# taz.de -- Kriminologe über verfehlte Polizeigewalt: „Das kommt leider imme… | |
> Polizeieinsätze bei Menschen mit psychischen Problemen enden öfter mit | |
> Todesfällen. Tobias Singelnstein über strukturelle Probleme bei der | |
> Polizei. | |
Bild: Gewaltbefugnis, die auch nach hinten losgehen kann: Ein Polizist zeigt se… | |
taz: Herr Singelnstein, Dagmar R. starb vor wenigen Wochen im Krankenhaus, | |
nachdem sie auf der Polizeistation Hamburg-Bergedorf [1][einen | |
Herzstillstand erlitten hatte]. Sie war dort wegen eines psychischen | |
Ausnahmezustands. Tode nach Polizeieinsätzen bei psychisch Kranken sind | |
kein Einzelfall, oder? | |
Tobias Singelnstein: Nein, das kommt leider [2][immer wieder mal vor]. | |
Insbesondere bei tödlichen Schusswaffeneinsätzen sind bei solchen Einsätzen | |
Menschen in psychischen Ausnahmezuständen in besonderer Weise betroffen. | |
[3][Juni 2020, Bremen-Gröpelingen]: Ein 54-Jähriger wird von der Polizei | |
erschossen. [4][Juni 2021: In Hamburg-Winterhude] feuert die Polizei sieben | |
Schüsse auf einen Mann ab. Beide Opfer befanden sich in einer psychischen | |
Notlage. Es ist wohl besser, in solchen Fällen nicht die Polizei zu rufen? | |
Das ist schwer zu sagen. Manchmal rufen Familienangehörige die Polizei, | |
weil sie in Sorge sind, sich nicht anders zu helfen wissen. Mitunter wird | |
die Polizei von BürgerInnen gerufen, die im öffentlichen Raum Menschen in | |
psychischen Ausnahmesituationen wahrnehmen, ihr Verhalten nicht einordnen | |
können. Die Polizei geht dann mit ihrer Perspektive und ihren Mitteln vor: | |
Sie betrachtet das Geschehen durch die Brille von Recht und Ordnung, | |
fokussiert auf Bedrohungslagen. Wie sensibel die BeamtInnen solche | |
Situation handhaben können, hängt dann sehr davon ab, welche sozialen | |
Fähigkeiten sie besitzen. | |
Die Polizei zielt also eher auf Kontrolle, weniger auf Hilfe? | |
Die meisten BeamtInnen würden sagen: Wenn jemand in einer psychischen | |
Notlage ist, gilt es, ihm zu helfen, ihn zu schützen. Andererseits ist das | |
Hauptaufgabengebiet der Polizei die Gefahrenabwehr, notfalls mit Gewalt. | |
Die BeamtInnen sind also darauf trainiert, Bedrohungslagen zu erkennen und | |
abzuwehren. Nun agieren Menschen in psychischen Ausnahmesituationen oft | |
atypisch. Das macht es mitunter schwer, zu erkennen, ob statt Zwang eher | |
Kommunikation und Deeskalation angezeigt sind. | |
In welcher Tiefe wird das Thema in der Ausbildung behandelt? | |
Einsätze mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sind nur ein | |
kleiner Teilbereich, und der wird bislang nicht allzu ausführlich gelehrt. | |
PolizistInnen werden immer nur in Ansätzen in der Lage sein, solche | |
Situationen richtig einzuschätzen. Wir können aus ihnen keine | |
psychologischen Fachkräfte machen. | |
Die Polizei darf Gewalt ausüben. Aber ab wann ist die rechtswidrig? | |
Sie darf Gewalt, als Ausnahmebefugnis, einsetzen, wenn polizeiliche | |
Maßnahmen auf andere Weise nicht durchgesetzt werden können, wenn es also | |
kein milderes Mittel gibt. | |
Aber das lässt sich danach ja leicht sagen: Es ging nicht anders oder wir | |
wurden bedroht. | |
Theoretisch und juristisch ist das sehr klar. Aber die Praxis ist natürlich | |
deutlich schwieriger, das sind ja komplexe soziale Interaktionen. Da lässt | |
sich oft nicht genau sagen, ab wann und bis wohin der Gewalteinsatz | |
zulässig ist. | |
Sie sagen, Grenzüberschreitungen und Missbräuche seien „Bestandteil des | |
polizeilichen Alltags“. Wie kann das sein? | |
Die Polizei ist eine sehr große Organisation. Sie setzt jeden Tag Gewalt | |
ein, hundertfach, vermutlich sogar tausendfach, um Maßnahmen durchzusetzen. | |
Und das funktioniert in der Praxis nicht so klar und sauber, wie das Gesetz | |
sich das vorstellt. Wenn wir wollen, dass Menschen zu Gewalt trainiert | |
werden, notfalls Gewalt einsetzen, zieht das möglicherweise auch Leute an, | |
die einen problematischen Umgang mit Gewalt haben. Oder die Praxis lässt | |
sie abstumpfen. Und dann kann es zu Grenzüberschreitungen und Missbrauch | |
kommen. Das ist die Ausnahme, aber es gehört zu einer Polizei mit | |
Gewaltbefugnis dazu. | |
Wie kann man dem entgegenwirken? | |
Mit einer stärkeren internen [5][Fehlerkultur]. Ein häufiges Problem bei | |
der Aufklärung ist die mangelnde Identifizierbarkeit der BeamtInnen. Viele | |
Betroffene sagen, dass sie keine Anzeige erstatten, weil sie die | |
Einsatzkräfte nicht identifizieren könnten. Außerdem wird externe, | |
unabhängige Kontrolle als Instrument diskutiert. Zwar gibt es teilweise | |
bereits unabhängige Polizeibeauftragte, aber deren Möglichkeiten sind | |
begrenzt. | |
Dass die Ermittlungen, wenn es zu Anzeigen kommt, von der Polizei selbst | |
durchgeführt werden, ist ein Problem? | |
Der [6][Interessenkonflikt liegt auf der Hand]. Nicht unbedingt, weil die | |
Ermittelnden bewusst privilegieren, Dinge unter dem Teppich halten, sondern | |
weil sie die Beschuldigten anders sehen als andere Beschuldigte, weil sie | |
ihnen kollegial verbunden sind. | |
Hinzu kommen Beweisprobleme? | |
Ja, wir sehen häufig Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen. Und die | |
betroffenen BeamtInnen haben ein Interesse daran, sich vor Strafverfolgung | |
zu schützen, wie andere Beschuldigte auch. Zudem gibt es in der Polizei | |
eine starke Binnenkultur, was auch als „[7][Cop Culture]“ bezeichnet wird. | |
Es herrscht ein starker sozialer Zusammenhalt. Das ist einerseits positiv | |
und funktional. Aber er hat auch eine negative Seite. Die macht die | |
Aufklärung oft schwer, wenn es zu Fehlverhalten kommt, weil man dann | |
KollegInnen belasten müsste, denen man sehr verbunden ist. Insgesamt | |
betrachtet muss man sagen, dass die Aufarbeitung dieser Fälle im Strafrecht | |
nicht besonders gut funktioniert. Zudem blickt das Strafrecht auf | |
individuelles Fehlverhalten und kann daher kaum strukturelle Probleme in | |
den Blick nehmen. | |
Und die liegen vor? | |
Man kann das Ganze natürlich immer als individuelles Fehlverhalten werten, | |
aber das wäre sehr verkürzt. Bei einer Berufsgruppe, die wir mit derlei | |
Befugnissen ausstatten, handeln wir uns das Problem rechtswidriger | |
Gewaltausübung automatisch ein, es ist also in der Struktur der Polizei | |
angelegt. | |
Warum hört man dann so wenig von ihr? | |
Die Anzeigebereitschaft in diesem Deliktbereich ist sehr gering. Der | |
absolute Großteil der Betroffenen entscheidet sich, keine Anzeige zu | |
erstatten. Viele haben das Gefühl, in einem solchen Verfahren keine Chance | |
zu haben, haben Angst vor [8][negativen Konsequenzen], gehen von einem | |
strukturellen Vorteil der Polizei aus oder haben Angst, dass ihnen nicht | |
geglaubt wird. | |
Ist das berechtigt? | |
Die Statistik zeigt, dass es nur in zwei Prozent der Verdachtsfälle zu | |
einer Anklageerhebung kommt. Die Erfolgsaussichten sind also sehr gering. | |
Wie reagiert die Polizei auf Ihre Kritik? | |
Sehr unterschiedlich. Wir führen zum einen viele gute Diskussionen. | |
Andererseits tut sich die Polizei leider oft auch schwer mit Kritik von | |
außen. Die Bereitschaft, Fehlverhalten und Probleme gegenüber der | |
Gesellschaft transparent zu behandeln, sind dann nicht sehr groß. Und die | |
Führungsebene fürchtet schnell ein [9][Imageproblem]. | |
18 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Tod-nach-Polizeigewahrsam-in-Hamburg/!5925002 | |
[2] /24-Todesfaelle-in-Gewahrsam/!5700481 | |
[3] /Polizist-erschiesst-psychisch-Kranken/!5691703 | |
[4] /Hamburger-Polizei-erschiesst-Libanesen/!5771680 | |
[5] /Dominanzkultur-bei-der-Polizei/!5754374 | |
[6] /Unabhaengige-Polizeibeschwerdestellen/!5911824 | |
[7] /Korpsgeist-in-Sicherheitsbehoerden/!5716251 | |
[8] /Umgang-der-Justiz-mit-Polizisten/!5895591 | |
[9] /Die-Polizei-und-ihr-Image/!5905401 | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
## TAGS | |
Polizeigewalt | |
Polizei | |
Polizisten | |
Psychische Erkrankungen | |
Hamburg | |
IG | |
Polizei | |
IG | |
Schwerpunkt Rassismus | |
psychische Gesundheit | |
Hamburg | |
Polizeigewalt | |
Polizei Hamburg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Studie zu Polizeigewalt: Weshalb Fälle ungeklärt bleiben | |
Noch immer gibt es kaum Zahlen zur Polizeigewalt. Ein Team um den | |
Kriminologen Singelnstein forschte dazu seit 2018 und legt nun einen | |
Bericht vor. | |
Polizeiforscherin über Gewalt im Einsatz: „Gewalttätig sind immer die ander… | |
Die Kulturanthropologin Stephanie Schmidt hat Polizist*innen bei ihrer | |
Arbeit begleitet. Ein Gespräch über Gewalt und gebügelte Uniformen. | |
Debatte über tödliche Polizeigewalt: „Ich kriege keine Luft!“ | |
Regelmäßig ersticken Menschen, weil sie von der Polizei bäuchlings auf dem | |
Boden liegend fixiert werden. KOP fordert ein Verbot dieser Praxis. | |
Vorwürfe gegen Polizei in Brandenburg: Wie starb Vitali N.? | |
In Königs Wusterhausen kommt ein Mann nach einem Polizeieinsatz ums Leben. | |
taz-Recherchen zeigen: An der Darstellung der Polizei gibt es Zweifel. | |
Tod nach Polizeigewahrsam in Hamburg: Was geschah auf der Wache? | |
Die psychisch kranke Dagmar R. starb nach einem Herzstillstand auf einer | |
Polizeiwache. Ihr Bruder fordert, dass der Fall aufgeklärt wird. | |
Überreaktion in Hamburg: Polizei misshandelt Taxifahrer | |
Beamte haben einem Taxifahrer Younes Shodjaedin Handschellen angelegt und | |
die Füße weggetreten. Anlass war eine simple Ordnungswidrigkeit. | |
Hamburger Polizei beschlagnahmt Plakate: Ermittlungen für rechten Kollegen | |
Die Hamburger Polizei beschlagnahmt Plakate, die auf einen rechtsextremen | |
Polizisten aufmerksam machen. Dieser war als COP4U an Schulen im Einsatz. |