Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Tote durch Bootsunglück vor Griechenland: Jedes Mittel ist recht
> Am Mittwoch ist ein Flüchtlingsboot südlich der Stadt Pylos gesunken. 78
> Leichen barg die griechische Küstenwache.
Bild: Macht, was ihr wollt. Hauptsache, die Flüchtlinge bleiben draußen. Das …
Am Freitag legte die Amsterdamer NGO United ihre [1][neue „Liste des
Todes“] vor. Seit exakt 30 Jahren dokumentiert die antirassistische
Initiative tote Flüchtlinge und Migrant:innen an den Grenzen Europas.
Sie begann, lange [2][bevor offizielle Stellen im Jahr 2014 anfingen] zu
zählen. 52.760 Einträge umfasst die Liste von United.
Tatsächlich sind es schon wieder mehr: [3][78 Leichen barg die griechische
Küstenwache], nachdem am Mittwochmorgen ein Flüchtlingsboot südlich der
Stadt Pylos gesunken war. 750 Menschen sollen sich auf dem Boot befunden
haben, das von der Türkei aus in Richtung Italien unterwegs war. Es dürfte
sich um eines der schlimmsten Unglücke dieser Art im Mittelmeer handeln.
Genau erfahren wird man es wohl nie: Die Suche nach weiteren Leichen wurde
am Freitag eingestellt.
Am Donnerstag berichtete der Spiegel, dass Flüchtlingen in Tunesien Boote
aus zusammengeschweißten, rostigen Stahlplatten verkauft werden. Dringt in
diese Wasser ein, sinken sie „wie ein Stein“. Für Holzboote hatte die
tunesische Regierung zuvor eine Registrierungspflicht eingeführt. Fischer
sollen ihre Holzboote nicht mehr an Flüchtlinge weitergeben.
Dem finanziell klammen Tunesien bietet die Europäische Union gerade
Hunderte Millionen Euro an, damit es die Abfahrten von Flüchtlingen über
das Mittelmeer in Richtung Italien unterbindet.
So wird das Sterben weitergehen. Die Länder an und vor den Außengrenzen
werden als Bollwerk weiter ausgebaut, egal was geschieht.
## Ausweitung der Pushbacks
Als vor einem Jahr an einem einzigen Tag mindestens 37 Menschen [4][an den
Grenzzäunen von Melilla getötet wurden], sagte der EU-Ratspräsident
Charles Michel: „Wir unterstützen Spanien und alle Länder, die an
vorderster Front die Grenzen der EU schützen, voll und ganz.“
Macht, was ihr wollt. Hauptsache, die Flüchtlinge bleiben draußen. Das ist
die Botschaft.
Griechenland hatte im Februar 2020 mit Blendgranaten, dem Aussetzen von
Schwimmkörpern auf dem offenen Meer und vermutlich auch mit scharfer
Munition Tausende Menschen abgewehrt, die aus der Türkei die Grenze
überqueren wollten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste
damals in das Land und dankte Griechenland dafür, [5][„in diesen Zeiten der
europäische Schild“] zu sein.
Es war genau diese Zeit, in der Griechenland seine massenhaften Pushbacks
von den Land- auf die Seegrenzen ausweitete. Erst kürzlich zeigte ein Video
der New York Times, wie Asylsuchende, darunter ein Baby, von der
griechischen Küstenwache zusammengetrieben und auf einem Floß im Meer
ausgesetzt wurden. Und immer wieder berichten Helfer:innen, wie Seenotfälle
im Mittelmeer von den Küstenwachen ignoriert werden. Zu solchen Praktiken
fühlen die Außengrenzenstaaten sich durch den Rückhalt der übrigen
EU-Mitglieder legitimiert. Das könnte auch bei der jüngsten Katastrophe
eine Rolle gespielt haben.
Kriton Arsenis, ein ehemaliger [6][EU-Abgeordneter der Pasok], besuchte die
Überlebenden des Unglücks vom Mittwoch. Diese berichteten ihm, das Boot sei
gesunken, als die griechische Küstenwache es Richtung italienische Gewässer
gezogen hatte. In den sozialen Medien kursiert ein Video, das zeigen soll,
wie Überlebende auch dem ehemaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras dies
bei dessen Besuch der Überlebenden schildern.
## Keine legalen Wege
Unfassbar? Es wäre jedenfalls nicht der erste Fall. Erst im Juli 2022 hatte
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) [7][Griechenland
wegen eines solchen Vorfalls verurteilt]. Im Januar 2014 war ein Boot mit
27 Flüchtlingen vor der griechischen Insel Farmakonisi gekentert, 11
Menschen starben. Die Überlebenden hatten angegeben, dass ein Schiff der
griechischen Küstenwache mit sehr hoher Geschwindigkeit unterwegs gewesen
sei, um die Flüchtlinge zurück in türkische Gewässer zu drängen.
Griechenland musste 330.000 Euro Schadenersatz zahlen.
Und am Freitag berichtete [8][die Initiative Alarm-Phone], dass die
Küstenwache ihren Notruf wegen des am Mittwoch gesunkenen Boots ignoriert
hatte. Das Alarm-Phone hatte die griechische Rettungsleitstelle am Dienstag
um 16.53 Uhr per E-Mail wegen des Boots kontaktiert. In der Mail waren die
Koordinaten des überladenen Schiffs angegeben, ebenso die Information, dass
sich 750 Menschen an Bord befinden, sowie eine Telefonnummer, unter der die
Passagiere kontaktiert werden konnten. „Sie bitten dringend um Hilfe“,
heißt es in der E-Mail, die auch an Frontex und das Hauptquartier der
Polizei ging. Acht Stunden später sank das Schiff.
Am Donnerstag reiste der Frontex-Direktor Hans Leijtens wegen des Unfalls
zu einem Treffen mit der griechischen Küstenwache. Er wolle „besser
verstehen, was geschehen sei“, schrieb Leijtens. Ihm kann geholfen werden.
Was geschehen ist, ist, dass es für die Menschen keine legalen Wege gibt,
[9][weil der EU ihr Grenzschutz wichtiger ist als das Leben der
Flüchtlinge].
16 Jun 2023
## LINKS
[1] https://unitedagainstrefugeedeaths.eu/about-the-campaign/about-the-united-l…
[2] https://missingmigrants.iom.int/
[3] /Bootsunglueck-im-Ionischen-Meer/!5940736
[4] /Gewalt-gegen-Migranten-in-Marokko/!5882408
[5] /Fluechtlinge-an-der-griechischen-Grenze/!5668263
[6] https://twitter.com/ErikMarquardt/status/1669348355930210304
[7] https://www.proasyl.de/news/spaete-gerechtigkeit-fuer-die-ueberlebenden-von…
[8] https://alarmphone.org/en/2023/06/14/europes-shield/
[9] /Neue-Asylregelung/!5937359
## AUTOREN
Christian Jakob
## TAGS
IG
Frontex
Bootsflüchtlinge
Schwerpunkt Flucht
Europäische Union
Pushbacks
Geflüchtete
Lesestück Recherche und Reportage
Abschiebung Minderjähriger
Schwerpunkt AfD
Mittelmeerroute
Mittelmeer
Griechenland
Schwerpunkt UN-Migrationspakt
Asyl
## ARTIKEL ZUM THEMA
Was Griechenland wusste: Das tödliche Geschäft des Abu Sultan
Hunderte Menschen starben 2023 beim Schiffbruch von Pylos und Griechenland
steckte neun Überlebende in den Knast. taz-Recherchen zeigen: Die Justiz
wusste, dass sie unschuldig waren.
EU-Urteil zu illegaler Abschiebung: Frontex muss nicht zahlen
Das Europäische Gericht lehnt die Klage einer syrischen Familie ab. Sie war
unter Frontex-Beteiligung illegal aus Griechenland abgeschoben worden.
Reaktionen auf Nachrichten: Der unheimliche Sommer
Vor der Sommerpause erzielt die AfD Umfrage-Rekorde. Daran haben wir uns so
gewöhnt wie an Staunachrichten, ertrinkende Flüchtlinge und Overtourism.
Nachrichtenmüdigkeit in Deutschland: Bevor das nächste Kind tot daliegt
Eine Studie stellt eine leicht wachsende Nachrichtenmüdigkeit fest. Doch es
gibt Möglichkeiten, auf schlechte Nachrichten konstruktiv zu reagieren.
Bootsunglück im Mittelmeer: Vom Nildelta in den Tod
Viele der auf dem letzte Woche verunglückten Boot kamen aus Ägypten. Im
Nildelta beginnt eine der Routen eines perfiden Schmugglersystems.
Bootsunglück im Ionischen Meer: Katastrophe mit Ansage
Mindestens 78 Menschen kommen ums Leben, als in der Nacht zu Mittwoch ein
überladenes Fischerboot mit Flüchtlingen und Migranten untergeht.
Jahresbericht Flüchtlingswerk UNHCR: 110 Millionen auf der Flucht
Der Krieg in der Ukraine hat den schnellsten Anstieg der Flüchtlingszahlen
seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht. Die Türkei hat die meisten
Flüchtlinge aufgenommen.
Neue Asylregelung: Die EU rückt nach rechts
Durch die neue EU-Asylregelung wird sich das Leben von vielen Ankommenden
künftig an Orten abspielen, die Hochsicherheitsgefängnissen gleichen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.