| # taz.de -- Estlands Außenminister über Nato-Gipfel: „Es gibt keine Grauzon… | |
| > Die Nato ebnet den Weg für die Mitgliedschaft der Ukraine. Ein Gespräch | |
| > mit Estlands Außenminister Margus Tsahkna über Verantwortung und | |
| > Entbehrungen. | |
| Bild: Ukraines Präsident Wolodimir Selenski am Mittwoch beim Nato-Treffen im l… | |
| wochentaz: Herr Tsahkna, die Nato hat sich entschieden: Die Zukunft der | |
| Ukraine ist in der Nato. Aber nicht jetzt. Eine richtige Entscheidung? | |
| Margus Tsahkna: Wir haben sehr hart an dieser Lösung gearbeitet und den Weg | |
| für die Ukraine zur Nato-Mitgliedschaft geebnet – ein historischer Schritt. | |
| So gibt es nun zum Beispiel keinen sogenannten Membership Action Plan mehr. | |
| Wir wissen aber aus der Geschichte: Der nächste Schritt muss nun sein, dass | |
| die Nato die Ukraine als volles Mitglied akzeptiert. | |
| Der ukrainische Präsident Selenski [1][wollte einen Zeitplan, die Nato | |
| verzichtete darauf.] | |
| Es gibt kein fixes Datum. Warum? Um Putin daran zu hindern, Spielchen zu | |
| spielen. Wir entscheiden gemeinsam mit den Ukrainern, wann die Zeit für die | |
| Mitgliedschaft gekommen ist. Gemeinsame Entscheidungen gelten übrigens auch | |
| für alle anderen Vereinbarungen zur Unterstützung der Ukraine. Das betrifft | |
| insbesondere echte militärische Hilfen. | |
| Mit dem Nato-Ukraine-Rat hat das Militärbündnis ein neues Gremium | |
| geschaffen. Eine Formalie oder auch ein historischer Schritt? | |
| Der Rat ist ein sehr wichtiges Gremium – auch für mich persönlich. Wir | |
| beraten und arbeiten gemeinsam mit der Ukraine. Die Konstituierung des | |
| Rates auf dem Gipfel ist ein essenzieller Schritt, um den Beitritt der | |
| Ukraine vorzubereiten. Die Außenminister werden aktiv einbezogen und es | |
| wird nicht nur einen jährlichen Bericht geben, sondern kontinuierlich | |
| beraten. | |
| Selenski hat vor dem Gipfel die Nato kritisiert. Verständlich? | |
| Ich verstehe den Frust. In der Ukraine herrscht Krieg. Sie verliert ihre | |
| besten Söhne, Frauen werden täglich vergewaltigt, Kinder deportiert. Aber | |
| wir müssen auch sehen, dass wir – die Nato – hier einen realistischen | |
| Prozess anstoßen. Es handelt sich nicht um einen Film, den wir in unseren | |
| sicheren Häusern anschauen und am Ende gibt es ein „Happy End“. Die Nato | |
| und alle Staaten, wir müssen bereit sein, auch unsere Söhne in Zukunft in | |
| den Krieg für die Ukraine zu schicken. | |
| In der Ukraine wird gekämpft, [2][die Nato-Diplomaten ringen um jedes Komma | |
| bei Vereinbarungen.] Passen diese zwei Welten zusammen? | |
| Ich mag mir nicht vorstellen, wie es ist, Präsident eines Landes im Krieg | |
| zu sein, gleichzeitig entwerfen andere deine Zukunft, und du bist nicht | |
| dabei. Der Ärger Selenskis darüber ist also absolut verständlich. Noch vor | |
| drei Monaten wurde die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zur Diskussion | |
| gestellt. Das ist nicht mehr der Fall. Wir arbeiten sehr schnell. Nicht | |
| schnell genug für die Ukraine, aber jetzt sind wir Partner. | |
| Als Außenminister Estlands ist die Bedrohung durch Russland für Sie nichts | |
| Neues. Sehen Sie sich verstärkt in der Verantwortung, Tempo für die Ukraine | |
| zu machen? | |
| Wir wissen, dass aus dem Osten nichts Gutes kommt – und wir müssen Russland | |
| zurückdrängen. Ich bin sehr glücklich darüber, dass die EU militärische | |
| Hilfen für die Ukraine leistet. Eineinhalb Jahre zuvor ging es vor allem um | |
| landwirtschaftliche Hilfen, das hat sich sehr verändert. Jetzt stehen wir | |
| mitten in einem historischen Prozess, der Zeit brauchen wird. Es wird auch | |
| viel Blut vergossen, aber am Ende wird die Welt besser. | |
| Moskau sieht die Nato-Entscheidungen als Bedrohung. Ihr Amtskollege, der | |
| litauische Außenminister, fordert eine permanente Stationierung von Truppen | |
| an der russischen Grenze. Teilen Sie diese Forderung? | |
| Zunächst einmal muss Putin verstehen, dass es für ihn keine Hoffnung gibt, | |
| den Krieg zu gewinnen. Es gibt keine Grauzonen mehr, keine neutralen | |
| Gebiete in den Nachbarstaaten. Zweitens konzentrieren wir uns auf die | |
| militärische Unterstützung für die Ukraine. Die G7 haben beim Gipfel eine | |
| starke Erklärung unterzeichnet, die die Sicherheit der Ukraine auch für die | |
| Zukunft garantieren soll. Natürlich wollen wir ein demokratisches und | |
| friedliches Russland. Derzeit kann ich das aber nicht sehen. Die Realität | |
| ist, dass wir uns in Europa einem groß angelegten Angriff stellen müssen. | |
| Litauen, Lettland und Estland haben beim Gipfel eine Vereinbarung mit der | |
| Nato getroffen, die den Verbündeten uneingeschränkten Zugang zu ihrem | |
| gemeinsamen Luftraum ermöglicht. Was bedeutet das? | |
| Wir schützen uns und sind in der Lage uns zu verteidigen, wenn wir | |
| angegriffen werden. Beim letzten Gipfel in Madrid haben wir bereits die | |
| Voraussetzungen dafür geschaffen. Wir kooperieren dabei sehr stark mit | |
| Polen und Finnland, und sobald Schweden offiziell Nato-Mitglied ist, auch | |
| mit Stockholm. [3][Die Zusage, dass Deutschland rund 4.000 Soldaten | |
| dauerhaft in Litauen stationiert], ist ebenfalls eine große Sache. Unsere | |
| Region ist nun besser geschützt als je zuvor. | |
| Die Ukraine fordert immer mehr Kriegsgerät, [4][jetzt auch international | |
| geächtete Streumunition.] Haben Sie eine rote Linie? | |
| Wir müssen den Ukrainern geben, was sie fordern, da sie genau wissen, was | |
| sie brauchen. Ich verstehe die internationale Kritik an der US-Zusage, | |
| Streumunition zu liefern. Aber wir hatten auch Diskussionen über die | |
| Lieferung von Panzern oder Kampfjets und Munition. Die Ukraine ist im Krieg | |
| und kämpft auch für uns. Russland nutzt jegliche Art von Waffen und | |
| Techniken. | |
| Also schließen Sie den Einsatz von Nuklearwaffen nicht aus? | |
| Es handelt sich dabei zuerst um eine politische Frage, wenn Russland | |
| Nuklearwaffen nach Belarus verlegt. Auch der Westen hat Nuklearwaffen – | |
| aber das ist natürlich nicht der Weg, den wir gehen wollen. | |
| In Deutschland gibt es eine heftige Debatte über die Lieferung von Waffen | |
| und die deutsche Unterstützung für die Ukraine. Politiker:innen werden | |
| als Kriegstreiber bezeichnet. Haben Sie Verständnis für solche | |
| Diskussionen? | |
| Natürlich, allein aus der deutschen Geschichte heraus. Deutschland hat | |
| bisher sehr viel Unterstützung geleistet und sehr viel an militärischem | |
| Gerät geliefert, mit Panzern oder Munition. Das ist eine große Veränderung | |
| – und natürlich gab es in der deutschen Gesellschaft viel Kritik. Höhere | |
| Erwartungen an die Bundesregierung habe ich nicht. Denn ich weiß, wenn | |
| Deutschland eine Entscheidung trifft, dann hält sich die Regierung daran. | |
| Sie setzen sich sehr stark dafür ein, Putin und sein Regime vor einem | |
| [5][internationalen Sondertribunal] für Kriegsverbrechen zur Verantwortung | |
| zu ziehen. Kommen Sie voran? | |
| Niemand soll sich hinter Immunität verstecken können und damit nicht für | |
| Verbrechen der Aggression belangt werden. Das gilt für Putin wie für alle | |
| Staats- und Regierungschefs. Ein solches Verfahren ist kompliziert. Es gibt | |
| sehr viele Fragen und die Schatten der Vergangenheit lasten auf einigen | |
| Staaten schwer. Aber es gibt immer auch einen juristischen Weg, wenn der | |
| politische Wille da ist. Wir arbeiten eng mit Polen zusammen und natürlich | |
| Litauen und Lettland, aber auch mit afrikanischen Staaten und Ländern in | |
| Lateinamerika. Es gibt eine starke Koalition von 30 bis 40 Staaten. | |
| Vermutlich wäre es das Beste, wenn die UN-Vollversammlung eine | |
| Führungsrolle einnimmt. Aber soweit sind wir noch nicht. Und wir müssen eng | |
| mit den Ukrainern zusammenarbeiten, da sie natürlich am meisten unter | |
| diesen Verbrechen leiden. | |
| Aufrüstung und Verteidigung sind teuer. Die Nato-Staaten haben sich darauf | |
| verständigt, mindestens 2 Prozent der Wirtschaftsleistung zu investieren. | |
| Wie bewerkstelligen Sie die Mehrausgaben in Estland? | |
| Wir müssen den Krieg beenden. Und zwar wirklich beenden, wie nach dem | |
| Zweiten Weltkrieg. Estland investiert rund 3,2 Prozent des | |
| Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung. Gerade haben wir unsere Steuern | |
| erhöht, um mehr Einnahmen zu haben. Ich habe vier Kinder und würde lieber | |
| dieses Geld meinen Kindern geben oder in Bildung und Innovationen stecken. | |
| Aber ohne Fähigkeiten, uns zu verteidigen – vor allem aufgrund der | |
| russischen Aggression – haben wir keine Zukunft. | |
| Sie haben nicht nur den Verteidigungsetat aufgestockt, sondern Estland hat | |
| auch harte Sanktionen verhängt. Zum Beispiel dürfen russische Studierende | |
| sich nicht mehr an estnischen Universitäten einschreiben … | |
| … wir haben Ausnahmen gemacht. | |
| Welche? | |
| Für Studierende, die in Estland lebten, bevor der Krieg begann. Und auch | |
| für Ärzte und Krankenschwestern. Sie haben schon seit längerer Zeit bei uns | |
| studiert oder gearbeitet. | |
| Aber die estnischen Sanktionen sind nach wie vor sehr hart, neue | |
| Studierende oder Fachkräfte aus Russland bekommen kein Visum mehr. | |
| Wir müssen Russland daran hindern, die Kriegsmaschinerie am Laufen zu | |
| halten, und wir müssen auch an die Oligarchen ran. Wir alle müssen mit | |
| Steuern und Einschränkungen den Preis für den russischen Angriffskrieg | |
| zahlen. Aber die Ukrainer sterben dafür. | |
| Estland hat 50.000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen – im Vergleich | |
| zur Landesgröße ist das enorm. Hält die Solidarität in einem Land mit rund | |
| 1,3 Millionen Einwohner:innen? | |
| Sie sind Teil unserer Gesellschaft und haben sofort die gleichen Rechte wie | |
| estnische Staatsbürger. Sie können arbeiten, studieren oder zur Schule | |
| gehen und profitieren von unserem Sozialsystem. Und wir bieten sofort | |
| Sprachkurse an, um praktische Probleme aus dem Weg zu räumen. Die | |
| Solidarität ist groß, denn unsere Familien erinnern sich sehr gut an die | |
| sowjetische Besatzung und wie wir im Zweiten Weltkrieg rund ein Viertel | |
| unserer Bevölkerung verloren haben. Das ist das wenigste, was wir für die | |
| Ukrainer tun können, denn sie kämpfen auch für uns. | |
| 15 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gemma Teres Arilla | |
| Tanja Tricarico | |
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