# taz.de -- Düsseldorf stoppt ÖPNV-Unternehmen: Zwei Bahnfahrten, sechs Monat… | |
> Gisa März war mehrere Monate in Haft, weil sie ohne Ticket fuhr. Der | |
> Düsseldorfer Stadtrat hat das Fahren ohne Fahrschein daraufhin | |
> entkriminalisiert. | |
Bild: Wegen „Erschleichens von Leistungen“ saß die heute 57-Jährige in … | |
Gisa März tritt ein Jahr nach ihrer [1][Entlassung aus dem Gefängnis] durch | |
die Tür des Vereins fiftyfifty in der Nähe des Hauptbahnhofs Düsseldorf. | |
Die weißblonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Auf der | |
Empfangstheke stehen Tassen, Kaffeekannen und Milch bereit. März will aber | |
keinen Kaffee, sondern fragt nach ein paar Ausgaben des | |
[2][Straßenmagazins], das der Verein herausgibt. Eine Mitarbeiterin | |
vermerkt die Anzahl der ausgehändigten Zeitschriften in einer Liste. Das | |
Heft kostet 2,80 Euro, verkauft Gisa März ein Exemplar, kann sie die Hälfte | |
des Geldes behalten, die andere Hälfte gibt sie an den Verein ab – | |
fifty-fifty eben. | |
Von November 2022 bis März 2023 saß die heute 57-Jährige wegen | |
[3][„Erschleichens von Leistungen“] in der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf | |
ein – das heißt wegen Fahrens ohne Fahrschein. Sie hatte sogar noch Glück: | |
Das Strafgesetzbuch lässt dafür eine Strafe von bis zu einem Jahr zu. Der | |
Paragraf 265a wurde 1935 von den Nazis eingeführt. Bis heute ist er nicht | |
abgeschafft. Das Justizministerium hat zuletzt lediglich den Zeitraum | |
halbiert. | |
Fast 90.000 Menschen bundesweit werden jährlich angezeigt, weil sie ohne | |
gültiges Ticket angetroffen wurden. Im Knast landen vor allem die, die sich | |
keinen Fahrschein leisten können. Das betrifft nach Schätzungen der taz | |
fast 2.000 Menschen pro Jahr– etwa 800 sitzen so wie Gisa März eine | |
Freiheitsstrafe ab. Etwa 1.100 eine Ersatzfreiheitsstrafe – weil sie das | |
sogenannte erhöhte Beförderungsentgelt nicht zahlen können. Den Staat | |
kostet das pro Tag und Person 100 bis 200 Euro – insgesamt also mehr als | |
eine Viertelmillion Euro. | |
## Auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen | |
Gisa März verkauft das Obdachlosenmagazin von fiftyfifty fast seit seinen | |
Anfängen 1995. Damals sei ihre Mutter gestorben, erzählt sie. Sie musste | |
aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen, bekam keine neue, lebte auf der | |
Straße, nahm Drogen. Das Verkaufen des Magazins ersparte ihr das Betteln | |
und das Stehlen. Der Verein gab ihr Halt, sagt sie, sie fühlte sich | |
aufgehoben. Sie nahm einen Ein-Euro-Job an, kam in ein | |
Drogensubstitutionsprogramm. Der Arzt, von dem sie jeden Tag ihr Polamidon | |
bekam, hat seine Praxis in Düsseldorf-Benrath. Von ihrer Wohnung im | |
ehemaligen Arbeiterbezirk Düsseldorf-Oberbilk fährt sie dahin drei | |
Stationen mit der S-Bahn. | |
„Normalerweise hatte ich immer ein Ticket“, sagt Gisa März an diesem | |
Frühjahrsvormittag im Aufenthaltsraum von fiftyfifty. Klein und schmal ist | |
sie, sitzt gebückt auf dem Stuhl und hält den Kopf schief. In der Hand hält | |
sie eine Brötchentüte; sie hat noch nicht gefrühstückt. | |
Über das Jobcenter erhält Gisa März vergünstigte Fahrscheine. Auch 2019 war | |
das so. Doch die Post vom Jobcenter kam nicht rechtzeitig. Das komme | |
häufiger vor, sagt Gisa März. „Ich habe mir dann immer Fahrkarten gekauft �… | |
aber in dem Monat war dann irgendwann das Geld weg. Und was soll man | |
machen, wenn man gezwungen ist, zum Arzt zu fahren?“ Ausnahmsweise sei sie | |
also ohne Fahrkarte in die S-Bahn gestiegen. Und prompt kontrolliert | |
worden. Eine Woche später das Gleiche noch einmal: Eingestiegen ohne | |
Ticket, Kontrolle, erwischt. | |
Ohne Bahnfahren gehe es in Düsseldorf nicht, sagt Gisa März. „Ab und zu die | |
Enkelkinder treffen – die fragen ja nach mir.“ Sie kenne auch einige | |
Obdachlose, die am Bahnhof leben. „Und wenn man dann zur Armenküche in der | |
Altstadt will, weil das Essen da nur 50 Cent kostet, muss man auch die Bahn | |
nehmen, wenn man nicht gut zu Fuß ist.“ | |
Welche Konsequenzen die zwei Kontrollen für Gisa März haben sollten, wusste | |
sie zunächst nicht. Mit fiftyfifty fährt sie damals in die Schweiz zu einem | |
Stadtführertreffen. Denn seit einer Weile gibt sie Führungen über das Leben | |
auf der Straße. Sie geht weiter zum Arzt, nimmt einen Hund in Obhut, denn | |
so ist sie. März kümmert sich um alle – kümmert sich um die Tochter ihrer | |
Schwester wie um ihre eigene, umsorgt ihren Ex-Mann, als der Unterstützung | |
braucht. Und nun auch noch ein Hund. | |
## Die Rheinbahn ist heiß auf Anzeigen | |
Während Gisa März ihr Leben weiterlebt, ist die Rheinbahn, das lokale | |
städtische Verkehrsunternehmen, nicht untätig: Sie erstattet Anzeige. Ein | |
Jahr später fällt ein Gericht das Urteil. Sechs Monate Freiheitsstrafe. Es | |
ist nicht das erste Mal, dass März ins Gefängnis muss, und auch nicht das | |
erste Mal wegen Fahrens ohne Fahrschein. Aber das letzte Mal ist viele | |
Jahre her – seitdem hatte sie immer einen Fahrschein und ist polizeilich | |
nicht aufgefallen. | |
Ein halbes Jahr Gefängnis. Das ist viel. Wenn man einen Hund hat, der | |
versorgt werden muss. Enkel hat, die wissen wollen, was mit der Oma los | |
ist. Täglich zum Arzt muss und Miete zu zahlen hat. März fliegt aus dem | |
Drogensubstitutionsprogramm und aus ihrer Wohnung. „Weihnachten, Neujahr | |
und Karneval im Gefängnis – das ist schon nicht so schön“, sag sie. | |
Der Verein fiftyfifty organisiert Proteste, wendet sich in einem offenen | |
Brief an den Justizminister von Nordrhein-Westfalen, Prominente und | |
Professoren unterschreiben, darunter Breiti von den Toten Hosen und der | |
Satiriker und EU-Parlamentarier Martin Sonneborn. Der Justizminister | |
antwortet, die Politik dürfe nicht in die Justiz eingreifen. März bleibt in | |
Haft. | |
Auch der Stadtrat wird auf das Thema aufmerksam. Im November 2022 fordert | |
der den Aufsichtsrat der Rheinbahn AG auf, keine Anzeigen mehr wegen | |
„Beförderungserschleichung“ zu stellen. Doch das Unternehmen setzt das | |
nicht um. Im Juni 2023, Gisa März ist inzwischen aus der Haft entlassen, | |
präzisieren die Linken, Grünen, die SPD, FDP und die PARTEI-Klima-Fraktion | |
im Stadtrat ihre Forderung und weisen die Rheinbahn gegen die Stimmen von | |
CDU und AfD an, künftig auf Strafanzeigen zu verzichten. Dieses Mal muss | |
das Verkehrsunternehmen sich daran halten. | |
## Andere Städte folgen dem Düsseldorfer Weg | |
Überzeugt ist es davon nicht. Eine Sprecherin sagt auf taz-Anfrage: „Der | |
Rheinbahn entgehen im Jahr geschätzte 4 Millionen Euro an Einnahmen durch | |
Fahrgäste ohne gültiges Ticket. Diese Kosten müssen von der Gemeinschaft | |
über Steuergelder ausgeglichen werden.“ Anzeigen sollen abschreckend | |
wirken. | |
Ähnlich sieht es der Verband der Verkehrsunternehmen. Der wehrt sich gegen | |
Vorhaben des Bundesjustizministeriums, die Beförderungserschleichung von | |
einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit umzuwidmen. „Die Idee, | |
Schwarzfahren nicht mehr zu bestrafen, zeugt nicht von Respekt für unsere | |
Leistung und die Arbeit unserer Beschäftigten“, sagt VDV-Präsident Ingo | |
Wortmann auf taz-Anfrage. Die Einnahmeausfälle durch Schwarzfahren | |
summierten sich bundesweit auf 750 Millionen bis rund eine Milliarde Euro. | |
„Das ist kein Pappenstiel – diese enorme Summe fehlt dem ÖPNV in ohnehin | |
prekären Zeiten für Personal, Fahrzeuge, Infrastruktur und Sicherheit.“ | |
Doch man kann es auch anders sehen. Viele Jurist*innen, teils auch | |
Gefängnisleiter, fordern seit Langem, Fahren ohne Fahrschein zu | |
entkriminalisieren. Nach Düsseldorf fällte die hessische Landeshauptstadt | |
Wiesbaden im November 2023 die Entscheidung, Fahren ohne Fahrschein zu | |
entkriminalisieren. Münster folgte im Dezember. Im März entschied Köln, auf | |
Strafanzeigen zu verzichten. Anfang April zog Halle nach. | |
Norbert Czerwinski, Sprecher der Grünen-Ratsfraktion in Düsseldorf und | |
zuständig für das Thema Verkehr, sagt der taz: „Fürs Schwarzfahren in den | |
Knast zu kommen, ist völlig unverhältnismäßig.“ Czerwinski vergleicht das | |
mit anderen Vergehen: „Wenn ich ein Auto miete und die Mietkosten nicht | |
zahle, dann kann die Autovermietung das Geld einfordern und mich dafür | |
schließlich vor Gericht bringen – aber ich komme dafür nicht ins | |
Gefängnis.“ So müsse das gehandhabt werden, wenn jemand ein Ticket nicht | |
zahle. „Die Rheinbahn hat ja nichts davon, wenn jemand im Knast sitzt.“ | |
Das Verkehrsunternehmen kann bisher keine Auswirkungen der Neuregelung | |
feststellen. „Die Beanstandungen liegen auf einem konstanten Niveau“, teilt | |
eine Sprecherin der taz mit. Allerdings seien nach Ende der Coronapandemie | |
auch mehr Kontrolleure eingestellt worden. | |
Gisa März läuft leicht gebückt und humpelt. Vor ein paar Wochen ist sie | |
gestürzt, hat sich den Fuß verletzt. Laufen kann sie schon, aber nur | |
langsam und unter Schmerzen. Vom Verein sind es knapp zehn Minuten zu Fuß | |
zur U-Bahn, auf die sie angewiesen ist. Aber über die Kosten für die | |
täglichen Bahnfahrten muss sie sich keine Sorgen mehr machen. Mittlerweile | |
hat sie ein 49-Euro-Ticket. „Das Ticket hat mir eine nette Dame gespendet“, | |
sagt sie. | |
März muss zur Bewährungshilfe – alle zwei Wochen. Das Büro liegt in einem | |
schlichten Stadthaus in Düsseldorf-Golzheim. Dort muss sie das Ergebnis | |
eines tagesaktuellen Drogentests abgeben. Das heutige ist positiv: Der | |
Stress mit dem Fuß, sie brauchte etwas. „Aber Heroin nehme ich nicht mehr“, | |
sagt sie. Im Gefängnis hat sie einen kalten Entzug gemacht, die täglichen | |
Fahrten zum Arzt gehören der Vergangenheit an. | |
9 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Johanna Treblin | |
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Nun soll auch in Bremen niemand mehr deswegen ins Gefängnis. |