# taz.de -- Prozess gegen Neuköllner Neonazis: „Es bleiben viele Fragen“ | |
> Vor dem zweiten Urteil im Neukölln-Prozess beklagt Bianca Klose, Leiterin | |
> der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, Versäumnisse der Justiz. | |
Bild: Prozessauftakt zur rechtsextremen Anschlägen in Neukölln im August 2022 | |
taz: Frau Klose, am 7. Februar soll das Urteil gegen den Neuköllner Neonazi | |
Sebastian T. fallen, der sich vor dem Amtsgericht Tiergarten u. a. für | |
seine Beteiligung an zwei Brandanschlägen auf Autos politischer Gegner | |
verantworten muss. Sein Komplize Tilo P. wurde im Dezember [1][aus Mangel | |
an Beweisen für eben jene Taten freigesprochen] und nur zu einer Geldstrafe | |
wegen einiger Propagandadelikte verurteilt. Erwarten Sie das jetzt auch für | |
T.? | |
Bianca Klose: Für Sebastian T. sieht es insgesamt deutlich schlechter aus | |
als für Tilo P. Zwar stützt sich auch bei ihm die Anklage zu den | |
Brandstiftungen vor allem auf Indizien, die Beweise zu den anderen | |
angeklagten Taten könnten aber für eine Verurteilung reichen. Neben | |
Propagandadelikten geht es dabei um Sozialleistungs- und | |
Coronahilfenbetrug. Zusammen mit seinen Vorstrafen ist eine erneute | |
Haftstrafe durchaus möglich. Es ist aber damit zu rechnen, dass er gegen | |
das Urteil erst mal in die nächste Instanz zieht. | |
Am Tatort der Brandstiftungen gab es keine direkten Spuren der Täter, keine | |
Überwachungsaufnahmen, keine Zeugen. Ist der Freispruch in diesem | |
Anklagepunkt – im Zweifel für die Angeklagten – folgerichtig? | |
Der Prozess hat gezeigt, dass die früheren Versäumnisse bei den | |
Ermittlungen sich nicht nachträglich aufholen lassen. Zusammenhänge wurden | |
nicht untersucht oder gar nicht erst gesehen. So wurde bekanntlich der | |
Seriencharakter der Taten durch die Staatsanwaltschaft viel zu spät | |
erkannt, und die Fälle wurden lange Zeit in unterschiedlichen Abteilungen | |
bearbeitet. Das Resultat zeigte sich nun in der Beweisaufnahme. Zu den | |
wenigen Taten aus der Angriffsserie, die überhaupt zur Anklage gebracht | |
wurden, lagen lediglich Indizien vor. | |
Generalstaatsanwältin Margarete Koppers hat von einem „enttäuschenden | |
Urteil“ gegen Tilo P. gesprochen. Das Gericht sei nicht genug in die Tiefe | |
gegangen und habe nicht ausreichend zugehört. Teilen Sie die Kritik? | |
In der Tat! In der Verhandlung hat die Richterin deutlich gemacht, dass | |
verschiedene offene Fragen im Strafprozess für sie keine Rolle spielen, | |
dies sei Aufgabe des parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Dieser | |
ersetzt aber keine juristische Aufarbeitung, nur weil er sich mit der | |
gleichen Straftatenserie befasst. Zumal dessen Arbeit durch den Prozess | |
ausgebremst wird, da das Verfahren als Begründung herhalten muss, dass | |
keine Akten geliefert werden. Es wurde nicht versucht, die offene Frage | |
nach weiteren, nicht angeklagten Beteiligten zu beantworten. Mit wem hat | |
Sebastian T. die umfangreichen Feindeslisten zusammengetragen? Der Kreis | |
seiner langjährigen politischen Weggefährten, die für diese Vorarbeit zur | |
Angriffsserie in Frage kommen, ist ja überschaubar. | |
Die Neuköllner Angriffsserie umfasst 150 Straftaten seit 2009. Angeklagt | |
waren zunächst 5 Neonazis, doch 3 Verfahren wurden schnell abgetrennt. | |
Welche Versäumnisse gibt es beim Aufklären des Netzwerkes? | |
Oliver W., einer der drei ursprünglich Mitangeklagten soll auf einem Video | |
mit Sebastian T. beim Anbringen von Drohparolen am Haus eines | |
Antifaschisten zu sehen sein. Er wurde durch das LKA identifiziert, wenn | |
auch mit zweijähriger Verzögerung. Angeklagt wurde der einschlägig | |
vorbestrafte Neonazi dafür jedoch nicht, sondern lediglich für andere Fälle | |
von Sachbeschädigungen. Nach der Abtrennung wurde sein Verfahren mit einem | |
Strafbefehl sang- und klanglos beendet. Der Nebenklage von Ferat Kocak | |
wurde so die Möglichkeit genommen, das zu thematisieren und die Aufklärung | |
wurde verhindert. Auch ist unklar, warum der Neonazi Björn W., der für | |
Sebastian T. Unterlagen über Hunderte politische Gegner:innen | |
aufbewahrte, nicht als Zeuge gehört wurde. | |
Hat die Richterin das Verfahren entpolitisiert? | |
Grundsätzlich konnten wir eine starke Engführung auf die konkreten | |
Tathandlungen von zwei der ursprünglich fünf Angeklagten feststellen. Das | |
zwischen 2005 und 2012 existierende Netzwerk „Nationaler Widerstand | |
Berlin“, in dem der Modus Operandi der späteren Angriffsserie entstand, | |
spielte ebenso wenig eine Rolle wie die Folgen von behördlichen | |
Fehleinschätzungen und Unterlassungen. Versuche der Nebenklage, mithilfe | |
von Anträgen diese begrenzte Sichtweise zu durchbrechen, wurden vom Gericht | |
abgebügelt. Ebenfalls schlug sich im Prozess nicht nieder, dass die bei | |
Sebastian T. gefundenen Feindeslisten für die strafrechtliche Aufarbeitung | |
relevant sind. | |
Inwiefern? | |
Drei von vier bekannten, [2][über Jahrzehnte konspirativ geführte | |
Feindeslisten], die in Verbindung zur Angriffsserie stehen, werden | |
Sebastian T. zugeordnet. Bei einer Hausdurchsuchung im Februar 2018 wurde | |
beispielsweise ein Datenträger sichergestellt, auf dem sich ergänzte und | |
aktualisierte Datensätze zu mehr als 500 Personen befanden – alles | |
Personen, die von den Rechtsextremen als politische Gegner_innen eingestuft | |
werden – als „Antifa“, „Politiker“, „Presse“, aber auch „Polize… | |
Teilweise sind das regelrechte Personendossiers aus angefertigten Fotos und | |
Informationen, die mutmaßlich aus Observationen stammen, aber auch aus | |
öffentlich zugänglichen Quellen. Wir wissen von mindestens 13 Betroffenen | |
der Angriffsserie, deren Daten sich auf diesen Listen befanden. Regelmäßig | |
sind solche Datensammlungen eine Vorbereitungshandlung für Straftaten. Sie | |
sind Teil einer Strategie – und eben kein nerdiges Hobby von militanten | |
Neonazis. Das hat auch der Gesetzgeber mittlerweile erkannt, der mit seinem | |
2021 erlassenen Feindeslistengesetz der Zivilgesellschaft recht gibt. | |
Womöglich sind Personendaten von der Polizei an die Neonazis gelangt. Ein | |
Betroffener eines rechten Anschlags hat das vorgetragen – das Gericht aber | |
hat nicht reagiert. Was ist hinsichtlich dieser Vorwürfe bekannt? | |
Der Zeuge vermutete, dass die Täter zumindest indirekt durch Polizisten von | |
seiner Adresse erfuhren. Denn ohne ersichtliche Grundlage wurde sein Name | |
samt Adresse durch das Berliner LKA in ein Ermittlungsverfahren | |
eingebracht, in dem ein Berliner Neonazi-Musiker über seinen Anwalt | |
Akteneinsicht genommen hatte. Zudem war der Zeuge Betroffener eines | |
Drohbriefs, der von einem ehemaligen Staatsschützer aus dem Dezernat für | |
Linksextremismus stammte. Dieser hatte Drohbriefe mit Informationen aus | |
Polizeibeständen an verschiedene linke Projekte versandt. Bei einem anderen | |
mehrfach Betroffenen, der als Zeuge aussagte, wurden Abfragen in | |
polizeilichen Datenbanken durch die Datenschutzbehörde beanstandet. Diese | |
Abfragen gab es, nachdem er nach einem ersten Angriff umgezogen war. Kurz | |
darauf erfolgte eine neue Attacke. Das Gericht hätte der Frage nachgehen | |
müssen, wie die Neonazis auf bestimmte Personen aufmerksam wurden und an | |
die Adressen der Betroffenen kamen. Ebenso bräuchte es eine viel besser | |
ausgestattete Datenschutzbehörde. | |
Kann der seit Mai arbeitende Untersuchungsausschuss Neukölln hier noch für | |
Aufklärung sorgen? | |
Die Zeichen für Aufklärung stehen schlecht. Der Prozess hat die Möglichkeit | |
zur – zumindest teilweisen – Aufklärung ungenutzt gelassen. Das erhöht die | |
Erwartungen an den Ausschuss. Bis heute wurde dort aber kein einziger | |
Behördenvertreter vernommen, und bislang wurde dem Ausschuss ein Großteil | |
der Akten vorenthalten – so ist keine wirkliche Aufklärungsarbeit möglich. | |
Gegen den Teilfreispruch von Tilo P. im Dezember hat die | |
Generalstaatsanwaltschaft mittlerweile Berufung eingelegt. Ob sie | |
erfolgreich sein wird, ist aber noch offen, und ein Prozess vor der | |
nächsthöheren Instanz ist in weiter Ferne. Hier bestünde aber dann eine | |
weitere Chance der juristischen Teilaufklärung. | |
Geht von den Neuköllner Neonazis weiter Gefahr aus? | |
Es drängt sich der Eindruck auf, dass die ausbleibenden Konsequenzen ein | |
Gefühl der Unbesiegbarkeit erzeugt haben. Sebastian T. tritt trotz des | |
Prozesses und der medialen Thematisierung seiner Person unvermindert im | |
Rahmen von Aktivitäten der Neonazi-Kleinstpartei Der III. Weg in | |
Erscheinung. Womöglich gilt das auch für seine anderen Aktivitäten. In die | |
Szene würde mit einem milden Urteil oder gar einem Freispruch ein Signal | |
gesendet, dass solche Taten ohne Konsequenzen bleiben. Insofern ist nicht | |
auszuschließen, dass es zu weiteren Angriffen kommen kann. Jedenfalls | |
spioniert der gleiche Personenkreis, der schon zu Zeiten des „NW-Berlin“ | |
aktiv war, mit wachsendem Selbstbewusstsein nun unter dem Dach der | |
[3][Neonazi-Partei III. Weg] bei Verteilaktionen Engagierte und Orte aus. | |
6 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Erik Peter | |
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