| # taz.de -- CDU-Parteitag in Berlin: Sinnsuche und Populismus | |
| > Parteichef Merz kommt am Wochenende mit einer Definition um die Ecke. | |
| > Doch ein anderer CDUler sorgt mit seiner Einlassung für noch mehr Wirbel. | |
| Bild: Die wollen nur spielen: Merz (l.), Linnemann (r.) und Ralf Fücks mit sei… | |
| Berlin taz | Als sich Wolf Biermann an Friedrich Merz wendet, geht ein | |
| Raunen durch den Saal. „Wenn Sie mich eingeladen hätten, dann hätte ich mit | |
| Hochmut und Abscheu Nein gesagt“, schleudert der Liedermacher in Richtung | |
| des CDU-Chefs. Merz sitzt in der ersten Reihe eines überfüllten Raums der | |
| Konrad-Adenauer-Stiftung und lacht die Verbalattacke Biermanns weg. Der | |
| CDU-Vorsitzende wird starke Nerven brauchen. Es ist nicht der einzige | |
| Angriff, dem er sich dieses Wochenende stellen muss – und das auf eigenem | |
| Terrain. | |
| Die CDU ist auf Sinnsuche. Sie praktiziert diesen Prozess seit der | |
| verlorenen Bundestagswahl im Herbst 2021 öffentlich. Derzeit nehmen etliche | |
| Parteimitglieder konsterniert zur Kenntnis, dass die CDU von der aktuellen | |
| Regierungskrise nicht profitiert. Bei Umfragen liegt die Union mit etwa 29 | |
| Prozent zwar auf dem ersten Platz, doch die Prognosen haben sich für sie | |
| seit fast einem Jahr kaum verändert. Mit einem neuen Grundsatzprogramm will | |
| sich die CDU neu positionieren. Doch dieser Prozess geht manchen in der | |
| Partei angesichts der anstehenden Landtags- und Europawahlen nicht mehr | |
| schnell genug – [1][auch angesichts des derzeit prognostizierten Höhenflugs | |
| der AfD.] | |
| In der CDU-Parteizentrale ist es am Freitag warm und stickig, doch die | |
| Delegierten stehen auf, um für mehrere Minuten rhythmisch im Takt zu | |
| klatschen. Sie applaudieren Friedrich Merz, der sich in seiner 40-minütigen | |
| Rede beim Bundesausschuss der Partei an der Regierungspolitik abarbeitet. | |
| Merz nimmt dabei Anleihen an seinem Altvorgänger, der am 12. Juli 1973 in | |
| der Opposition erstmals zum Parteivorsitzenden der CDU gewählt wurde. | |
| „Helmut Kohl sagte damals in Bonn, wir dürfen dabei nicht nur auf die | |
| Fehler dieser Regierung setzen. Wir selbst müssen durch unsere Politik | |
| diese Wende in der deutschen Politik herbeiführen.“ Merz kommt auf die | |
| Bedeutung von Kohl für die CDU mehrfach zu sprechen, geht in seiner Rede | |
| selbst bis zu Konrad Adenauer zurück. Einen Namen lässt er in seiner | |
| Betrachtung der CDU dabei außen vor und erwähnt ihn nur ganz am Ende, fast | |
| nachgeschoben in einem Nebensatz: Angela Merkel. | |
| ## Wüst mahnt zum Bekenntnis zur Mitte | |
| Viele sehen im Konrad-Adenauer-Haus heute in der 16-jährigen Amtszeit von | |
| Merkel den Grund für die mühevollen Arbeiten am neuen Parteiprogramm. | |
| Inhaltlich sei die Union nach ihrer Zeit in der Regierung ausgehöhlt | |
| gewesen, heißt es. Parteimitglieder berichten darüber, wie sie im Wahlkampf | |
| 2021 an den Ständen nicht erklären konnten, warum Menschen für die CDU | |
| stimmen sollten. „Wir haben die Bundestagswahl verloren, weil wir nicht gut | |
| genug waren“, sagt der stellvertretende CDU-Vorsitzende, Carsten Linnemann, | |
| am Samstag in Berlin. | |
| Linnemann leitet die sogenannte Grundsatzkommission der CDU, die das neue | |
| Parteiprogramm auf den Weg bringen soll. Den Bundesausschuss am Freitag und | |
| den Grundsatzkonvent am Samstag sieht er als inhaltliche Höhepunkte auf dem | |
| Weg zum neuen Programm. Der Bundesausschuss ist ein kleiner Parteitag, | |
| klein auch durchaus im Wortsinne: Die 158 Delegierten drängen sich am | |
| Freitag in der Lobby der Berliner Parteizentrale, die eng bestuhlt wurde. | |
| Zwischen den Sitzreihen sorgt an diesem Tag ein Beitrag von Hendrik Wüst | |
| für Gesprächsstoff. Der CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen | |
| erläuterte [2][in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung | |
| (FAZ)] seine Vorstellungen zum neuen Parteiprogramm. Wüst beschreibt dort | |
| die Krise konservativer Parteien in Europa angesichts des rechten | |
| Populismus. „Seit 30 Jahren sagen nicht wenige deutsche | |
| Politikwissenschaftler voraus, dass die CDU das gleiche Ende nehmen würde | |
| wie die meisten ihrer großen christdemokratischen Schwesterparteien. Doch | |
| wir sind die Ausnahme“, so Wüst. Der Grund hierfür liege darin, dass Kohl | |
| und Merkel die Union in der gesellschaftlichen Mitte verortet hätten, | |
| schreibt der Ministerpräsident. „Eine Politik von Modernität, Mitte und | |
| Ausgleich lieferte über Jahrzehnte hinweg die Regierungs- und | |
| Mehrheitsfähigkeit der CDU. Das sollte auch den Programmprozess der CDU | |
| leiten.“ | |
| [3][Die Bild-Zeitung hebt den Gastbeitrag von Wüst pünktlich zum Start des | |
| Bundesausschusses am Freitag zur „Kampfansage“ von Wüst gegen Merz.] Genau | |
| dies ist die Auseinandersetzung, die die Union so lange wie möglich | |
| aufschieben möchte. Wenn es nach der Partei ginge, soll erst dann über das | |
| Personal gesprochen werden, wenn das neue Programm final verabschiedet ist, | |
| und das ist erst im Frühsommer 2024 geplant. | |
| Weder Merz noch Wüst lassen in ihren Reden am Freitag persönlichen Zwist | |
| erahnen. Merz erwähnt Wüsts Beitrag mit der gönnerhaften Art eines | |
| Parteivorsitzenden: „Ich freue mich über die Veröffentlichung von | |
| Namensbeiträgen, und wenn ich sie lese, kann ich keine Widersprüche | |
| entdecken. Ich hätte nur eine Bitte: Wenn dann noch auf andere verwiesen | |
| würde, die ähnlich gute Beiträge geschrieben haben, dann bringt uns das | |
| alle voran. Die Erneuerung der CDU ist ein anstrengender, aber auch ein | |
| lohnender Prozess.“ Der Saal applaudiert. | |
| Wüst spricht nach Merz, seine Rede geht nur wenige Minuten. Der | |
| NRW-Ministerpräsident wirkt angespannt und seine Ansprache bleibt | |
| inhaltlich trocken, auch rhetorisch fällt er hinter Merz zurück. Auch er | |
| kritisiert die Bundesregierung, äußert aber den schon fast freundlichen | |
| Vorwurf, die Ampelkoalition schaffe es nicht, angesichts des Ukrainekriegs | |
| und des Klimawandels „Zuversicht zu verbreiten“. „In solchen Zeiten | |
| bräuchte es eine Bundesregierung des Ausgleichs, mit klarem Plan“, sagt | |
| Wüst. Er greift auch einige Punkte auf, die er auch in seinem Gastbeitrag | |
| angesprochen hat; zwar mit weniger Spitzen gegen einen etwaigen Populismus | |
| in den eigenen Reihen, aber inhaltlich durchaus mit Unterschieden zu Merz. | |
| Etwa mit diesem Satz zur Migration: „Die Menschen, die bedroht sind, finden | |
| bei uns Zuflucht. Punkt.“ | |
| Fragen um Flucht und Migration sind ein Großthema für die Union, und sie | |
| ringt auch bei der Arbeit an ihrem Programm mit der Positionierung und der | |
| Wortwahl. Merz sagt bei seiner Rede am Freitag, Deutschland brauche | |
| Einwanderung. „Deutschland ist ein Einwanderungsland seit Jahren und | |
| Jahrzehnten.“ Dann schiebt er aber hinterher: „Es ist zu viel für unsere | |
| Städte und Gemeinden.“ | |
| [4][Volker Kauder] kann zu dem Beitrag von Wüst in der FAZ nur den Kopf | |
| schütteln. „Solche Sachen sollten unterbleiben“, sagt der ehemalige | |
| Fraktionsvorsitzende am Rande des Bundesausschusses. „Angela Merkel und ich | |
| waren sieben Jahre in der Opposition, deshalb weiß ich, wie schwer es in | |
| dieser Zeit ist, mit Positionen durchzudringen.“ Debatten um das Personal | |
| zum jetzigen Zeitpunkt würden die inhaltliche Auseinandersetzung nur | |
| erschweren. | |
| Die Tagesordnung wird am Freitag beim Bundesausschuss abgehakt: Zur | |
| Abstimmung stehen zwei Leitanträge des Bundesvorstands, einer zu einem | |
| „Kinderchancenprogramm“, ein anderer zum Thema „Freiheit“. Beide Anträ… | |
| sind allgemein gehalten und werden einstimmig verabschiedet. Der Ausschuss | |
| beschließt damit etwa, dass sich die Union zu der schwammigen Formulierung | |
| „Freiheit zum verantwortlichen Handeln in der Gemeinschaft“ bekenne. Anlass | |
| für diesen Antrag sieht die Union beim Volksaufstand in der DDR am 17. Juni | |
| 1953, dessen Erbe die Partei fortan hochhalten möchte. In der Debatte | |
| fehlen die CDU-Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt und Sachsen, Reiner | |
| Haseloff und Michael Kretschmer, prominent – sie haben es wegen | |
| Gedenkfeiern zum 17. Juni in ihren eigenen Bundesländern nicht nach Berlin | |
| geschafft. | |
| ## Das strategische Dilemma der Union | |
| Seine scharfen Worte richtet Wolf Biermann auch im Kontext des 17. Juni an | |
| Friedrich Merz. Norbert Lammert, CDU-Politiker, ehemaliger Präsident des | |
| Deutschen Bundestages und heutiger Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, hat | |
| den Liedermacher am Freitagabend eingeladen, die Gedenkveranstaltung zum | |
| 70. Jahrestag des Volksaufstands zu bespielen. „Mich fragen die Leute, | |
| warum gehst du denn zur Adenauer-Stiftung“, sagt Biermann in den Saal. | |
| Gekommen sei er nur wegen Lammert, mit dem ihn eine Freundschaft verbinde. | |
| Dem CDU-Vorstand im Saal bleibt nichts anderes übrig, als zu lachen und dem | |
| DDR-Dissidenten, der auch hier seine Rolle auszufüllen weiß, zu | |
| applaudieren. | |
| Der Umgang mit dem 17. Juni im Speziellen und die politische Verortung der | |
| CDU im Allgemeinen wollen Carsten Linnemann und Friedrich Merz nicht als | |
| reine Abgrenzung zu den anderen Parteien verstanden wissen. Sie fordern | |
| immer wieder ein Programm als eigenständigen Entwurf der CDU aus ihrem | |
| Inneren heraus. Dabei ist es der Chef der Jungen Union, der das | |
| strategische Dilemma der Partei am Freitag erneut hervorhebt: „Keiner | |
| braucht eine Union, die grüner ist als die Grünen, und niemand wählt eine | |
| Union, die populistischer ist als die AfD“, sagt Johannes Winkel. | |
| Es sind diese Auseinandersetzungen, die den Grundsatzkonvent der Partei am | |
| Samstag prägen. Merz begibt sich auch hier in ein Streitgespräch, in dem er | |
| die Nerven bewahren muss. Ralf Fücks, Grünen-Politiker und ehemaliger | |
| Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung, hält dem CDU-Vorsitzenden auf offener | |
| Bühne vor, die Union müsse als „eine bürgerliche Partei auch einen | |
| bürgerlichen Stil pflegen“. Merz entgegnet mit seiner Definition von | |
| Populismus: „Dem Volk aufs Maul zu schauen ist Demokratie, dem Volk nach | |
| dem Mund zu reden ist Populismus.“ | |
| Nur wenige Minuten vor Merz und Fücks hatte Ex-Eisschnellläuferin Claudia | |
| Pechstein in Polizeiuniform über eine konsequentere Abschiebung von | |
| Geflüchteten, ihre Vorstellungen von Familie („Mama und Papa“), das Z-Wort | |
| und das Gendern schwadroniert. Ihre Ausführungen verhallten unter | |
| zurückhaltendem Klatschen der Konvent-Teilnehmer*innen. Wie später bekannt | |
| wurde, hat die Bundespolizei eine dienstrechtliche Prüfung eingeleitet, da | |
| sie in Uniform auftrat. Merz mag eine Definition für Populismus geliefert | |
| haben. Eine Strategie, wie die CDU mit dem Thema umgehen will, blieb er | |
| schuldig. Dabei war das Anwendungsbeispiel gar nicht fern – es wird nicht | |
| das letzte gewesen sein. | |
| 18 Jun 2023 | |
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