbrecher, ich habe | |
so viel geweint.“ | |
28 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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