| # taz.de -- Die CDU regiert wieder in Berlin: Piefigkeit geht gar nicht | |
| > Auch Schwarz-Rot müsste die Stadt öffnen und verändern. Stattdessen droht | |
| > wie 2011 politischer Stillstand – erst recht nach Wegners Wahldebakel. | |
| Bild: Das Tempelhofer Feld in Berlin, ein Ort der Möglichkeiten. Doch Schwarz-… | |
| Was vor vier Monaten allgemein als Spinnerei abgetan wurde, ist am | |
| Donnerstag – wenn auch erst im dritten Wahlgang und nach [1][einem | |
| vermeidbaren Eklat um AfD-Stimmen] – traurige Wirklichkeit geworden: Die | |
| CDU regiert wieder in Berlin. | |
| Nach knapp 22 Jahren kehrt damit jene Partei an die Macht zurück, die | |
| historisch gesehen besonders erfolgreich dabei war, die Stadt den | |
| Interessen der sie finanzierenden Lobbygruppen zu opfern, etwa | |
| Immobilieninvestoren. 2001 versank die CDU im Sumpf des Bankenskandals. Der | |
| daraufhin notwendige Sparkurs unter Rot-Rot bescherte Berlin viele jener | |
| Probleme, an denen die Stadt noch heute leidet: Armut, desolate Verwaltung, | |
| fehlende landeseigene Grundstücke und Wohnungen. | |
| In dieser Kontinuität steht [2][der neue Regierende Bürgermeister Kai | |
| Wegner]. Er muss in den kommenden gut drei Jahren bis zur nächsten Wahl | |
| beweisen, dass es noch eine andere Berliner CDU gibt. | |
| Eine CDU zum Beispiel, die nachhaltig denkt und sich explizit als | |
| Großstadt-, ja als Metropolenpartei versteht und nicht als Beschützerin der | |
| Einfamilienhausbewohner*innen. Die anerkennt, dass die Lösungen vieler | |
| globaler Probleme, allen voran der Klimakrise, insbesondere in den Städten | |
| gefunden werden müssen. | |
| Das heißt auch: Es wird Anpassungen geben müssen, die mit Verzicht einher | |
| gehen, etwa im wichtigen Bereich Verkehr. Rot-Grün-Rot hat es versäumt, die | |
| Berliner*innen darauf vorzubereiten; das hat sich nicht nur bei der | |
| Wahl im Februar, sondern auch [3][beim Klimavolksentscheid Ende März | |
| gezeigt]. | |
| ## Klimaschutz lässt sich nicht allein mit Geld erkaufen | |
| Für Wegner und Co. ist das noch eine weitaus schwierigere Aufgabe, da seine | |
| Partei ihren Wahlsieg explizit jenen verdankt, die alles beim Alten lassen | |
| wollen. Aber Klimaschutz lässt sich nicht allein mit viel Geld erkaufen, | |
| war ja mit dem von Schwarz-Rot beschlossenen milliardenschweren | |
| Sondervermögen bereit steht. | |
| Die Stadt muss sich also verändern – oder besser: die Politik muss die | |
| Stadt verändern. Denn die steht im Wettbewerb mit anderen Metropolen, was | |
| die Umgestaltung mit dem Ziel betrifft, lebenswertere Kieze für die | |
| Bewohner*innen zu schaffen. Berlin wird weiter Zuzug brauchen, das | |
| zeigen allein die Berechnungen über den drohenden massiven | |
| Fachkräftemangel, auch in der öffentlichen Verwaltung und an Schulen. Wo | |
| jene Menschen wohnen sollen, ist eine weitere Frage, die die neue Koalition | |
| beantworten muss. | |
| Und schließlich soll Berlin weiterhin attraktiv für Besucher*innen | |
| sein. Tourismus ist bisher eine wichtige Einkommensquelle; er baut auf ein | |
| spezielles Image Berlins: daseiner unkonventionellen Stadt mit einer | |
| gehörigen Dosis Laisser-faire. | |
| Das alles zeigt: Piefigkeit kann sich Berlin nicht leisten, wenn die neue | |
| Koalition daraus nicht eine dröge Kopie von Stuttgart oder Hannover machen | |
| will, mit dem Charme eines Puzzles aus Vororten – und damit vieles von dem | |
| in Frage stellt, wofür Berlin steht: Offenheit, die auch von Franziska | |
| Giffey so gern beschworene „Freiheit“, Toleranz. Grundlagen eben, auf denen | |
| gesellschaftlicher Fortschritt gedeihen kann. | |
| ## Roll-Back in der Innenpolitik | |
| Diese Ansprüche stehen freilich im Widerspruch zu guten Teilen des | |
| Koalitionsvertrags und der [4][Besetzung wichtiger | |
| Senator*innenposten mit konservativen Kräften,] etwa beim Verkehr- | |
| und Klimaschutz und in der Stadtentwicklung. In der Innenpolitik droht ein | |
| Rollback, der die mühsamen Verbesserungen bei der Polizei im Umgang mit den | |
| Bürger*innen – zum Beispiel Stichwort Racial Profiling – gefährdet. | |
| Kreative Ideen, wie Wohnraum geschaffen und Mieter*innen wirkungsvoll | |
| vor Verdrängung geschützt werden können, fehlen. Wahrscheinlicher ist, dass | |
| die neue Regierung wieder private Investoren hofiert und mit Geld lockt, in | |
| der bloßen Hoffnung, dass jene schon irgendwas bauen, damit zumindest die | |
| Neubauzahlen stimmen. | |
| Und bei der dringend nötigen Verwaltungsreform sind CDU und SPD auf die | |
| Zusammenarbeit mit anderen Parteien angewiesen, schließlich müssen die | |
| Bezirke eingebunden werden. Doch nachdem Schwarz-Rot bei der missglückten | |
| Kür von Kai Wegner gezeigt hat, wie instabil das Bündnis ist, dürfte der | |
| Konkurrenz weniger an einer Kooperation gelegen sein als vielmehr daran, | |
| der Koalition möglichst viel zu schaden: in der Hoffnung, in drei Jahren | |
| selbst umso glänzender dazustehen. [5][Angesichts der Zerrissenheit der | |
| SPD] ist das nicht unwahrscheinlich. | |
| ## Den Stillstand zelebriert | |
| Das alles erinnert fatal an jene fünf Jahre Rot-Schwarz nach 2011, als | |
| Klaus Wowereit aus Feigheit lieber mit der CDU als mit den Grünen regierte. | |
| In der Folge zementierte die Koalition den Stillstand; sie scheiterte | |
| daran, wichtige Probleme rechtzeitig anzugehen, allen voran die | |
| Wohnungsnot. Eine Art Mehltau legte sich über die Stadt. | |
| Eine „Zeitenwende“, wie sie von manchen herbeigeredet wird, muss man daher | |
| kaum fürchten. Eher weitere drei verlorene Jahre, in denen Berlin im | |
| Vergleich mit anderen Metropolen den Anschluss verliert. | |
| 29 Apr 2023 | |
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| Bert Schulz | |
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