# taz.de -- Streiken und Kleben: Fahrerflucht nach vorn | |
> Diese Woche wurde aus guten und schlechten Gründen gestreikt. Derjenige, | |
> der nach zwei verpatzten Wahlgängen hätte streiken sollen, hat's nicht | |
> getan. | |
Bild: Trucker sind die Gewinner dieser Woche | |
Das war knapp. Fast wäre diese Kolumne diese Woche ausgefallen. Denn es war | |
ja LKW-Streik. Endlich hatte ich auch mal einen Anlass, meine dienstlichen | |
Verpflichtungen ruhen zu lassen. Ich weiß zwar nicht, ob mein Namenskürzel | |
als Streikbegründung arbeitsrechtlich durchgehen würde. Auch der Verweis | |
darauf, dass ich als Student für die Firma Schlund & Ruppert Klopapier | |
ausgefahren habe, würde vermutlich als verjährt abgetan. Eine larmoyante | |
Klage über das taz-Gehalt zöge kaum, denn im Vergleich zu den georgischen | |
und usbekischen Langstreckenfahrern, die an einer Autobahn in Hessen gegen | |
ihre Ausbeutung durch eine polnische Spedition protestierten, geht es uns | |
bestens. | |
Aber am Ende ist alles glimpflich ausgegangen. [1][Die LKW-Fahrer erhielten | |
doch noch ihren Lohn], um den man sie betrügen wollte. Auch wenn das nur | |
geschah, um eine besonders lukrative Lieferung in die Schweiz zu sichern, | |
sind die Trucker die Gewinner dieser Woche. Sie bewiesen Mut, bekamen recht | |
und endlich mediales Interesse für ihre katastrophalen Jobbedingungen. Also | |
beendeten sie ihren Streik und ich natürlich auch. | |
Dafür gab es in [2][Berlin Blockaden auf den Straßen]. Und ich gebe zu: | |
Nicht nur als persönlich betroffener LKW bin ich von der Letzten Generation | |
genervt, die jetzt versucht, die Hauptstadt lahmzukleben, sosehr ich | |
versuche, diese Protestform zu verstehen. Wirklich. Aber ich begreife | |
einfach nicht, was die destruktive Behinderung von Autofahrern bringen | |
soll, die ja nicht nur Porsche-Fahrer beim Rasen ohne Tempolimit trifft, | |
sondern auch prekär bezahlte Berufstätige, Krankenwagen oder soccer moms | |
und dads, die ihre Kinder zum Auswärtsspiel in umliegende Dörfer bringen, | |
wohin nur einmal am Tag ein Bus fährt. Es scheint mir taktisch ungeschickt | |
zu sein, eine Mehrheit gegen sich aufzubringen, die man bei den nächsten | |
Wahlen eigentlich bräuchte, um klimapolitisch voranzukommen. | |
Aufmerksamkeit ist auch kein Selbstzweck. Dass es den Klimawandel gibt, | |
weiß inzwischen jedes Kind und jeder Opa. Nur wenige leugnen ihn noch. 80 | |
Prozent sind für mehr Klimaschutz. Nicht das Ziel ist strittig, sondern der | |
Weg, der möglichst gerecht gestaltet werden sollte. Wie kompliziert das | |
ist, zeigt sich beim geplanten Heizungsaustausch. Die Blockierenden | |
signalisieren mit ihren immer gleichen Klebemitteln jedoch vor allem: Ihr | |
checkt es nicht. Wir müssen euch nerven. Denn ihr seid zu blöd, die | |
Dringlichkeit der Klimakatastrophe zu kapieren. Das mag auch bei mir | |
zutreffen, aber eine Beleidigung ist selten ein guter Anfang für ein Erfolg | |
versprechendes Gespräch, das in einer Demokratie nötig wäre. Sie hilft eher | |
den fossilen Hardlinern, die mit vollkommen übertriebener Härte auf die | |
Proteste reagieren. | |
Wahrscheinlich ist alles auch ein Generationenproblem. Nicht so sehr wegen | |
des unterschiedlichen Lebensalters. Auch Großeltern sorgen sich über die | |
Zukunft ihrer Enkel. Aber ich zum Beispiel wurde nicht durch die | |
Klimakrise politisiert, sondern durch Pershing II, Tschernobyl und Gudrun | |
Pausewangs [3][Atomangstbücher]. Das sitzt tief. Offenbar auch bei den | |
Grünen. So tief, dass sie [4][den Atomausstieg trotz Energiekrise eisenhart | |
durchziehen] und lieber noch länger klimaschädliche Kohlekraftwerke laufen | |
lassen. | |
Immerhin gibt es jetzt das 49-Euro-Ticket. Aber leider noch kein | |
Tempolimit. Dabei wäre das inzwischen mehrheitsfähig, sozial und | |
seniorengerecht. Als älterer LKW kann und will ich beispielsweise sowieso | |
nicht allzu schnell fahren. Das will so richtig nur noch die FDP, die sich | |
neuerdings auch für die Straffreiheit von Fahrerflucht einsetzt. | |
Der neue Berliner Hänge- und Würgemeister Kai Wegner wäre zwischendurch | |
wahrscheinlich am liebsten auch geflohen. Spätestens nach dem zweiten | |
Wahlgang hätte er den Unfallort verlassen sollen. Die unklare Herkunft | |
seiner Stimmen im dritten Anlauf ist peinlich für die schwarz-[5][rote] | |
Koalition, aber auch für Grüne [6][und Linke], die plötzlich alles | |
nachplappern, was die AfD behauptet. Sicher weiß niemand, wer Wegner nun | |
gewählt hat. Ich kann nur schwören, auch im Namen des manchmal trotzigen | |
LKW: Ich nicht. | |
Nächste Woche: Hasnain Kazim | |
29 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Lukas Wallraff | |
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