# taz.de -- Datensammlungen von Neonazis in Berlin: Auf der Feindesliste | |
> Rechtsextreme sammeln seit Jahren Daten über politische Gegner:innen. | |
> Viele Betroffene werden derzeit durch das LKA darüber informiert. | |
Bild: Zur Anti-Antifa-Arbeit gehört auch das Abfotografieren von Gegendemos | |
BERLIN taz | Die Sommerpause hat Bianca Klose von der Mobilen Beratung | |
gegen Rechtsextremismus in diesem Jahr gestrichen. Und zwar nicht wegen | |
Corona, sondern wegen Nazis: Klose berät in der Beratungsstelle in Berlin | |
seit 20 Jahren Betroffene von Rechtsextremismus, Antisemitismus und | |
Rassismus. Und im Moment hat sie einen Ansturm zu bewältigen – aufgrund | |
einer seit Jahren kontinuierlich wachsenden Bedrohungslage durch | |
Rechtsextremist:innen. | |
Besonders groß ist der Zulauf derzeit, weil viele Personen in Berlin | |
derzeit von der Polizei per Schreiben darüber aufgeklärt werden, dass sie | |
auf einer Liste mit persönlichen Daten von Neonazis gestanden hätten. Die | |
Liste stammt von einem beschlagnahmten Rechner eines der Hauptverdächtigen | |
der extrem rechten Anschlagsserie in Neukölln, dem Neonazi Sebastian T. Sie | |
enthält Adressen, persönliche Daten und Fotos zu über 500 Personen. | |
Die Polizei hatte T.s Computer zwar bereits Anfang 2018 beschlagnahmt, die | |
Feindesliste darauf aber erst Ende 2019 gefunden. Die für die Aufklärung | |
zuständige [1][Ermittlungsgruppe BAO Fokus] hatte dennoch versucht, den | |
Fund als Ermittlungserfolg zu verkaufen. Seit Anfang des Jahres wurde | |
kritisiert, dass das LKA nicht alle Betroffenen auf der Liste informiert | |
hätte. | |
Zunächst hatte die Polizei nur etwa 30 besonders gefährdete Personen | |
gewarnt – unter anderem die linke Fraktionsvorsitzenden im | |
Abgeordnetenhaus, Anne Helm. Mittlerweile informiert das LKA weitere | |
Betroffene. Nach Informationen der taz sind auch einige Mitglieder der | |
Grünen darunter sowie der Linken und der SPD. | |
## Nationaler Widerstand Berlin | |
Eines dieser Warnschreiben der Polizei liegt der taz vor. In dem Brief von | |
Mitte Juli teilt das hier zuständige Brandenburger LKA allerdings mit, dass | |
von der Liste keine „konkrete Gefährdung abgeleitet werden kann“. Es | |
handele sich lediglich „um eine Datensammlung über Institutionen, | |
Organisationen und Personen, die von den Urhebern als ‚politische Gegner‘ | |
angesehen werden.“ Zudem sei sie seit sieben Jahren nicht mehr angefasst | |
worden, also veraltet. | |
Dennoch forderte die Polizei im selben Schreiben dazu auf, vorsichtig zu | |
sein: Das LKA weist darauf hin, „dass öffentlich zugängliche Informationen | |
über Sie und ihr privates Umfeld auch zu Ihrem Nachteil genutzt werden | |
können.“ | |
Der Empfänger, Aktivist Tamás Blénessy aus Potsdam, ist nicht überrascht, | |
dass er auf der Liste stand. Ungefährlich sei dies allerdings nie gewesen, | |
wie Blénessy der taz sagte. Im Sommer 2005 wurde er von Neonazis nachts in | |
einer Tram überfallen: „Wir waren zwei gegen 20: Hätte mein Begleiter nicht | |
eingegriffen, wäre das lebensgefährlich für mich geworden.“ | |
Auch hätten bereits Neonazis mit einem Auto vor der Haustür von Blénessy | |
gestanden. In der Datensammlung finden sich sein Name, sein Geburtsdatum, | |
eine alte Adresse und sieben Bilder. Blénessy empfindet es als | |
Verharmlosung, dass sich laut Polizei daraus keine Bedrohung ergebe. | |
Für Bianca Klose aus der Mobilen Beratung ist diese Art von Datensammlung | |
nichts Neues: „Seit den Neunzigern ist so etwas bekannt.“ Sie glaubt, die | |
Liste mit den 500 Namen stamme aus der Zeit vom [2][Nationalen Widerstand | |
Berlin], einer ehemaligen Website und Gruppe aus dem Umfeld der | |
Lichtenberger Kameradschaft Tor: „Das ist das Material, von dem wir damals | |
schon vermuteten, dass es so umfangreich existieren muss“, sagt Klose. | |
Dazu passt, dass einer der Verdächtigen der Neuköllner Anschlagsserie, | |
Sebastian T., auch beim Nationalen Widerstand aktiv war. Auf ihrer Website | |
veröffentlichte die Gruppe Anfang der 2010er Jahre bereits eine | |
Datensammlung über 200 vermeintlichen Gegner:innen. Klose sagt dazu: | |
„Bereits damals hat man nicht zum ersten Mal gesehen, dass es eine | |
Professionalisierung von Anti-Antifa-Arbeit in der Neonazi-Szene gibt.“ | |
## Verbindungen zwischen Hessen und Berlin? | |
Neonazis kommen laut Klose an Daten durch Prozessbeobachtungen, | |
Falschanzeigen und Akteneinsicht über Neonazi-Anwälte, | |
Social-Media-Ausspähungen, Post-Diebstahl, Fotografien von Gegenprotesten | |
und Presseausweisen und sogar durch Observationen. „In Berlin gab es sogar | |
mal einen rechtsextremen Postboten. Da hilft Dir dann nicht mal mehr eine | |
Auskunftssperre im Melderegister“, sagt Klose. | |
Auch hält Klose Datensammlungen wie diese im Gegensatz zum LKA weiter für | |
gefährlich, selbst wenn sie veraltet seien: „Die Menschen, die sich darauf | |
befinden, waren ja auch von Anschlägen betroffen. Und wir wissen auch | |
nicht, was die Nazis seitdem gemacht haben – die haben ja nicht aufgehört | |
zu sammeln.“ | |
Spätestens seit dem NSU wisse man, dass es bundesweite Feindeslisten gebe | |
und auch ein Austausch stattfinde, so Klose. Die bekannten Datensammlungen | |
seien nur die „die Spitze des Eisbergs, wie sich gegenwärtig zeigt“, sagt | |
Klose. Möglich sei auch ein Datenaustausch zwischen Hessen und Berlin. | |
Tatsächlich gab es Überschneidungen bei den Betroffenen zwischen den | |
älteren Feindeslisten und den jüngst wieder verschickten neonazistischen | |
und häufig misogynen Drohschreiben, die mit [3][NSU 2.0] oder | |
Obersturmbannführer unterzeichnet waren. Mittlerweile gingen diese an über | |
[4][70 Personen] – geschickt von Servern aus dem Darknet, welche die | |
Identität der Verfasser:innen bislang verbergen. | |
## NSU 2.0-Drohschreiben mit Daten von der Polizei | |
Diese individuellen Drohschreiben und Morddrohungen gingen vielfach an | |
hessische Politiker:innen – mittlerweile sind aber auch Berliner:innen | |
Ziel: etwa Anne Helm und [5][Evrim Sommer von der Linken]. Helm und Sommer | |
fanden sich beide auch auf der Liste von Sebastian T. Auf Sommers Auto | |
hatte es auch in der Zeit vom Nationalen Widerstand einen Brandanschlag | |
gegeben. | |
Besonders beunruhigend bei den NSU 2.0-Drohschreiben waren auch konkrete | |
private Informationen der Betroffenen, die einige der Schreiben enthielten: | |
Zum Teil stammten diese nämlich nachweislich von Polizeicomputern. | |
Anne Helm geht in ihrem Fall allerdings davon aus, dass eher Observationen | |
durch Neonazis zu Privat-Informationen geführt hätten, wie sie der taz | |
sagte. Sie sei mehrfach verfolgt worden, Neonazis hätten ihren Briefkasten | |
gesprengt, Post geklaut und sogar Bewegungsprofile von ihr erstellt. | |
26 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Anschlagsserie-in-Berlin-Neukoelln/!5654395 | |
[2] /Das-Netz-der-Nazis/!538542/ | |
[3] /NSU-20/!t5578246 | |
[4] /NSU-20-Skandal-weitet-sich-aus/!5700668 | |
[5] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1139495.evrim-sommer-mein-vertraue… | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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