Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Münchner Sicherheitskonferenz: Schlacht um Frieden
> Auf der Sicherheitskonferenz diskutieren Politiker über Auswege aus dem
> Ukrainekrieg – ohne Vertreter Russlands. Das erhält auf Demos
> Schützenhilfe.
Der Sound eines Herzschlags ist schon von Weitem zu hören. Im Stakkato,
monoton, einprägend. Der Blick richtet sich dann auf zerbombte Häuser,
Menschen, die aus dem Schutt gezogen werden, blutüberströmt. Unter einem
Berg zerschossener Hausfassade ragen zwei Kinderbeinchen mit türkisfarbenen
Turnschuhen an den Füßen hervor.
Die Collage ist Teil einer Ausstellung im Bayerischen Hof zu russischen
Kriegsverbrechen. Genau dort, wo von Freitag bis Sonntag die Münchner
Sicherheitskonferenz (MSC) tagte. Das Bild, das erzeugt werden soll, ist
klar: Pulsierendes Leben wurde und wird barbarisch ausgelöscht. Von Putin,
von der russischen Armee, in den vergangenen zwölf Monaten Krieg. Hunderte
Kriegsverbrechen, die von den ukrainischen Strafverfolgungsbehörden
untersucht und bestätigt wurden, wurden in der Ausstellung der [1][Victor
Pinchuk Foundation] auf einer Landkarte dokumentiert. Die schwer
erträglichen Fotos und Video zeigen die Gräueltaten.
„Wir wollen nicht schockieren, sondern die Realität abbilden“, sagt Ilona
Demchenko, Leiterin der Ausstellung. In [2][Davos beim
Weltwirtschaftsforum] wurde sie gezeigt, im EU-Parlament, in New York bei
der UN-Vollversammlung. Überall dort, wo politische Entscheider:innen
zusammenkommen, sagt Demchenko. So auch bei der Münchner
Sicherheitskonferenz. Am Sonntag verabschieden sich der amtierende
Vorsitzende der Konferenz [3][Christoph Heusgen] und sein Vorgänger
Wolfgang Ischinger persönlich von Demchenko und Oligarch und
Stiftungsgründer Victor Pinchuk.
Starke emotionale Bilder, Werben um Solidarität, um Durchhaltevermögen, den
langen Atem. Mit diesem Tenor eröffnete der ukrainische Präsident Wolodimir
Selenski am Freitagmittag die Münchner Sicherheitskonferenz. Eindringlich
appellierte er von Kyjiw aus an die in der bayerischen Landeshauptstadt
versammelten Staats- und Regierungschefs, die militärische Unterstützung
für die Ukraine zu verstärken. „Goliath darf keine Chance haben“, sagte e…
„Die Steinschleuder muss noch stärker werden, und zwar jetzt.“
## „Bessere Steinschleuder“
Putins Russland ist der Goliath, die Ukraine David – so das biblische Bild,
das sich durch die gesamte Rede Selenskis zog. Die Botschaft: „Wir müssen
Goliath besiegen!“ Und er ist tatsächlich zuversichtlich: „Der russische
Goliath hat bereits angefangen zu verlieren“ und werde „in jedem Fall in
diesem Jahr fallen. Wir können es schaffen.“ Zu einem Sieg der Ukraine gebe
es „keine Alternative“.
Ein Sieg, der für Selenski vor allem über starke militärische Unterstützung
der Verbündeten funktioniert. Dass die Waffenwunschliste der Ukraine gar
nicht oder nicht schnell erfüllt wird, wird in München mehr als deutlich.
Für Kanzler Olaf Scholz gelten bei den Waffenlieferungen die Grundsätze
„Sorgfalt vor Schnellschuss“ und „Zusammenhalt vor Solo-Vorstellung“.
Außerdem sei die Unterstützung „so anzulegen, dass wir sie lange
durchhalten“. Scholz räumte ein, dass der von den westlichen Staaten
eingeschlagene Weg durch „unkartiertes Gelände“ führe. Scholz’ Äußeru…
bewegten sich ganz auf der Linie des französischen Präsidenten Emmanuel
Macron, der unmittelbar nach ihm auf der Siko sprach. „Die Frage ist, wie
kann die Ukraine widerstehen?“ Auch Macron pocht auf eine dauerhafte
Unterstützung. Wie auch der britische Premierminister Rishi Sunak forderte
er, die Lieferung von Waffen zu intensivieren. Die ukrainischen
Streitkräfte müssten in die Lage versetzt werden, in die Gegenoffensive zu
kommen. Erst das eröffne die Möglichkeit für Verhandlungen – und zwar „zu
Bedingungen, die die Ukraine auswählt“.
Von diesem Ansatz hält ein Großteil der Demonstrant:innen am Samstag
gar nichts. Auf dem Königsplatz dröhnen Cat Stevens’ „Peace Train“, Mar…
Müller-Westernhagens „Freiheit“ und Nenas „99 Luftballons“ aus den Box…
Dazwischen wechselt sich eine Kuhglockenkapelle aus der Schweiz mit einer
bayerischen Trommeltruppe ab. An einem Stand gibt es Warnwesten mit der
Aufschrift „Nein zur Impfpflicht“ und „Nehmt die Masken ab!“-Aufkleber.
Während im Bayerischen Hof US-Vizepräsidentin Kamala Harris Russland
vorwirft, in der Ukraine „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu begehen,
sammeln sich zeitgleich einen Fußweg von rund 15 Minuten entfernt
„Friedensfreund:innen“ ganz eigener Provenienz: ein Bündnis von Gruppen aus
der Coronaleugner:innen- und der sogenannten Querdenken-Szene, die für sich
inzwischen den Ukrainekrieg zum neuen Aktionsfeld auserkoren haben.
## „Ami go home“
Klassizistisch umrahmt von der Glyptothek im Norden und der Antikensammlung
im Süden wehen Weiße-Taube-auf-blauem-Hintergrund-Friedens- neben
Deutschlandfahnen. Nicht wenige Russlandfahnen sind ebenfalls zu sehen,
ebenso „Ami go Home“-Transparente des Rechtsaußenmagazins Compact. Rund
10.000 Menschen sind gekommen, um sich die Reden des
Ex-Linken-Parlamentariers und Musikmillionärs Diether Dehm sowie des
früheren CDU-Bundestagsabgeordneten und heutigen Kleinstparteigründers
Jürgen Todenhöfer anzuhören.
Die Bühne, die vor den Propyläen aufgebaut ist, ziert ein Banner mit der
Aufschrift „Macht Frieden!“. An wen sich das richtet, daran lassen sowohl
Todenhöfer als auch Dehm keinen Zweifel: nicht an Russland. Für beide, wie
auch für alle anderen auf dem Platz, ist klar, wer für den Ukrainekrieg
eigentlich verantwortlich ist: die Nato im Allgemeinen und die USA im
Besonderen, deren Vasall Deutschland sei. Das Pentagon habe, so verkündet
Dehm, den Krieg „auf dem Rücken Europas“ mit Hilfe von „ukrainischen
Killerbanden mit SS-Symbolen“ vorbereitet.
Dehm gehört zum minoritären Wagenknecht-Lager in der Linkspartei, gegen ihn
läuft ein Parteiausschlussverfahren. Hier in München wird er umjubelt. Das
liegt auch daran, dass er nicht nur Putin verteidigt, sondern
zielgruppenorientiert ebenso „die Freiheit, alternative Meinungen zu den
Coronadiktaten zu sagen“. Nachdem er dazu aufgerufen hat, am kommenden
Samstag zur Wagenknecht-Schwarzer-Demonstration vor dem Brandenburger Tor
zu kommen, fordert Dehm am Ende seiner Rede dazu auf, gemeinsam sein
neuestes Lied zu singen – und aus tausenden Kehlen erklingt: „Ami, go
home“. Das ist das, was alle hier verbindet.
Anders als Dehm lässt der nachfolgende Todenhöfer, der zu den
Erstunterzeichner:innen des Schwarzer-Wagenknecht-Manifests gehört,
immerhin nicht unerwähnt, wer wen angegriffen hat. Einen knappen Satz in
seiner fast 40-minütigen Rede verliert er dazu: „Wir sind ganz
selbstverständlich gegen den Krieg Russlands gegen die Ukraine“, sagt er –
um direkt hinzuzufügen: „Aber wir sind auch gegen diejenigen, die diesen
Krieg bewusst provoziert haben.“ Und damit es auch jede:r versteht: „Der
Westen wollte diesen Krieg.“ Es ginge nur darum, „Russland fertigzumachen�…
Auf Putin lässt hier niemand etwas kommen.
„Es ist ein sehr guter Auftakt für den Friedensfrühling in Deutschland“,
schwärmt Compact-Chefredakteur Jürgen Elsässer in eine Kamera. Elsässer
hatte zuvor bereits an einer AfD-Demo mit knapp 300 Teilnehmer:innen
auf dem nahegelegenen Karl-Stützel-Platz teilgenommen. Nun freut er sich,
dass er und seine extrem rechten Kamerad:innen auch auf dem Königsplatz
gern gesehen sind. Schließlich verstehen sich die Versammelten als
„lagerübergreifend“, wie einer Veranstalter von der Bühne herab verkünde…
Parallel zum „Querdenken“-Event haben sich auf dem Odeonsplatz Menschen
versammelt, die nur Empörung für solche Töne übrig haben: Ukrainer:innen
und deren Unterstützer:innen, die gegen Putins Angriffskrieg
protestieren. Der Platz vor der Feldherrnhalle ist geschickt gewählt, liegt
er doch unmittelbar neben dem internationalen Pressezentrum der MSC. Etwa
1.500 Menschen sind gekommen, die meisten mit Fahnen, Tüchern oder Mützen
in den ukrainischen Landesfarben Blau-Gelb. Mit dabei sind auch mehrere
Bundestagsabgeordnete: die Grünen Anton Hofreiter und Jamila Schäfer, die
FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sowie Roderich Kiesewetter
und Florian Hahn von der Union.
Zu Beginn der Kundgebung wird gemeinsam die ukrainische Nationalhymne
gesungen. Etliche Kinder halten Schilder mit der Aufschrift „Arm Ukraine
Now“ in die Höhe. „Ukrainische Armee + deutsche Waffen = Sieg für Ukraine…
ist auf Plakaten zu lesen. Ein ukrainischer Abgeordneter heizt mit
„Freedom, Freedom, Freedom“-Rufen die Menge an – um schließlich damit zu
enden: „Putin ist ein Killer. Er wird seinen Preis bezahlen.“ Jubel folgt
aus der Menge. Wer mit einzelnen Teilnehmer:innen spricht, bekommt auch
immer wieder die bange Frage gestellt: Wie lange wird die Unterstützung des
Westens andauern, wenn der Krieg noch lange, möglicherweise mehrere Jahre
dauert? „Ihr werdet bald vergessen, dass in der Ukraine Frauen
vergewaltigt, Menschen gefoltert oder Kinder verschleppt werden“, sagte
eine Frau mit dem traditionellen kranzförmigen ukrainischen Blumenschmuck
auf dem Kopf.
Die ersten Redebeiträge sind gerade vorbei, als es auf einmal hitzig wird.
Direkt an der Ukraine-Soli-Demo leitet die Polizei die traditionelle
Anti-Siko-Demonstration des „Aktionsbündnisses gegen die
Nato-Sicherheitskonferenz“ vorbei. Der Zug ist ein Sammelsurium der linken
und friedensbewegten Szene. Pax Christi ist dabei, Aktivist:innen für
ein freies Kurdistan, Gewerkschaften, Mitglieder der Linkspartei natürlich,
feministische und antifaschistische Organisationen unterschiedlichster
Colour. Was sie eint, ist ihre Ablehnung der Nato, sie sind per se gegen
Waffenlieferungen, fordern Frieden jetzt und sofort – und vor allem
Verhandlungen.
Die Pro-Ukraine-Aktivist:innen sind zahlenmäßig deutlich weniger, dafür
umso lauter. „Lumpenpazifisten, geht zum Putin“ und „Ihr unterstützt
Terroristen“, dröhnt es wütend den linken Gruppen entgegen.
Faschistenfreunde nennen sie sie. Aber auch die linken Demonstrant:innen
zeigen ihre Wut. So kommt mitten aus dem Demo-Zug ein Mann mit
Schiebermütze auf eine junge Frau zugerannt, die sich am Straßenrand mit
einer ukrainischen Flagge in die Sonne gestellt hat. „USA ist Nato. Nato
ist Krieg“, schreit er die Frau an. „Wir wollen leben“, sagt sie. Dann
reckt er drohend die Faust und verschwindet in der Menge des
Protestmarsches.
Beide Seiten wollen Frieden. Doch was das konkret bedeutet, dazwischen
stehen nicht nur Absperrgitter und Polizist:innen, sondern Welten. Die
Ukrainer:innen und ihre Unterstützer:innen fordern mehr und
schwerere Waffen, hoffen auf einen Sieg über Russland. Und die anderen?
„Verhandlungen und humanitäre Hilfe“, sagt eine Lehrerin, die ihren Namen
nicht nennen will. Auf der Anti-Siko-Demo trägt sie ein Schild mit einer
Friedenstaube um den Hals, in der Hand hält sie eine Pace-Flagge. Auf die
Bemerkung, dass es humanitäre Hilfe doch gebe und das Problem mit
Verhandlungen sei, dass Putin diese nicht wolle, entgegnet sie, dass man
davon ja gar nichts hören würde. „Es geht hier doch nur um Waffen, mehr
nicht.“
## Wiederaufbau
Um für genau diese andere Hilfe zu werben, ist Lena Koszarny nach München
gekommen. Während Scholz und Macron das Publikum auf Solidarität mit der
Ukraine – vor allem militärisch – einschwören, sitzt sie gegenüber dem
Bayerischen Hof und wirbt für ihr Unternehmen, eine
Privat-Equity-Gesellschaft, die in ukrainische Technologieunternehmen
investiert. Seit der Krieg in ihrem Land tobt, schrecken Investoren zurück.
„Dabei brauchen wir auch wirtschaftliche Stabilität, um gegen Russland zu
bestehen“, sagt Koszarny. Militärische Hilfe allein wird die Ukraine nicht
wieder aufbauen. Sie warnt vor einem „brain drain“, einem Verlust von gut
ausgebildeten Arbeitskräften. Und davor, dass mit dem Wiederaufbau ihres
Landes nicht bis zum Ende des Krieges gewartet werden kann. „Wir brauchen
Risikogarantien“, sagt Koszarny. Damit meint sie „Werkzeuge“, die
Investoren animieren sollen zu investieren und ihnen die Angst vor
finanziellen Verlusten nehmen.
Die Privatwirtschaft spiele eine entscheidende Rolle beim Thema
Wiederaufbau, sagt sie und hofft, dass die deutsche Bundesregierung und
dort das Entwicklungsministerium sich für solche Garantien einsetzen. Auch
Andriy Vadatursky, Chef von Nibulon, einem der größten ukrainischen
Getreidehersteller und -exporteure, fordert eine solche Risikominimierung.
Die Ukraine könne Ernährungssicherheit global gewähren, wenn man
Unternehmen wie seines nicht allein lasse. Und: Russland hätte kein
Interesse daran, diese Aufgabe zu übernehmen. „Niemand weiß, wie viel Zeit
wir noch haben“, sagt Vadatursky. Was er aber weiß, ist, dass es bei den
Getreideexporten zu deutlichen Einbrüchen kommen wird, wenn der Krieg noch
sehr lange andauert. Für die Ernten 2024 und 2025 hat er keine gute
Prognose.
Von solchen Überlegungen scheint es, wollen die Demonstrant:innen
nichts wissen. Der Protestzug der Anti-Siko-Demo ist mittlerweile am
Marienplatz angekommen. Auf der Bühne vor dem Neuen Rathaus steht Claus
Schreer vor einem Banner mit der Aufschrift „Verhandeln statt schießen!“.
Der mittlerweile 84-Jährige ist so etwas wie eine Institution der
Friedensbewegung. Bereits als junger Kriegsdienstverweigerer war er beim
ersten Münchner Ostermarsch 1961 dabei, seit 2002 organisiert er die
Demonstration gegen das Spektakel im Bayerischen Hof. „Krieg darf kein
Mittel sein“, sagt Schreer. Er fordert einen sofortigen Waffenstillstand,
das Ende aller Waffenlieferungen, Schluss mit der Aufrüstung der Nato und
die Rückkehr zu internationaler Zusammenarbeit.
Knapp 3.000 Menschen haben sich auf dem Marienplatz versammelt – deutlich
weniger als bei der „Querdenken“-Demo. Für eine Antwort auf die Frage, wie
er das findet, bleibt Schreer an diesem Tag keine Zeit. „Furchtbar“ sei
das, sagen andere Anti-Siko-Leute. Das einzige Positive: „Zum Glück sind
die ja nicht hier.“
Dann betritt die Hauptrednerin die Bühne: Sevim Dağdelen. Die
Linken-Bundestagsabgeordnete, die wie Dehm zum Wagenknecht-Lager zählt,
sprach auch bereits auf der Anti-Siko-Demo im vergangenen Jahr. Vor einem
Transparent mit der Aufschrift „Stoppt den Kriegskurs der Nato-Staaten!“
bezichtigte sie damals die USA, mit ihrer Warnung vor einem russischen
Einmarsch in die Ukraine eine „Lügenkampagne der CIA“ zu verbreiten. Und
von der Ukraine forderte sie, endlich ihre „Provokationen“ zu beenden. Das
war fünf Tage vor dem russischen Überfall.
An ihrer Weltsicht hat sich auch fast ein Jahr nach Kriegsbeginn nichts
geändert. Die Sicherheitskonferenz ist für sie bloß eine „Kriegskonferenz�…
der Ukrainekrieg ein Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland. In
Wahrheit gehe es ja gar nicht um die Freiheit der Ukraine, sondern um das
Befördern deren autokratisch-nationalistischen Kampfes gegen Russland.
Kritische Töne Richtung Putin hat sie nicht. Dafür geht Dağdelen die
Bundesregierung mächtig an, insbesondere die grüne Außenministerin Annalena
Baerbock. Sie und andere hätten gar kein Interesse daran, den Krieg zu
beenden, sondern „die gelangweilte Bourgeoisie hat Sehnsucht nach der
Apokalypse“. Es sind Sprüche, die ankommen. Die Demonstrant:innen –
viele mit „Stop Ceta“-Buttons, mit Pace-Schals, Kirchentag und Ostermarsch
erprobt, klatschen begeistert, rufen „Bravo, bravo“. Und selbstverständlich
ruft Dağdelen zur Wagenknecht-Schwarzer-Demo am nächsten Samstag auf.
Nicht ungenutzt lässt sie auch die Steilvorlage, die ihr der ukrainische
Vizeregierungschef Olexander Kubrakow tags zuvor 500 Meter entfernt im
Bayerischen Hof geliefert hat. [4][Kubrakow hatte am Freitagabend von den
westlichen Verbündeten die Lieferung von Streumunition und
Phosphor-Brandwaffen ins Spiel gebracht.] Wie Russland wolle auch sein Land
diese „Art von Kampfmitteln“ nutzen, sagte er. „Warum können wir sie nic…
nutzen? Es ist unser Staatsgebiet“, sagte er.
Kubrakows völkerrechtlich hochproblematische Forderung hat auf der Siko für
einige Irritationen gesorgt. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erteilte
ihr umgehend eine Absage: „Wir liefern Artillerie und andere Arten von
Waffen, aber keine Streubomben“, sagte er. Auch Baerbock ließ an ihrer
Ablehnung keinen Zweifel. Doch während die Außenministerin am Samstag auf
Nachfrage eindeutig auf das Völkerrecht verweist, suggeriert Dağdelen vor
den Anti-Siko-Demonstrant:innen, dass die Bundesregierung zur Verteidigung
der Ukraine zu allem bereit wäre. Im Publikum wird die Nachricht von der
Streumunition-Forderung aufgefasst wie ein Offenbarungseid der Ampel. Denn
sie entspricht nur allzu perfekt ihren Vorstellungen einer vermeintlichen
„Kriegstreiberkoalition“.
Dem Auftreten der Bundesregierung auf der Siko entspricht das nicht. So
vermied Kanzler Olaf Scholz bei seinem Auftritt am Freitag jedes unpassende
Säbelrasseln. „Wir tun gut daran, alle Konsequenzen unseres Handels
sorgfältig abzuwägen und alle wichtigen Schritte eng abzustimmen unter
Bündnispartnern“, sagte er. Zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland
dürfe es keinesfalls kommen. „Die Balance zwischen bestmöglicher
Unterstützung der Ukraine und der Vermeidung einer ungewollten Eskalation
werden wir auch weiterhin wahren“, versprach der Kanzler.
Mit Blick auf die bundesdeutsche Bevölkerung sagte Scholz, er verstehe,
„wenn einige bei uns in Deutschland Sorgen haben und unsere Entscheidungen
hinterfragen“. Aber die Waffenlieferungen an die Ukraine würden nicht den
Krieg in der Ukraine verlängern, sondern dienten dem Gegenteil: „Je früher
Präsident Putin einsieht, dass er sein imperialistisches Ziel nicht
erreicht, desto größer ist die Chance auf ein baldiges Kriegsende, auf
Rückzug russischer Eroberungstruppen“, sagte Scholz.
Frankreichs Präsident Macron unterstützt den Kurs. Aber: Er rief auch dazu
auf, in die Zukunft zu schauen: „Bereiten wir auch den Frieden vor“, sagte
er. „Keiner von uns wird die Geografie von Russland verändern, es wird
immer auf europäischem Boden liegen.“ Er glaube nicht an einen
Regimewechsel in Moskau. Das bedeute, es werde „keinen dauerhaften und
vollständigen Frieden auf unserem Kontinent geben, wenn es uns nicht
gelingt, uns der Frage Russlands zu stellen, mit klarem Verstand und ohne
jede Selbstgefälligkeit.“
Aber von dem, was auf der Siko besprochen wird, bekommen die
Anti-Siko-Aktivist:innen nur wenig mit. So ist es bei ihnen kein Thema,
dass Chinas oberster Außenpolitiker Wang Yi kurz vor Beginn ihrer Demo am
Samstagmittag einen Friedensplan seines Landes angekündigt hat. „Wir werden
etwas vorlegen, und zwar die chinesische Position zur politischen Beilegung
der Ukraine-Krise“, sagte Wang Yi. „Wir werden auf der Seite des Friedens
und des Dialoges standfest stehen.“ Was das konkret bedeutet, blieb
allerdings offen. Gleichwohl begrüßte die deutsche Außenministerin Baerbock
erst einmal die Initiative. Es sei gut, wenn China „eine Verantwortung
sieht, für den Weltfrieden einzustehen“, sagte sie. „Wenn man das ganze
Jahr für Frieden arbeitet, muss man jede Chance auf Frieden nutzen.“
Nach fast fünf Stunden neigt sich die Anti-Siko-Kundgebung dem Ende zu.
Geklebte Friedenstauben liegen am Boden, die Pace-Flaggen werden
eingerollt. Die Ukrainer:innen und ihre Unterstützer:innen dagegen
feiern sich geradezu am Odeonsplatz. Von schlechter Stimmung ist nichts
spüren. Eher von starkem Zusammenhalt in furchtbaren Zeiten.
Diesen Eindruck will auch Demchenko den Besucher:innen ihrer
Ausstellung mitgeben. Neben der Collage mit den Terrorbildern läuft ein
weiteres Video in der Ausstellung im Bayerischen Hof: Zwei Kinder, Bruder
und Schwester, laufen Anfang Januar durch das befreite Cherson. Das Mädchen
hüpft über den Gehweg. „Wer die Ukraine nicht liebt, soll zur Hölle
fahren“, singen beide. Wie lange der Krieg noch dauern wird, dafür hat auch
Ausstellungsleiterin Demchenko keine Prognose. Aber: „Wir haben Hoffnung“,
sagt sie.
19 Feb 2023
## LINKS
[1] https://pinchukfund.org/en/
[2] /Weltwirtschaftsforum-in-Davos/!5906137
[3] /Sicherheitskonferenz-Chef-ueber-Ukraine/!5912828
[4] /Muenchner-Sicherheitskonferenz/!5916886
## AUTOREN
Tanja Tricarico
Pascal Beucker
## TAGS
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Annalena Baerbock
Russland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Wladimir Putin
Ukraine-Konflikt
Olaf Scholz
Emmanuel Macron
Yanis Varoufakis
Großbritannien
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Sahra Wagenknecht
Thüringen
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Sahra Wagenknecht
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Sicherheitskonferenz
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
wochentaz
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
München streicht Zuschüsse: Kein Geld für Friedenskonferenz
Die Münchner Friedenskonferenz ist der Stachel im Fleisch der
Sicherheitskonferenz. Doch künftig soll sie ohne Zuschüsse der Stadt
stattfinden.
Großbritanniens Bündnisdiplomatie: Im Westen was Neues
Rishi Sunak beweist mit dem Verteidigungsbündnis AUKUS, dass er global
denkt. Deutschland hat in dieser Hinsicht einiges an Aufholarbeit zu
leisten.
Kollaboration mit Russen in der Ukraine: Stechender Schmerz
Auch nach der Befreiung gibt es in der Ukraine viele Menschen, die für die
russische Armee sind. Die Ärztin Natalja aus der Region Charkiw mag das
nicht hinnehmen.
Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Konkurrenz um humanitäre Hilfe
11,9 Milliarden Euro bekam die Ukraine 2022 für humanitäre Hilfe. Noch
wurde bei anderen Ländern nicht gekürzt, doch die Sorge ist groß.
Kundgebung „Aufstand für Frieden“: Lasst mich bloß in Frieden
Mehrere zehntausend Menschen sind dem Aufruf von Schwarzer und Wagenknecht
gefolgt. Friedensbewegte vereinigen sich mit der Querdenken-Szene.
Halle für „Aschermittwoch“ überlassen: Stadt lässt Rechtsextreme feiern
Das Thüringer Ronneburg überlässt Rechtsradikalen eine städtische Halle für
eine Aschermittwochsfeier. Der Landesinnenminister ist entsetzt.
Friedensdemos am Wochenende: Rechtsaußen bleibt draußen
Am Wochenende finden zahlreiche Demos gegen den Ukrainekrieg statt. Bei
manchen mischen Rechte mit. Doch viele Veranstalter grenzen sich klar ab.
Rechte suchen Nähe zu Wagenknecht: Sehnsucht nach der Querfront
Der Aufruf zur Friedenskundgebung von Wagenknecht zieht auch Rechtsextreme
an. Sie hoffen auf einen Schulterschluss mit linken Kräften – mal wieder.
Chinas Friedensplan für die Ukraine: Zweifelhafter Vermittler
China fährt im Ukrainekrieg eine Doppelstrategie: loyal zu Russland, keine
direkte Einmischung. Die USA glauben, dass Peking bald Waffen liefern
könnte.
Iran bei der Münchner Sicherheitskonferenz: Exil-Opposition nicht vergessen
Auf der Münchener Sicherheitskonferenz waren Kritiker*innen des Irans
vertreten. Zeit für Gespräche hatte die deutsche Regierung nicht. Ein
Fehler?
+++ Nachrichten im Ukrainekrieg +++: Biden besucht Kyjiw
US-Präsident Biden besucht auf dem Weg nach Warschau Selenski in Kyjiw. Die
EU-Außenminister planen das zehnte Sanktionspaket gegen den Aggressor.
Repression in Russland: Des Menschseins beraubt
Russlands Repressionsapparat nimmt den Menschen die Empathie. Anteilnahme
für die ukrainischen Opfer zeigt sich nur im Kleinen.
Krieg in der Ukraine: Im Jahr eins der Zeitenwende
Die Welt kann im Kampf gegen Russland nicht einlenken. Auf der
Sicherheitskonferenz geht es darum, möglichst wenig Fehler zu machen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.