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# taz.de -- Schichtenweise Militärgeschichte: Gespenster in Feldgrau
> Hohenlockstedt ist verstrickt in deutsch-finnische Militärgeschichte. Nur
> einer von deren Schauplätzen: das ehemalige Soldatenheim, der Högerbau.
Bild: Weltkrieg und Partykeller: Die Sanierung des Högerbaus bringt teils fins…
Kränze werden niedergelegt, an der [1][Gedenkstätte für die „Finnischen
Jäger“] wehen Fahnen, nicht wenige Gäste tragen Uniform. Es sind deutsche
und finnische Militärangehörige, manche noch aktiv, andere schon lange
nicht mehr. Jeweils Ende Februar, Anfang März wird im
schleswig-holsteinischen Hohenlockstedt der „Finnentag“ begangen. Der
erinnert an das Jahr 1915. Aber worum es genau geht, das ist plötzlich
wieder überraschend brisant: eine Art Entwicklungshilfe in Kriegszeiten –
gerichtet gegen Russland.
Dass das Örtchen im Kreis Steinburg einen militärischen Hintergrund hat,
zeigt sich an vielen Stellen. Zwar leben heute mehr als 6.000 Menschen
hier, aber es dem Ort mangelt es – neben einem Bahnanschluss – auf
merkwürdige Weise an einem Zentrum: Einen Wasserturm gibt es, aber keine
das Bild prägende Kirche, [2][keinen echten Marktplatz]; ein typisches
Straßendorf ist es aber auch nicht.
[3][Bis 1956] hieß der Ort noch „Lockstedter Lager“. Dabei hatte hier gar
keines jener Lager gestanden, an die die Nachkriegsdeutschen sich nicht so
gern erinnern. Ein Heereslager war man, und mal Preußens größter
Truppenübungsplatz. Nach 1870/71 waren französische Kriegsgefangene hier
untergebracht, die Wehrmacht kam und später die Bundeswehr: Bis 2004 diente
der Flugplatz „Hungriger Wolf“ den Heeresfliegern als Standort. [4][Heute
wird zivil geflogen], es finden Autoschauen statt, ein Technofestival.
## Umstrittene Schützenhilfe
Vor den „Finnischen Jägern“ nun mussten sich nicht Wolf oder Wildschwein in
Acht nehmen, sondern russische Soldaten: Ab 1915 bildete das deutsche
Militär Finnen an der Waffe aus. Unter konspirativen Bedingungen, denn
Finnland gehörte noch zum zaristischen Russland, einem Kriegsgegner der
Deutschen. Das dabei erworbene Know-how war elementar für die Gründung des
finnischen Staats und seine Verteidigung gegen den Nachbarn im Osten: Das
ist die vorherrschende Erzählung um den Finnentag; wie gemacht für Zeiten,
da im Osten ein Aggressor wütet, und [5][Finnland der Nato beitritt].
Dass es komplizierter war, berichtete jetzt Peter Lüttge vom
[6][Kulturzentrum Abramsgården] in Vörå: Nicht zuletzt kämpften die Jäger
nämlich 1918 im finnischen Bürgerkrieg aufseiten der „Weißen“ gegen die
„Roten“. Und mindestens einzelne finnische Offiziere nahmen im Zweiten
Weltkrieg am deutschen Russlandfeldzug teil. Der Gedenkstein für die Jäger
steht seit 1939, ausgerechnet.
[7][Lüttges Vortrag] war Teil des Begleitprogramms zum Tag der offenen Tür
[8][am Hohenlockstedter „Högerbau“]. Der war 1912 als Soldatenheim
errichtet worden. Mit Ende des Ersten Weltkriegs verlor der imposante
Backsteinbau diese Funktion, diente zeitweise als Kirche (mit Turm!), war
„Verzehrkino“ und Partyraum, es wohnten Menschen darin, eine Zahnarztpraxis
hatte hier ihren Sitz. Zuletzt als Getränkelager genutzt, kaufte die
Artur-Boskamp-Stiftung den Bau und lässt ihn seit 2019 sanieren.
Die Stiftung ist eng verbandelt mit dem Pharmakonzern Pohl-Boskamp, seit
1945 in Hohenlockstedt ansässig – ironischerweise verließ man den Berliner
Stammsitz wegen der vorrückenden Roten Armee. In Hohenlockstedt betreibt
sie die „M.1“, kurz für „Massivbaracke 1“, wieder so ein Hinweis auf d…
Geschichte; ein kuratierter Kunstort, [9][wo man ihn nicht erwarten würde].
Ein Art Gegen- oder besser: Ergänzungsprogramm zu all den Fahnen und
Uniformen: Neben mobiler Sauna, Fischbrötchen und Glühweinausschank bot man
nun einen halben Tag lang Führungen durch den Högerbau an: Für viele
Menschen im Ort schien das eine schöne Gelegenheit zu sein, ihn mal wieder
zu betreten – und die Veränderungen zu bestaunen.
## Sogar der Denkmalschutz bewegt sich
In dem zugigen, klammen Gebäude lassen sich die verschiedenen Nutzungen und
Altersschichten ablesen, teils sogar anfassen: Ahornparkett von vor über
100 Jahren und die Reste von 70er-Jahre-Partykeller-Deko an den Wänden;
aufdringliche Mustertapeten und schmucke Gründerzeitkacheln, die riesigen
einfach verglasten Fenster, das derzeit akribisch auf seinen Zustand
überprüft werdende tragende Gebälk, eine im Prinzip nie veränderte
Toilette, Spuren einer Kegelbahn.
Wo noch die Gespenster der Kriegslehrlinge spuken, soll der Ort ein neues
Zentrum bekommen: Barrierefrei und energetisch auf Stand wird das
denkmalgeschützte Gebäude saniert. Es darf sogar eine Solaranlage aufs
Dach, allerdings nur rote, nicht so effiziente Panels, und auch die nur so,
dass sie ja niemand sieht. Sachte [10][Zeichen denkmalschützerischen
Tauwetters], könnte man sagen, die Vorahnung einer Energiewende. Und die
hat ja auch was zu tun mit dem wütenden Aggressor da hinten im Osten.
22 Mar 2023
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Schleswig-Holstein,_Hohenlockstedt,_Ehr…
[2] https://www.hohenlockstedt.de/buergerservice-politik/wissenswertes-nuetzlic…
[3] https://www.spiegel.de/politik/georg-pahlke-a-99344731-0002-0001-0000-00002…
[4] /Archiv-Suche/!444917
[5] /Finnlands-Nato-Beitrittsplan/!5851982
[6] https://www.abrams.fi/en/
[7] https://www.m1-hohenlockstedt.de/hoegerbau/zur-geschichte-des-lockstedter-l…
[8] https://www.m1-hohenlockstedt.de/hoegerbau/
[9] /Irritierende-Kunst-in-der-Kleinststadt/!5844705
[10] /Streit-um-Solaranlagen-auf-Baudenkmaelern/!5850215
## AUTOREN
Alexander Diehl
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