| # taz.de -- Steffi Lemke über Naturschutz: „Es braucht kein Machtwort“ | |
| > Die FDP will beim Straßenbau auf Umweltprüfungen verzichten. Autobahnen | |
| > dürfen nicht über dem Naturschutz stehen, sagt dagegen Umweltministerin | |
| > Steffi Lemke. | |
| Bild: Will schnell marode Brücken und Straßen sanieren: Bundesumweltministeri… | |
| taz: Frau Lemke, fahren Sie gerne Auto? | |
| Steffi Lemke: Ich fahre zwischen Berlin und Dessau, meiner Heimatstadt, | |
| sehr häufig mit dem Zug hin und her. Ab und zu benutze ich auch das Auto. | |
| Ist das eine Strecke mit Staugefahr? | |
| Das kommt darauf an, zu welcher Zeit Sie dort fahren. Es gibt dort vor | |
| allem aufgrund etlicher Dauerbaustellen auch häufig Staus. | |
| Ist das eine Sache, die [1][die Planungsbeschleunigung von | |
| Verkehrsprojekten] betrifft, über die Grüne und FDP gerade streiten? | |
| Das würde unter die Frage fallen: Wie schnell können wir unsere | |
| Infrastruktur reparieren und sanieren? Ich finde, dass wir uns auf jeden | |
| Fall bemühen sollten, den Erhalt von Infrastruktur schneller, | |
| unbürokratischer und digitaler hinzubekommen. | |
| Sie sind wie FDP-Bundesverkehrsminister Volker Wissing für die Sanierung | |
| von maroden Brücken und Straßen. Wo liegt der Dissens? | |
| Wir haben einen Dissens über die Frage, ob der Neubau von Autobahnen per | |
| Gesetz über dem Natur- und Umweltschutz, aber auch über dem | |
| Gesundheitsschutz und anderem stehen soll. Diese Verschiebung im | |
| Planungsrecht zulasten von Umwelt- und Naturschutz halte ich für falsch. In | |
| vielen Punkten sind wir uns allerdings einig. Volker Wissing hat einen | |
| Gesetzentwurf erarbeitet, bei dem es auch um die Sanierung der | |
| Infrastruktur geht, beispielsweise von maroden Straßen oder Brücken. Das | |
| ist ein großes Problem in Deutschland. Daher sollten wir die Sanierung | |
| beschleunigen und vorantreiben, damit die bestehenden Verkehrswege | |
| funktionsfähig bleiben. | |
| Der Gesetzentwurf von Volker Wissing sieht vor, den Neubau von Autobahnen | |
| oder den Ausbau auf sechs oder acht Spuren zu beschleunigen. | |
| Das sind alles Vorhaben, die im Bundesverkehrswegeplan von 2016 beschlossen | |
| sind. Für diesen Bundesverkehrswegeplan haben sich die Koalitionsfraktionen | |
| auf eine Überprüfung verständigt. Aber auch für Projekte innerhalb dieses | |
| Rahmens können wir im Planungsverfahren nicht sagen: Umwelt- und | |
| Naturschutzinteressen haben zurückzustehen. Einen Wald oder ein | |
| Naturschutzgebiet nicht einmal mehr zu betrachten im Planungsverfahren – | |
| das geht nicht. | |
| Aber beim [2][Ausbau der Windkraft] geht das ja auch. | |
| Schon im Koalitionsvertrag ist verabredet worden, dass der Ausbau der | |
| erneuerbaren Energien im überragenden öffentlichen Interesse liegt, und wir | |
| betreiben Klimaschutz ja auch, um Umwelt und Natur zu erhalten. Aber für | |
| den Straßenneubau liegen die Dinge anders und hier sieht der | |
| Koalitionsvertrag deshalb das überragende öffentliche Interesse auch nicht | |
| vor. Auch nicht für die Verbreiterung von Autobahnen um zwei oder vier | |
| Spuren. Es würde auch keinen Sinn ergeben, zu versuchen, alle Projekte in | |
| Deutschland gleichzeitig zu priorisieren. Wer alles priorisiert, | |
| priorisiert nichts. | |
| Die FDP sagt, Autobahnen sind nicht klimaschädlich, wenn darauf E-Autos | |
| fahren. | |
| Natürlich ist die Verbreiterung einer Autobahn um zwei oder um vier Spuren | |
| etwas, was Natur und teilweise wertvollen Ackerboden in Anspruch nimmt oder | |
| wofür eben Wald weichen muss. Auch Naturschutzgebiete sind dabei oft | |
| berührt. Man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass schon das | |
| keinerlei Auswirkungen auf das Klima hat. Im Übrigen: Der geltende | |
| Bundesverkehrswegeplan wurde viele Jahre vor dem wegweisenden Klima-Urteil | |
| des Bundesverfassungsgerichts beschlossen. Auch die heute geltenden Ziele | |
| des Klimaschutzgesetzes sind darin nicht berücksichtigt. | |
| Wo steht die SPD? | |
| Es hat zu dem Thema Gespräche mit dem Bundeskanzler gegeben. Wir haben | |
| versucht, Gemeinsamkeiten auszuloten. Das ist an vielen Stellen gelungen, | |
| aber eben nicht an allen. Für mich bleibt die Priorität, beim Bahnausbau | |
| schneller zu werden und die marode Infrastruktur möglichst schnell zu | |
| sanieren, vor allem die Brücken. | |
| Fürchten oder fordern Sie ein Machtwort des Bundeskanzlers bei diesem | |
| Streit? | |
| Ich gehe nicht davon aus, dass dieses Thema ein Machtwort erfordert. | |
| Der grüne Wirtschaftsminister Habeck hat vor Kurzem erklärt, Lückenschlüsse | |
| wären okay beim Autobahnbau. Ist er Ihnen damit in den Rücken gefallen? | |
| Es gibt keinen Dissens zwischen Robert Habeck und mir. Lückenschlüsse | |
| stehen zu einem großen Teil im Bundesverkehrswegeplan, der ja unter | |
| Federführung von Volker Wissing überprüft wird. Mein Petitum ist: Wenn es | |
| beim Bau von Lückenschlüssen bleibt, kann das nicht heißen, dass dabei der | |
| Umwelt- und Naturschutz außen vor bleibt. | |
| Viele Klimaaktivist:innen [3][gehen buchstäblich auf die Bäume], um | |
| Autobahnprojekte zu verhindern. Ist die Zivilgesellschaft weiter als die | |
| Koalition? | |
| Viele Jahre lang waren Politik und Planungsbehörden im festen Glauben, dass | |
| all diese Projekte notwendig, finanzierbar und mit dem Klima- und | |
| Naturschutz schon irgendwie vereinbar sind. Diese festgefügte Haltung wird | |
| jetzt in Frage gestellt durch die Auswirkungen der Klimakrise und des | |
| Artenaussterbens und durch eine junge Generation, die auf die Straße geht. | |
| Umso mehr gilt: Wir können nicht bei allem, was vor 20 Jahren einmal | |
| angedacht wurde, jetzt plötzlich auf Umwelt-, Lärmschutz und Naturschutz | |
| verzichten. Solche Prüfungen schützen ja nicht nur die Natur, sondern vor | |
| allem auch die Menschen. | |
| Spüren Sie nach den überraschend großen Protesten rund um die Räumung des | |
| Ortes Lützerath im Rheinischen Kohlerevier, die sich auch stark gegen die | |
| Grünen richteten, einen besonders starken Druck, sich bei den Autobahnen | |
| durchzusetzen? | |
| Der Druck, den ich persönlich spüre, kommt eher aus den schon jetzt | |
| deutlich wahrnehmbaren Auswirkungen der Klimakrise. Und die sind enorm. | |
| Deshalb ist es gut, dass junge Menschen auf die Straße gehen. Denn solange | |
| das mit gewaltfreien Mitteln passiert und niemand zu Schaden kommt, hilft | |
| es, die Größe des Problems besser zu erkennen und deutlich zu machen, dass | |
| wir nicht mehr viel Zeit für die Lösung haben. | |
| Zurück zur Planungsbeschleunigung: Sind Sie an der Entscheidungsfindung | |
| noch aktiv beteiligt? | |
| Im Moment ist das auf die Ebene des Koalitionsausschusses verlagert, in dem | |
| ich nicht Mitglied bin. | |
| Als sich die Ampel-Spitzen kürzlich an einem Donnerstagabend trafen und | |
| erfolglos über eine Lösung berieten, saßen Sie also in ihrem Büro und haben | |
| auf das Ergebnis gewartet? | |
| Was genau ich an dem Abend gemacht habe, weiß ich gar nicht mehr. Aber | |
| natürlich habe ich der grünen Verhandlungsseite die nötige fachliche | |
| Unterstützung gegeben. | |
| Wie geht es jetzt weiter? Laufen Gespräche oder herrscht Funkstille? | |
| Jetzt wird der nächste Koalitionsausschuss vorbereitet und natürlich wird | |
| viel gesprochen. Auf Ressortebene finden aber jetzt keine förmlichen | |
| Verhandlungen statt, weil klar ist, dass ich dem Verzicht auf Umwelt- und | |
| Naturschutzprüfungen nicht zustimmen kann. | |
| Vor der Berlin-Wahl wird es also keine Einigung geben? | |
| Davon ist auszugehen. | |
| Aus Rücksicht auf die Berlin-Wahl? | |
| Wegen der Komplexität des Problems. | |
| Könnte es am Ende eine Paketlösung geben, in der das Thema mit anderen | |
| vermengt wird? | |
| Noch mal: Viele Aspekte des Gesetzentwurfs, der auf dem Tisch liegt, sind | |
| sinnvoll. Es wäre von meiner Seite aus sofort möglich, den Ausbau der Bahn | |
| und der Infrastruktur zu beschleunigen, die wir für die Klimaneutralität | |
| brauchen. Wir könnten auch die schnellere Sanierung von Brücken auf den Weg | |
| bringen oder den Radwegebau verbessern. Wir könnten das nächste Woche im | |
| Kabinett beschließen. Wir sollten nicht die sinnvolle Beschleunigung in | |
| Geiselhaft nehmen für Probleme, bei denen wir uns nicht einigen können. | |
| Die FDP hätte dann keinen Hebel mehr, um Sie bei den strittigen Punkten auf | |
| die andere Seite zu ziehen. | |
| Ich kann nur sagen: Was sinnvoll ist und gemeinsam angegangen werden kann, | |
| sollte man möglichst schnell angehen und nicht ausbremsen. Die Bürgerinnen | |
| und Bürger unseres Landes haben zu Recht die Erwartung, dass wir | |
| verlässlich Lösungen auf den Weg bringen. | |
| Was bieten Sie der FDP dafür? | |
| Es kann doch nur darum gehen, gemeinsam konstruktive Lösungen für Probleme | |
| zu identifizieren, um unser Land voranzubringen und die Zukunft für unsere | |
| Kinder und Enkel zu sichern. Es geht nicht darum, sich gegenseitig | |
| Geschenke zu machen. | |
| Wie oft denken Sie bei all dem Hickhack: Ach, hätten wir Grüne doch das | |
| Verkehrsministerium? | |
| Gar nicht. Ich bin als Ministerin für Umwelt und Naturschutz, nukleare | |
| Sicherheit und Verbraucherschutz zuständig. Ich vertrete ein großartiges | |
| Ministerium mit einem großen und großartigen Aufgabenbereich. | |
| Haben Sie den Eindruck, dass sich auch die FDP für das Klima verantwortlich | |
| fühlt und nur andere Instrumente wählt als die Grünen – oder fehlt es den | |
| Liberalen grundlegend an Problembewusstsein? | |
| Ich glaube, auch dort gibt es unterschiedliche Denkweisen. Bei Volker | |
| Wissing, der ja aus einer Winzerfamilie kommt, erlebe ich auf jeden Fall | |
| Verständnis für den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das | |
| übersetzt sich möglicherweise nicht bei allen FDP-Mitgliedern jeden Tag in | |
| engagierten Klima- und Naturschutz. Aber wie gesagt, wir arbeiten in der | |
| Koalition gemeinsam an zukunftsfähigen Lösungen. | |
| Rächt sich jetzt, dass im Koalitionsvertrag die Verkehrswende vor allem als | |
| Antriebswende definiert wurde – vom Verbrenner- zum E-Auto? | |
| Bei Klima- und Naturschutz wurde der Verkehrssektor in den letzten Jahren | |
| generell nicht breit genug gedacht. Das spiegelt sich in den Kompromissen | |
| des Koalitionsvertrages wider. Dort haben die Beharrungskräfte mit dem | |
| gerungen, was aus Klimaschutzgründen notwendig wäre. Und ja, dieses Ringen | |
| setzt sich jetzt fort. | |
| Also war es falsch, nicht gleichzeitig zu sagen: Wir wollen die | |
| Gesamtanzahl der Autos verringern. | |
| Es wurde ja durchaus umfassender verhandelt. Aber herausgekommen ist ein | |
| Kompromiss, den wir jetzt ausgestalten müssen. Koalitionsverträge sind an | |
| vielen Stellen nicht detailliert genug, um für vier Jahre eine genaue | |
| Handlungsanleitung zu geben. Aber radikale Vorfahrt für den Autobahnneubau | |
| steht ausdrücklich nicht im Koalitionsvertrag. | |
| 8 Feb 2023 | |
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