# taz.de -- Städtetourismus in Spanien: Das Geschäft hinter der Kultur | |
> Notorisch überfüllte Straßen und steigende Mieten. Der Städtetourismus | |
> braucht zur Kulisse Museen und Kulturevents, zerstört dabei das urbane | |
> Leben. | |
Bild: Beim Las Fallas Festival in Valencia brennen Puppen aus Pappmaché | |
Die meisten spanischen Bürgermeister haben eines im Sinn: Sie wollen mit | |
ihrer Stadt auf die Landkarte der internationalen Reiseziele. Und sie | |
lassen kaum etwas unversucht, um dies zu erreichen. Egal ob der Bau von | |
Gebäuden und Museen durch Stararchitekten, die Ausrichtung sportlicher | |
Superevents und großer Musikfestivals – sie dienen vor allem dazu, eine | |
Stadt bekannter zu machen, neue Besucher anzuziehen. | |
„Kultur dient als Motor für den Tourismus, dafür, den lokalen Einzelhandel | |
sowie das Hotel- und Gaststättengewerbe anzukurbeln“, sagt Luis Alfonso | |
Escudero. Er ist Professor für Humangeografie an der Universität im | |
zentralspanischen Toledo. „Die Stadt wird zur Marke für Events und | |
Freizeit“, sagt er. | |
Bilbao war mit dem Guggenheim-Museum von Architekt Frank Gehry Ende des | |
vergangenen Jahrhunderts Pionier. Málaga bekam ein Picasso-Museum und eine | |
Filiale des Centre Pompidou. Valencia baute eine ganze „Stadt der | |
Wissenschaften und Künste“, andere Provinzhauptstädte Museen für | |
zeitgenössische Kunst. | |
## Primavera Sound und Sonar Festival | |
Barcelona zählt mit den Musikfestivals Primavera Sound und Sonar in nur | |
wenigen Tagen Hunderttausende Besucher. Madrid zieht mit dem Rock- und | |
Popfestival Mad Cool, einem Reggaetonfestival sowie einer weiteren | |
musikalischen Großveranstaltung benannt nach einer koffeinhaltigen Brause | |
gleich. | |
Auch in kleineren Städten gibt es Festivals, mit Acts von der Größenordnung | |
wie etwa Rock am Ring. Durch den Konkurrenzkampf liegen die Gagen in | |
astronomischen Höhen. Die internationalen Manager schicken da gerne ihre | |
Acts vorbei. | |
Keine noch so absurde Idee wird ausgelassen. So rühmte sich die galizische | |
Hafenstadt Vigo der größten Weihnachtsbeleuchtung des Landes. Diese zog im | |
Dezember mehr Menschen an als die Kathedrale im benachbarten Santiago de | |
Compostela, der Endstation des [1][Jakobswegs]. | |
## Tourismus muss wachsen | |
„Selbst alt eingesessene Museen wie der Prado in Madrid haben heute nicht | |
mehr das Ziel, den Bürgern Kunst und Kultur nahezubringen. Es geht um | |
Besucherrekorde, koste es, was es wolle“, sagt Escudero. Der Tourismus | |
müsse immerzu wachsen. Stillstand, selbst ein leichter Rückgang, sei | |
gleichbedeutend mit Krise. | |
Negativbeispiel ist für ihn in dieser Hinsicht das südspanische Sevilla. | |
Trotz bereits übermäßigen Tourismus versuche die dortige Stadtverwaltung | |
weiterhin Veranstaltungen aller Art anzuziehen. So die Gala des spanischen | |
Kinopreises Goya, das Pokalendspiel oder die Latin Grammys, die erstmals | |
außerhalb der USA verliehen werden. | |
„Bestimmte Gebiete der Städte werden so einfach dem Tourismus geopfert“, | |
sagt Escudero. Er hat die [2][Auswirkungen des Kulturtourismus auf die | |
Gentrifizierung] und den Wettbewerb zwischen den Stadtmarken untersucht. | |
Demnach steigen die Mieten an den betroffenen Orten unaufhörlich. | |
Es gibt immer mehr Geschäfte, die nicht für die Bewohner da sind, während | |
klassische Läden schließen. Die Preise in der Gastronomie steigen, Straßen | |
und Plätze sind ständig überfüllt. Die geschaffenen Arbeitsplätze sind | |
meist prekär und auf die Hauptsaison beschränkt. | |
## 917 Festivals pro Jahr vor der Pandemie | |
„Spanien ist seit Anfang der 1970er Jahre völlig vom Tourismus besessen“, | |
sagt auch Nando Cruz. Er ist Autor eines Buches über den Boom der | |
Großmusikfestivals in Spanien. „Genauso wie alle Städte ein Guggenheim | |
wollten, wollen sie jetzt ein Festival“, sagt Cruz. Das erste Großfestival | |
fand 1995 in Benicàssim an der Mittelmeerküste statt. 2019, im letzten Jahr | |
vor der Pandemie, zählte das Kulturministerium 917 Festivals. Viele davon | |
ziehen Zehntausende, manche gar Hunderttausende Besucher an. | |
Spanien ist damit das Land für musikalische Großfestivals in Europa | |
schlechthin. An acht der zehn ganz Großen sind internationale Veranstalter | |
und Investmentfonds beteiligt. „Diese Festivals haben auf der alljährlichen | |
Tourismusmesse in Madrid ihre eigenen Stände. Manche stellen sogar ihr | |
Programm auf der Messe vor“, sagt Cruz. Großfestivals seien „ganz klar Teil | |
der Tourismusindustrie und nicht der Musikindustrie“. | |
„Während Anträge auf Zuschüsse von ein paar Tausend Euro für kulturelle | |
Stadtteilaktivitäten oft abgelehnt werden, bekommen die Veranstalter der | |
Großfestivals riesige Summen,“ sagt Cruz. In Madrid erhält Mad Cool diesen | |
Sommer über zwei Millionen Euro „öffentliches Sponsoring“ von Rathaus und | |
Regionalregierung. | |
Die Veranstalter werden im Gegenzug auf Plakaten, Flyern und Transparenten | |
Logos von Stadt und Region drucken. In Andalusien erhielt ein Ableger von | |
Mad Cool gar 4,5 Millionen Euro aus dem EU-Fonds für regionale | |
wirtschaftliche Entwicklung, wie Zeitung Periódico de España recherchierte. | |
## Nur eine Kneipe mit Livemusik | |
„Und nein, es entsteht keine örtliche Kulturszene dank Festivals“, | |
widerspricht Cruz einem Argument, das oft angeführt wird. Im Gegenteil: In | |
Benicàssim zum Beispiel gibt es heute nach knapp 30 Jahren Festival nur | |
noch eine Kneipe für Live-Musik, sagt er. Und die darf – so die Auflage der | |
Stadtverwaltung – aus Lärmschutzgründen nur sechs Konzerte im Jahr | |
abhalten. | |
„Uns erwartet ein Sommer im Ausnahmezustand“, befürchtet auch Marina | |
Dorado. Sie gehört zur Anwohnerinitiative „Stop Mad Cool“ in Villaverde und | |
Getafe, einem Stadtteil im Süden Madrids und einem benachbarten Vorort. | |
„Überfüllte Busse, Staus, Besucherströme und der Lärm, du wirst aus deinem | |
eigenen Stadtteil vertrieben,“ kritisiert sie. Keine 300 Meter von den | |
Wohnblocks entfernt wird hier ein 20 Hektar großes Gelände für die | |
Festivalsaison im Juli und August planiert. | |
„Einen Mobilitätsplan für die Veranstaltungstage gibt es nicht“, sagt | |
Dorado. Buslinien gibt es kaum. Und der Nahverkehrszug ist nicht für | |
zehntausende Besucher ausgelegt. Als „Mad Cool“ noch im Westen der Stadt | |
war, durften noch nicht einmal die Taxen das Gelände anfahren. Das | |
Unternehmen Uber war einer der Sponsoren, sicherte sich das | |
Transport-Monopol und hätte dank dessen überteuerte Tarife verlangen | |
können. „Alles, was stört und unangenehm ist, kommt in den armen Teil der | |
Stadt“, schimpft Dorado. | |
## Die großen Hotels profitieren | |
Solche Vorwürfe hört man auch aus Barcelona rund um das dortige | |
Festivalgelände Parc del Fòrum. Dort profitieren vor allem die großen | |
Hotels von dem Event-Boom. Die kleineren Kneipen und Geschäfte im | |
angrenzenden El Besòs i el Maresme, einem der ärmsten Viertel der | |
katalanischen Hauptstadt, haben kaum zusätzliche Umsätze. Die | |
Festival-Veranstalter tun alles dafür, damit sich ihre Besucher auf dem | |
Gelände versorgen. | |
„Wir sollten nicht alle Städte über einen Kamm scheren“, mahnt Boris | |
Strzelczyk. Der Spezialist für Städtebau aus Valencia unterscheidet | |
zwischen Städten mit oder ohne nachhaltige Strategie. „Hinter dem | |
Guggenheim-Museum in Bilbao steckte zum Beispiel eine Strategie, um eine | |
niedergehende Industriestadt zu modernisieren,“ sagt er. | |
## Bilbao ist anders | |
Die Gewinne aus dem Umbau verlassener Industrieflächen zu Stadtteilen und | |
Kultureinrichtungen wurden hier nicht von der Privatwirtschaft, sondern zum | |
Großteil von Stadt und Region abgeschöpft und in die Neugestaltung Bilbaos | |
investiert. Das sei nicht so einfach zu kopieren. „Zu sagen, wir bauen auch | |
ein Museum mit einem Stararchitekten, funktioniert halt nicht“, sagt | |
Strzelczyk, der in seiner Heimatstadt in einer Bürgerinitiative aktiv war, | |
die mit Erfolg das historische Fischerviertel Cabañal in Valencia vor der | |
Neubauwut schützte. | |
„Die Anwerbung von Großevents allein schafft keine lokale Identität“, mei… | |
der Architekt. Valencia etwa sei ohne Strategie vorgegangen. Man wollte | |
alles sein: die Stadt der Künste und Wissenschaften, die der tollen | |
Segelregatta, des Papst-Besuches, des MTV Festivals, der Formel 1. Große | |
Neubauviertel entstanden, die großen Baufirmen profitierten, Spekulation | |
und Korruption rund um die konservativen Partido Popular (PP) expandierten. | |
„Da ist vieles falsch umgeleitet worden“, sagt Strzelczyk. | |
Dass es auch anders geht, zeigten jedoch die letzten acht Jahre in | |
Valencia. „Die linksalternative Stadtverwaltung verzichtete auf | |
Großprojekte und gestaltete die Stadt im Kleinen um“, so Strzelczyk. Trotz | |
Protesten der PP wurde Valencia fahrrad- und fußgängerfreundlicher, Parks | |
und Plätze wurden saniert. Es entstand eine gemütliche, lebenswertere | |
Stadt. Gut für die Einwohner und gleichzeitig für Besucher, meint | |
Strzelczyk. | |
Ende Mai gewannen PP und rechtsextreme [3][VOX] allerdings die Wahlen. Sie | |
legten sofort ein Kulturprogramm vor, inklusive Plänen für ein neues Museum | |
im Zusammenhang mit dem alljährlichen Stadtfest Las Fallas mit den riesigen | |
Pappmasché-Figuren, die während eines großen Feuerwerks verbrannt werden. | |
Das Museum solle den Besuchern der Stadt ermöglichen, „an 365 Tagen im Jahr | |
den Klang, den Geruch, das Zittern, all das, was man beim Feuerwerk fühlt“, | |
erleben zu lassen. | |
Anm.d.R. Ursprünglich hieß es im Text, dass das Guggenheim-Museum vom | |
Architekten Norman Foster gebaut wurde. Wir haben den Fehler korrigiert. | |
15 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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