# taz.de -- Fahren ohne Fahrschein: Paragraf 265a ersatzlos streichen | |
> Eine Bus- oder Bahnfahrt ohne Ticket kann mit Haft enden. Eine | |
> Katastrophe für Betroffene, die Forscherinnen mit einem offenen Brief | |
> bekämpfen wollen. | |
Bild: Fahrkartenkontrollen in der U-Bahn in Hamburg | |
Berlin taz | Ohne Fahrschein Bus und Bahn zu fahren wird in Deutschland | |
teilweise hart bestraft – manchmal sogar mit Gefängnis. Um das zu ändern, | |
haben zwei Wissenschaftlerinnen einen offenen Brief an Bundesjustizminister | |
Marco Buschmann (FDP) verfasst. Fahren ohne Ticket sollte in Zukunft weder | |
als Straftat noch als Ordnungswidrigkeit gelten, fordern Nicole Bögelein, | |
Kriminologin an der Uni Köln, und Luise Klaus, Stadtgeografin an der | |
Goethe-Universität Frankfurt am Main, in dem Schreiben. | |
Aktuell kann das „Erschleichen von Leistungen“, in diesem Fall einer | |
Beförderungsleistung durch den Nahverkehr, als Straftat geahndet werden. | |
Die rechtliche Grundlage dafür liefert Paragraf 265 a des Strafgesetzbuches | |
(StGB). Der Straftatbestand treffe überproportional armutsbetroffene | |
Menschen und Personen in prekären Lebenslagen, sagen Bögelein und Klaus. | |
Besonders sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen hätten für die Betroffenen | |
„schwerwiegende und unverhältnismäßige Konsequenzen“, ihnen drohe zum | |
Beispiel der Verlust ihrer Wohnung. | |
Die meisten Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen Fahrens ohne | |
Fahrschein verbüßen, seien arbeitslos. Jede dritte Person sei | |
drogenabhängig, etwa jede fünfte habe keinen festen Wohnsitz. „Hinzu kommt, | |
dass die Handlungen der Betroffenen nicht von krimineller Energie, sondern | |
von faktischen Zwängen (der Zahlungsunfähigkeit) zeugen“, schreiben die | |
Wissenschaftlerinnen. | |
Wenn Verkehrsunternehmen Passagiere ohne Ticket kontrollieren, können sie | |
das „erhöhte Beförderungsentgelt“ einfordern. Das liegt [1][in den meisten | |
Orten bei rund 60 Euro]. Gegen die Fahrgäste, die das nicht zahlen, können | |
die Verkehrsbetriebe Anzeige erstatten – den Betroffenen droht dann eine | |
Geldstrafe, verhängt vom Gericht. Wer diese Geldstrafe wiederum nicht | |
zahlen kann, muss als Ersatz eine Freiheitsstrafe antreten. Menschen, die | |
ohne Ticket unterwegs waren und deshalb zu einer Ersatzfreiheitsstrafe | |
verurteilt wurden, droht bis zu einem Jahr Gefängnis. | |
## Buschmann plant Justizreform | |
Justizminister Buschmann hat eine Reform des Strafrechts angekündigt. In | |
deren Rahmen will er auch das Fahren ohne Fahrschein entkriminalisieren, | |
ein Eckpunktepapier dafür legte er schon im November 2023 vor. Darin steht, | |
dass eine Fahrt ohne gültigen Fahrausweis nicht mehr als Straftat, sondern | |
als Ordnungswidrigkeit geahndet werden soll. Auf Grundlage der Eckpunkte | |
erarbeite das Ministerium derzeit einen Referentenentwurf, teilt eine | |
Sprecherin auf Anfrage der taz mit. Der werde „zeitnah veröffentlicht“. | |
Bögelein und Klaus geht das nicht weit genug: Auch dann bestehe die Gefahr, | |
dass Menschen hinter Gittern landen. Wer das Bußgeld nicht zahlt, das bei | |
einer Ordnungswidrigkeit anfällt, riskiere eine Erzwingungshaft von bis zu | |
drei Monaten. „Unter diesen Umständen halten wir eine ersatzose Streichung | |
des § 265 a StGB für angebracht“, lautet das Fazit der Forscherinnen. Mehr | |
als 120 Wissenschaftler:innen unterstützen [2][den offenen Brief]. | |
Die Initiative Freiheitsfonds macht sich ebenfalls dafür stark, dass die | |
Strafen nicht nur reformiert, sondern gestrichen werden. Mit Spenden hat | |
der Fonds bereits 1.058 Menschen aus der Ersatzfreiheitsstrafe freigekauft. | |
Am Dienstag waren es im Rahmen einer bundesweiten Aktion, einem „Freedom | |
Day“, 63 Personen auf einen Schlag. | |
Zu den Betroffenen gehöre eine Frau, die im 7. Monat schwanger ist und | |
eigentlich noch zwei Monate Ersatzfreiheitsstrafe vor sich hatte. Paragraf | |
265 a stammt aus dem Jahr 1935, aus nationalsozialistischer Feder. Damit | |
gehöre er der Vergangenheit an, [3][heißt es auf der Website der | |
Initiative]. | |
„Auch ökonomisch ist das Gesetz kompletter Unsinn“, erklärt Arne Semsrott, | |
Mitgründer der Initiative, in einem Video. Die Strafverfolgung wegen | |
Fahrens ohne Ticket koste den Staat rund 120 Millionen Euro im Jahr. | |
Einige Städte in Deutschland sind der bundesweiten Justizreform daher schon | |
vorausgeeilt: [4][Unter anderem in Köln], Halle an der Saale oder | |
Bremerhaven werden Menschen, die ticketlos ÖPNV gefahren sind, schon nicht | |
mehr strafrechtlich verfolgt. | |
Transparenzhinweis: Dieser Artikel wurde am 6. August 2024 um 22:42 Uhr | |
aktualisiert. In einer früheren Version stand, dass das erhöhte | |
Beförderungsentgelt einer Geldstrafe entspricht. Das stimmt nicht. Wir | |
bitten, den Fehler zu entschuldigen und danken der Person, die in den | |
Kommentaren auf ihn aufmerksam gemacht hat. | |
6 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-vom-Berlin-Pass-Nachfolger/!5983124 | |
[2] https://kriminologie.uni-koeln.de/sites/kriminologie/UzK_2015/bilder/aktuel… | |
[3] https://www.freiheitsfonds.de/ | |
[4] /Fahren-ohne-Fahrschein/!5986103 | |
## AUTOREN | |
Nanja Boenisch | |
## TAGS | |
Ersatzfreiheitsstrafe | |
Marco Buschmann | |
Strafrecht | |
Öffentlicher Nahverkehr | |
Tickets | |
Social-Auswahl | |
Fahren ohne Fahrschein | |
Fahren ohne Fahrschein | |
Fahren ohne Fahrschein | |
Freiheitsstrafe | |
BVG | |
ÖPNV | |
Schwarz-rote Koalition in Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fahren ohne Fahrschein: Sie kommen aus dem Gefängnis frei | |
Die Initiative Freiheitsfonds hat rund 50 Schwarzfahrer freigekauft. Sie | |
konnten Strafen für das Schwarzfahren nicht zahlen und waren inhaftiert | |
worden. | |
Fahren ohne Fahrschein: Armut wird weiter bestraft | |
Der Freiheitsfonds kauft 60 Schwarzfahrer*innen aus bundesdeutschen | |
Gefängnissen frei. Sechs davon in Berlin. Reform des Gesetzes geplatzt. | |
Fahren ohne Ticket entkriminalisieren: 217 Tage Knast für „Schwarzfahren“ | |
Der Freiheitsfonds kauft erneut Gefangene frei und drängt auf eine Reform | |
des Strafrechts noch vor der Wahl. Eine Frau war trotz Sozialticket in | |
Haft. | |
Fahren ohne Ticket: Initiative fordert Entkriminalisierung | |
Die Initiative Freiheitsfonds kauft erneut 100 Menschen aus Gefängnissen | |
frei und fordert, das Fahren ohne Fahrschein zu entkriminalisieren. Auch um | |
Geld zu sparen. | |
Fahren ohne Fahrschein in Berlin: CDU und SPD setzen weiter auf Härte | |
In Potsdam wird Schwarzfahren nicht mehr per Strafanzeige verfolgt. Die | |
Koalition in Berlin interessiert das wenig – und verweist auf den Bund. | |
Düsseldorf stoppt ÖPNV-Unternehmen: Zwei Bahnfahrten, sechs Monate Haft | |
Gisa März war mehrere Monate in Haft, weil sie ohne Ticket fuhr. Der | |
Düsseldorfer Stadtrat hat das Fahren ohne Fahrschein daraufhin | |
entkriminalisiert. | |
Verschärfung der Ersatzfreiheitsstrafe: Gefangene müssen länger schuften | |
Der Bund hat Ersatzfreiheitsstrafen erst kürzlich halbiert. Nun reagiert | |
der Berliner Senat mit einer Verschärfung der Regeln für gemeinnützige | |
Arbeit. |