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# taz.de -- Nachrichtenmüdigkeit in Deutschland: Bevor das nächste Kind tot d…
> Eine Studie stellt eine leicht wachsende Nachrichtenmüdigkeit fest. Doch
> es gibt Möglichkeiten, auf schlechte Nachrichten konstruktiv zu
> reagieren.
Bild: Um der News-Fatigue entgegenzuwirken, empfiehlt unsere Autorin, selbst ak…
Das Bild des zweijährigen Alan Kurdi kehrt ins Gedächtnis zurück. Sein
lebloser Körper am Strand, bekleidet mit einem roten T-Shirt, einer blauen
Hose, an den Füßen dunkle Turnschuhe. Er liegt auf dem Bauch, seine Arme
dicht am Körper, an das Gesicht klatschen wiederkehrende Wellen. [1][Das
Foto des toten syrischen Kindes] am türkischen Strand war im September 2015
ein Weckruf für viele, für die der Krieg in Syrien wie ein Ereignis aus
weiter Ferne wirkte. Die Bilder sorgten für Entsetzen und offene Münder –
und für einen kurzen Augenblick für Empathie in der Politik und das
Bedürfnis, den Geflüchteten doch noch irgendwie zu helfen.
Wenn Bootsunglücke wie jene in Griechenland oder vor den Kanaren zunehmen,
wird es bald den nächsten Alan Kurdi geben. Am vergangenen Mittwoch sank
[2][ein Fischkutter mit vermutlich über 700 Menschen an Bord]; sie wollten
von Libyen nach Italien fahren. Zehn bis fünfzehn Minuten verblieb den
Schutzsuchenden, ehe das Boot komplett unterging. Die griechische
Küstenwache rettete 104 Menschen aus dem Wasser, 78 Tote wurden geborgen.
Zwei Tage später stellte die Küstenwache die Suche nach weiteren Leichen
ein.Unter den Passagieren sollen auch Menschen ohne jegliche
Schwimmkenntnisse gewesen sein.
An diesem Mittwoch dann wieder: [3][Vor der spanischen Inselgruppe kamen 39
Menschen ums Leben], die Küstenwache bestätigte den Tod eines Säuglings.
So eine Überfahrt macht niemand freiwillig. Wie gewaltig muss ihre Notlage
gewesen sein, wie bedrohlich die Lage für ihre Familie, dort, wo sie zuvor
gelebt hatten? Und wann begreift Europa das eigentlich?
## Jeder zehnte Erwachsene meidet Nachrichten
Am vergangenen Mittwoch wurde auch der „[4][Digital News Report 2023]“ des
Reuters-Institut für Journalismus-Studien in Oxford veröffentlicht.
Ergebnis der Studie: In Deutschland meidet jeder zehnte internetnutzende
Erwachsene Nachrichten. Die Befragung wurde im Januar dieses Jahres
durchgeführt, doch da auch im Jahr 2022 jede zehnte Person aktiv
Nachrichten aus dem Weg ging, dürfte sich die Zahl im halben Jahr nicht
besonders verändert haben.
Insgesamt versuchen 65 Prozent der Deutschen mindestens gelegentlich
Nachrichten auszuweichen. Fast ein Drittel geht gezielt bestimmten Themen
aus dem Weg, am häufigsten werden Nachrichten zum Krieg in der Ukraine
gemieden. Während im vergangenen Jahr noch 57 Prozent der Deutschen äußerst
oder sehr an Nachrichten interessiert waren, sind es dieses Jahr nur noch
52 Prozent.
Das Bedürfnis, sich eine Auszeit von schrecklichen Meldungen nehmen zu
wollen, ist nachvollziehbar. Denn zusammen mit Bildern des überfüllten
Bootes kehren auch Ohnmachtsgefühle und Hilfslosigkeit zurück.
## Ukraine, MeToo, Klimawandel und Rechtsruck
Dabei ist die Nachrichtenlage ohnehin schon schwer verdaulich: Der Krieg in
der Ukraine ist seit fast anderthalb Jahren ein Dauerereignis, außerdem
entflammt hierzulande eine [5][neue #MeToo-Debatte]. Was neue Gesetze zur
Bekämpfung des Klimawandels angeht, tritt die Ampel praktisch auf der
Stelle, und die AfD bekommt in neusten Umfragen mit 19 Prozent mehr Stimmen
als die Partei des Bundeskanzlers. Außerdem ragt der Rechtsruck über
nationale Grenzen hinaus und führte zur [6][Einigung der EU], die Grenzen
vor Geflüchteten zu „schützen“.
Unter anderem deshalb fühlen sich Politik und ihre Entscheidungen wie
Beschlüsse aus der Ferne an, auf die man als Einzelperson keinen Einfluss
nehmen kann. Für die Psyche kann es also gesund sein, sich eine Auszeit von
Nachrichten zu nehmen, sei es, das Handy wegzulegen oder den Fernseher
auszuschalten. Neurowissenschaftler:innen erklären, dass der
permanente Konsum schlechter Nachrichten [7][einen dauerhaften
Stresszustand] im Gehirn und Körper verursachen kann. Daraus resultierende
Folgen können Gereiztheit, Schlafstörungen und in schlimmen Fällen auch
Depressionen sein.
Deshalb ist es sinnvoll, sich gezielt eine Auszeit zu nehmen. Statt nach
der Zeitung zu greifen, lieber einen Roman oder ein Kochbuch schnappen.
Einen neuen Sport ausprobieren, vielleicht mal länger schlafen und
allgemein auf die Bedürfnisse des Körpers hören.
## Nachrichtenentzug darf kein Dauerzustand sein
Doch so wichtig Rückzug und Ablenkung auch sind, muss man sich bewusst
machen, dass dies kein Dauerzustand sein kann. Die Weltlage vollständig
auszublenden bringt die Toten nicht zurück, im Gegenteil. Denn wenn
überhaupt jemand an der Lage etwas verändern kann, dann ein medialer und
gesellschaftlicher Aufschrei – siehe die Debatte um Till Lindemann.
Neben ihren Ergebnissen zur Nachrichtenmüdigkeit ergab die Studie auch,
dass sich 53 Prozent der Konsument:innen für Nachrichten interessieren,
die Lösungen vorschlagen, anstatt nur auf die Probleme hinzuweisen.
Folgende sind keine Lösungen, aber Optionen, wie Einzelne mit der
derzeitigen Lage umgehen können.
Die Bewegung Seebrücke organisiert immer wieder in verschiedenen Städten
[8][Proteste und Kundgebungen]. Wer in einer Stadt wohnt, in der eine
Aktion stattfindet, wird feststellen: Man ist nicht allein mit seiner
Verzweiflung. Gemeinsam darüber reden, sich Wut und Trauer anderer anhören,
schafft Mitgefühl und tröstet. Wer nicht die Zeit für Versammlungen findet,
kann spenden. Es gibt reichlich unterstützenswerte Initiativen.
Wer sich für mutmaßliche Betroffene im Fall Rammstein einsetzen möchte,
kann sich an der Spendenaktion „[9][Wie Viel Macht 1€]“ beteiligen. Für …
Entnazifizierung setzt sich die Initiative „[10][Exit Germany]“ ein, sie
bieten Beratung und diverse Projekte an – ebenso Initiativen wie „[11][Kein
Bock Auf Nazis]“ oder die [12][Amadeu Antonio Stiftung]. [13][Das
Regenbogenportal] der Bundesregierung ist eine Anlaufstelle für Queere. Und
wer sowohl finanziell als auch zeitlich knapp aufgestellt ist, kann gezielt
[14][Briefe an Bundes- und EU-Politiker:innen schreiben].
Was auch immer wir tun – dauerhaftes Wegschauen und Ignorieren der
Nachrichten wird die Realität nicht wegzaubern. Empörung ist kräfteraubend,
aber wichtig, und zwar bevor das nächste Kind leblos am Strand liegt.
23 Jun 2023
## LINKS
[1] /Fluechtende-auf-dem-Mittelmeer/!5875155
[2] /Tote-durch-Bootsunglueck-vor-Griechenland/!5938633
[3] /Bootsunglueck-vor-den-Kanaren/!5942578
[4] https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/sites/default/files/2023-06/Digi…
[5] /Der-Fall-Till-Lindemann/!5938658
[6] /Einigung-in-der-EU-Fluechtlingspolitik/!5937229
[7] /Therapeut-ueber-die-aktuellen-Ereignisse/!5836569
[8] https://www.seebruecke.org/aktionen
[9] https://www.betterplace.org/de/projects/124238-wie-viel-macht-1
[10] https://www.exit-deutschland.de/english/
[11] https://www.keinbockaufnazis.de/
[12] https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/
[13] https://www.regenbogenportal.de/
[14] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/kontakt/kontaktformular
## AUTOREN
Shoko Bethke
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