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# taz.de -- Bootsunglück im Mittelmeer: Vom Nildelta in den Tod
> Viele der auf dem letzte Woche verunglückten Boot kamen aus Ägypten. Im
> Nildelta beginnt eine der Routen eines perfiden Schmugglersystems.
Bild: Hier ging's los: Angehörige eines der Mittelmeer-Toten vergangene Woche …
Kairo taz | Der [1][Untergang des Schiffes voller Migranten vorige Woche im
Mittelmeer] ist eine griechische Tragödie. Doch es ist auch ein ägyptisches
Drama. 43 der 104 Überlebenden sind Ägypter, enthüllte die ägyptische
Migrationsministerin Soha Gindi am Montag. Neun der Überlebenden, die wegen
Verdachts der Schlepperei festgenommen und dem Haftrichter vorgeführt
wurden, sind ebenfalls Ägypter. Auch unter den restlichen Menschen an Bord
– insgesamt waren es Schätzungen zufolge rund 750 – soll sich eine hohe
Zahl an Ägyptern befunden haben. Sie wurden entweder bereits tot geborgen
oder gelten als vermisst.
Inwieweit die neun verhafteten Ägypter als Schlepper gearbeitet haben, ist
jetzt eine Frage für die griechische Justiz. Vor dem Haftrichter erklärten
die Männer ihre Unschuld. „Mein Mandant sagt, er sei auch nur ein Opfer und
habe eine erhebliche Summe für eine Reise von Ägypten nach Italien
gezahlt“, erklärte Dimitris Drakopoulos, ein Pflichtverteidiger eines
Angeklagten. Er sei von sich aus ins Meer gesprungen, um Wasserflaschen zu
holen, die ein Frachter zuvor abgeworfen hatte, nachdem auf dem
Migrantenschiff das Wasser ausgegangen sei.
Wenn es sich bei den Verhafteten tatsächlich um Schlepper handelt, dann
wohl nur um die ganz kleinen Fische. Es ist üblich, dass die Organisatoren
der Schiffe günstigere Preise machen, wenn man an Bord Handlangerdienste
leistet. Laut der unabhängigen ägyptischen Nachrichtenplattform Mada Masr
berichteten Angehörige zweier der Festgenommenen, dass diese erst vor
wenigen Wochen Ägypten verlassen hätten, um nach Europa zu reisen.
Die Hinterleute sitzen woanders. Einer der Namen, die im Zusammenhang mit
der Tragödie genannt werden, ist der des Libyers Muhammad Abu Sultan,
genannt „Kaiser des Meeres“, der auch der Besitzer des gesunkenen Boots
sein soll. Mit seinen Brüdern Salem Abu Sultan, auch genannt „der Führer“,
und Ali Abu Sultan unterhält er einen Schmugglerring in Tobruk, schreibt
die ägyptische Nachrichtenseite Veto. In der ostlibyschen Stadt war das
Boot gestartet.
Tausende Euro für eine Überfahrt
Doch das gesamte System der Schmuggler lässt sich nicht an einigen Namen
festmachen, die auf lokaler Ebene zu Schmugglergrößen geworden sind. Es ist
ein riesiger Schmugglerring, der sich aus dem Inneren Afrikas über Ägypten,
Libyen und Tunesien bis nach Europa zieht. Von einem „gigantischen
Spinnennetz“ spricht [2][Gamal Gohar], der für die überregionale arabische
[3][Tageszeitung Asharq al-Awsat] als Investigativreporter in Sachen
Migration und Libyen arbeitet. „Das ist wie ein Markt mit Angebot und
Nachfrage, und die Nachfrage wächst immer mehr.“
Die Menschen würden von einer Schlepperbande an die nächste übergeben, bis
sie ihr Ziel erreicht haben. „Das ist wie ein Bewässerungssystem im
Nildelta. Eine Pumpe transportiert das Wasser in einen Kanal und von dort
wird es über andere Pumpen in weiter entfernte Kanäle geleitet“, beschreibt
Gohar das System gegenüber der taz.
Im Nildelta in Ägypten befindet sich auch einer der Anfangspunkte des
Systems. In den ärmlichen Dörfern sprechen sich die Namen der
Ansprechpartner der Schlepper herum, auch über sozialen Medien. Sie
fungieren unter falschem Namen, meist als „Hagg soundso“. Hagg ist im
Arabischen die Anrede für einen ehemaligen Pilger nach Mekka, eine perfekte
anonyme Anrede.
Auf den Weg machen sich vor allem junge Männer, aber auch Kinder und
Minderjährige. Er kenne viele 13- oder 14-Jährige, die die Reise angetreten
haben, oftmals mit einem älteren Bruder, sagt der ägyptische
Investigativjournalist. Armut sei fast immer das Hauptmotiv.
Laut Weltbank leben zwei von drei Ägyptern unter der Armutsgrenze oder
drohen in diese abzustürzen. Im ländlichen Nildelta sind die Zahlen noch
höher. Die Inflationsrate im Vergleich zum Vorjahr liegt offiziell bei 33
Prozent, bei Nahrungsmitteln ist die Preissteigerung zum Teil noch höher.
Das ägyptische Pfund hat seit März letzten Jahres die Hälfte seines Wertes
verloren. Viele Familien stehen mit dem Rücken zur Wand. Oft erscheint die
Fahrt übers Mittelmeer trotz aller Risiken als einzige Perspektive.
Der Preis für die Überfahrt nach Europa ist Verhandlungssache. Bis zu
umgerechnet 4.500 Euro werden bezahlt. Viele Familien können sich das nur
leisten, wenn sie ihr Vieh verkaufen oder sich massiv verschulden. „Sie
versuchen, alles, was sie besitzen, zu Geld zu machen, um eines ihrer
Kinder nach Europa zu schicken“, sagt Gohar.
Drogen für die Kinder
Kommt man ins Geschäft, liegt das erste Ziel hinter der libyschen Grenze.
Dort werden die Menschen an eine andere Bande übergeben und in entlegenen
Häusern „zwischengelagert“, wie es im Schmugglerjargon heiße, erzählt
Gohar. Jetzt kommt es darauf an, in wessen Hände sie geraten sind. Handelt
es sich um einen „ehrlichen Schlepper“, werden die Menschen nachts auf
zehn- bis zwölfstündige Fußmärsche durch die Wüste geschickt.
Die nächtlichen Wanderungen wiederholen sich, bis die Gruppe ihr Ziel
erreicht hat. Kindern wird dabei oft Tramadol verabreicht, ein Opioid, das
eigentlich ein starkes Schmerzmittel ist. In Ägypten ist Tramadol zu einem
Suchtproblem geworden, weil es oft bei schweren Arbeiten eingesetzt wird,
etwa in Marmor-Steinbrüchen. Manchmal haben die Wanderungen durch die Wüste
Westlibyen zum Ziel. In letzter Zeit geht es oft aber nur bis ins
ostlibysche Tobruk, von wo die Gruppen dann nach Europa ablegen. Bei der
Ankunft in Europa wird die zweite Hälfte des vereinbarten Geldes bezahlt.
Handelt es sich jedoch um eine Schlepperbande, die auf anderem Wege zu
schnellem Geld kommen möchte, dann endet die Reise in Libyen in einem der
Zwischenlager. Besonders verwundbar sind die Kinder. Die werden an andere
Banden verkauft und enden als Feldarbeiter, Bettler oder in der
Prostitution in Libyen. „Die Liste der in Libyen vermissten Kinder und
Minderjährigen im ägyptischen Außenministerium ist lang“, sagt Gohar. Von
so manchen hörten die Angehörigen nie wieder etwas, entweder weil sie in
Libyen als Zwangsarbeiter eingesetzt würden oder weil sie im Mittelmeer
ertrunken seien.
In anderen Fällen, erzählt Gohar, würden die Menschen gefoltert. Die Banden
schicken dann Videos von den Folterungen an die Angehörigen und drohen, die
Kinder umzubringen, wenn sie kein Lösegeld bezahlen. Wird nicht gezahlt,
verkaufen sie die Kinder wie im ersten Fall weiter.
Was mit den Kindern im Anschluss passiere, sei Schicksal, sagt Gohar. Wenn
sie Glück haben, werden sie in einer Razzia der libyschen Behörden entdeckt
und nach Ägypten zurückgeschickt – wobei in Libyen ein schwer
durchschaubares Netz von Behörden, Milizen und Schleppern herrscht, die
teils unter einer Decke stecken. Solche Razzien, sagt Gohar, fänden in
Libyen inzwischen fast täglich statt.
Doch auch wenn die Kinder aus ihrer miserablen Lage befreit werden, ist es
selten eine glückliche Rückkehr nach Ägypten. „Man würde erwarten, dass m…
glückliche Gesichter sieht, da das Kind lebend zurückgekehrt ist, aber das
Projekt und damit die ganze Familie ist gescheitert“, erläutert Gohar.
„Dieses Kind war ein Projekt, um das Leben einer ganzen Familie zu
verändern. Doch jetzt ist diese Familie tief verschuldet.“
Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum man in den Dörfern im
Nildelta nur die Erfolgsgeschichten hört. Um jene, die es nicht über das
Mittelmeer geschafft oder in Europa keinen Fuß auf den Boden bekommen
haben, ist es still. Als gescheitert zurückzukehren gilt als die ultimative
Scham, wenn die Familie dann aufgrund der Reise in der Schuldenfalle
steckt.
Drohung per Anruf aus Libyen
Einige der Familien, die Angehörige auf dem [4][vor der griechischen Küste
gesunkenen Schiff] verloren haben, [5][haben mit Mada Masr gesprochen].
Demnach sind unter den Opfern viele Minderjährige und Kinder. Die
Geschichten, die die Angehörigen berichten, sind immer die gleichen und
decken sich mit der Beschreibung des Investigativjournalisten Gohar.
Der Vater des 14-jährigen Muhammad Dessouki etwa bekam einen Anruf aus
Libyen mit der Drohung, sein Sohn werde umgebracht, wenn er nicht weitere
umgerechnet 4.000 Euro bezahle. Der Vater stimmte zu. „Ich konnte das nicht
verweigern, die haben gedroht, meinen Sohn zu erschießen“, zitiert ihn Mada
Masr.
Er habe sich das Geld von vielen Menschen im Dorf zusammen geliehen. Später
erhielt er einen Anruf, dass er in einer Stunde zum Dorffriedhof kommen
solle, um das Geld einer Frau in einem schwarzen Nikab, einem Vollschleier,
zu überreichen. Als er dort ankam, sah er zwei Familien, die ebenfalls auf
die Frau warteten.
Ein paar Tage später bekam er einen Anruf von seinem Sohn. Der Vater
versuchte, ihn zu überzeugen, nach Ägypten zurückzukommen. Doch der Sohn
bestand darauf, nach Europa weiterzureisen. Er wolle endlich eine
vernünftige Ausbildung bekommen, sagte er. Nun ist der 14-Jährige vor der
griechischen Küste ertrunken.
20 Jun 2023
## LINKS
[1] /Nach-Bootsunglueck-vor-griechischer-Kueste/!5938713
[2] https://aawsat.com/taxonomy/term/121456
[3] https://aawsat.com/
[4] /Expertenbericht-ueber-Taliban/!5942280
[5] https://www.madamasr.com/en/2023/06/18/feature/politics/greek-migrant-boat-…
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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