| # taz.de -- Algospeak auf TikTok und Instagram: Wtf heißt „slip n slide“? | |
| > Auf Tiktok entwickelt sich eine Art Geheimsprache, um Zensur durch den | |
| > Algorithmus zu umgehen. Was macht das mit dem offenen Diskurs? | |
| Bild: Schon Dinosaurier sprachen in Codes: „rawr“ heißt „Ich liebe dich�… | |
| Es gibt diese bestimmten Anzeichen, an denen man merkt, dass man [1][nicht | |
| mehr jung ist]. Der Körper macht auf einmal mehr Knackgeräusche, man kennt | |
| nun das gute und das schlechte Knie, aber vor allem versteht man die Jugend | |
| von heute nicht mehr. | |
| Auf Tiktok wird das besonders deutlich. Damit ist nicht der Humor oder der | |
| Modestil gemeint, sondern buchstäblich [2][die Sprache]. Oder verstehen Sie | |
| was „slip n slide“ ist? Oder „le dollar bean“? Ersteres soll „suicide… | |
| also Selbstmord, heißen, Letzteres bedeutet „lesbian“, also Lesbe. Hätten | |
| Sie es gewusst? | |
| Hinter seltsam anmutigen Neologismen wie Seggs (Sex), s<hwul (schwul), Ouid | |
| (Weed) und YT (white) steckt nicht einfach nur der Wunsch von jungen | |
| Leuten, sich [3][via Sprache von den „Alten“ abzugrenzen]. Sie werden quasi | |
| gezwungen, so zu sprechen – von den Algorithmen auf Tiktok und Instagram. | |
| Es hat sich eine Geheimsprache entwickelt: Algospeak. | |
| Der Algorithmus, der hinter den Social-Media-Plattformen steckt, ist ein | |
| Mysterium. Ein mächtiges. Wenn ihm etwas nicht gefällt, schlägt er zu: | |
| Inhalte oder gar Nutzer*innen werden gesperrt. Auch die Sichtweite kann | |
| extrem eingeschränkt werden. Stichwort: „Shadow Banning“. Dabei werden die | |
| User*innen nicht einmal informiert, wenn sie so gebannt werden. Sie | |
| wissen nicht, was sie falsch gemacht haben. | |
| Das größte Problem in der ganzen Situation ist, dass Tiktok, Instagram und | |
| Co nicht offenlegen, wie ihr Algorithmus funktioniert, und User*innen dem | |
| wenig entgegenzusetzen haben. Sie können zwar Einspruch einlegen, aber das | |
| ist so, wie zu hoffen, bei der nächsten Massenbesichtigung in Berlin die | |
| Wohnung zu bekommen. | |
| ## Vorwand Hassrede verhindern | |
| Man kann nur im Nachgang erahnen, was der Algorithmus nicht zu mögen | |
| scheint: Sex, LGBTQ-Themen, Auseinandersetzungen mit Rassismus und Gewalt | |
| etc. Dabei macht es keine Unterschiede, wie darüber gesprochen wird. | |
| Eine Recherche von „Tagesschau“, NDR und WDR hat gezeigt, dass auf Tiktok | |
| Deutschland Posts mit Begriffen wie „homosexuell“, „LGBT“, „Auschwitz… | |
| „Nationalsozialismus“ weniger User*innen gezeigt wird. Tiktok begründet | |
| das Ausfiltern mit dem Versuch, Hassrede und Spam zu verhindern. Wir sehen | |
| ja, wie gut das funktioniert. Dieses automatisierte Filtern trifft vor | |
| allem marginalisierte Gruppen, die über ihre Lebensrealität sprechen | |
| möchten und gleichzeitig damit riskieren, ihre hart erkämpfte Bühne wieder | |
| zu verlieren. | |
| Was, wenn man über diese Themen posten möchte, ohne Reichweite zu | |
| verlieren? Man spricht eben anders. Mit Rechtschreibfehlern, Emojis und | |
| Sonderzeichen versuchen User*innen den tyrannisch herrschenden | |
| Algorithmus zu umgehen. Die Journalistin Taylor Lorenz von der Washington | |
| Post hat dem Phänomen eine eigene Bezeichnung gegeben: „Algospeak“. | |
| Man könnte jetzt meinen: Algospeak sei die neue Jugendsprache. Immerhin | |
| nutzen fast ein Drittel der 14- bis 29-Jährigen Tiktok und die Sprache | |
| schwappt auch immer mehr auf andere Social-Media-Plattformen wie Instagram | |
| über. Milliarden User*innen auf der ganzen Welt können auf eine Sprache | |
| zugreifen, die nur durch eine gemeinsame popkulturelle Identität | |
| verständlich ist. Völkerverständigung mit einem Auberginen-Emoji, wie | |
| schön. | |
| Obwohl der kreative Umgang mit der Plattform spannend ist und die grauen | |
| Zellen angeregt werden, um aus dem Kontext zu erschließen, worum es im Post | |
| geht. | |
| ## Sprechen ohne Euphemismen | |
| Eigentlich gibt es hier nichts zu romantisieren. Es ist keine | |
| Jugendsprache, die entstanden ist, um sich von denen da oben mal | |
| abzugrenzen. Es ist ein Versuch, sich gegen das Silencing durch den | |
| Algorithmus zu wehren. Und gleichzeitig hat es Auswirkungen auf die Art, | |
| wie wir über Sachverhalte denken. | |
| Sprache beeinflusst unser Denken. Wenn in der politischen Debatte über | |
| Geflüchtete Worte wie „Sozialtourismus“ fallen, beinflusst es das Denken | |
| über Flucht und Migrant*innen. Eine stetige negative Berichterstattung über | |
| Migrant*innen sorgt auch dafür, dass die Bevölkerung das Thema negativ | |
| konnotiert – mit den bekannten Folgen. | |
| Doch es sind nicht nur Worte, die den Umgang mit etwas prägen, sondern auch | |
| wie wir über etwas sprechen können. Social Media schien der Ort der | |
| Normalisierung zu sein, in denen einzelne User*innen in der Lage waren, | |
| Menschen mit ihren Posts zu erreichen und zum Diskurs beizutragen. Viele – | |
| auch Marginalisierte – haben dieses Medium genutzt, um niedrigschwellig | |
| über ihre Angelegenheiten zu sprechen und zu normalisieren. Doch dazu | |
| gehört eben auch eine deutliche Sprache, ohne Abkürzungen, ohne | |
| Euphemismen. | |
| Auch im Offline-Leben: In den 1950er und 1960er Jahren nutzten homosexuelle | |
| Männer im Vereinigten Königreich – vor allem in London – einen eigenen | |
| Soziolekt: Polari. Von verschiedenen Einflüssen von Cockney, Italienisch | |
| und Jiddisch geprägt, war Polari für heterosexuelle Menschen ein | |
| Kauderwelsch. | |
| Für die Sprecher hingegen eine Sicherheitsmaßnahme, um in einer | |
| bedrohlichen Welt miteinander kommunizieren zu können und sich vor anderen | |
| zu outen. Es ist kein Wunder, dass die Sprache nach der Aufhebung des | |
| Verbots der Homosexualität 1967 nicht mehr genutzt wurde. Mit der | |
| beginnenden Normalisierung kam auch die eindeutige Sprache. | |
| Allerdings sind wir bei Tiktok beinahe wieder bei einer Art „Don’t say gay�… | |
| angelangt. Wenn da steht „Is he *Lackierte Nägel Emoji“?, kann von einem | |
| offenen Diskurs nicht die Rede sein. Das hat die Vibes von „Ist er … du | |
| weißt schon *flüster* schwul“. | |
| ## Aus fat wird f@t | |
| Wenn Content-Creator*innen sich überlegen müssen, wie sie Themen benennen, | |
| findet eine Re-Tabuisierung statt, die teilweise lächerliche Blüten trägt. | |
| So wird aus „fat“, eben dem englischen Wort für dick, f@t. Plötzlich ist | |
| wohl auch das eigene Köpergewicht ein Stein des Anstoßes. Da kann einem | |
| noch so viel Bodypositivity in die Timeline gepült werden, das „@“ zeigt: | |
| Das ist etwas Schamvolles! Darüber reden wir nicht! | |
| Erschwerend kommt hinzu, dass der Algorithmus nicht nur instransparent ist, | |
| sondern eben auch dynamisch. Es entwickelt sich ein Katz-und-Maus-Spiel | |
| zwischen User*innen und Algorithmus rund um die Frage: Was kann überhaupt | |
| wie gesagt werden? In einem vorauseilendem Gehorsam zensieren sich die | |
| Creator*innen selbst. | |
| Dabei können die Nutzer*innen selbst wenig ausrichten. Die Politik ist | |
| gefragt. Hier geht es nämlich nicht um eine kleine Plattform, wo sich | |
| irgendwelche Teenies tummeln, sondern um ein mächtiges Instrument, das | |
| schon jetzt die politische Debatte prägt. | |
| Tiktok wurde bereits mehrfach auch politische Zensur im Sinne der | |
| chinesischen Regierung vorgeworfen. So wurden beispielsweise eine Zeitlang | |
| Beiträge, die die chinesische Tennisspielerin Peng Shuai erwähnten, | |
| unterdrückt. Sie hatte den ehemaligen Funktionär Zhang Gaoli im November | |
| 2021 vorgeworfen, sie sexuell missbraucht zu haben. | |
| ## Politik ist gefragt | |
| Doch wir sind den Algorithmen nicht ausgeliefert, auch wenn es sich | |
| manchmal so anfühlt. Eines ist sicher: Ein gewisser Druck hilft, das zeigt | |
| auch wieder die Recherche von „Tagesschau“, NDR und WDR. | |
| Nach Veröffentlichung des Artikels waren einige der Begriffe auf Tiktok | |
| wieder aufrufbar. Doch der Druck kann nicht nur von den Medien und der | |
| Öffentlichkeit kommen und auch nicht von den Content-Creator*innen, die | |
| fürchten müssen, ihre Bühne und teilweise ihre Einnahmequelle zu verlieren. | |
| Die Politik ist gefragt. Bisher behandelt sie die Problematik der | |
| intransparenten Algorithmen eher stiefmütterlich, allenfalls reaktiv. | |
| Dabei gibt es Möglichkeiten, wie die Gesetzgebung dagegenhalten kann. Mit | |
| einer Überarbeitung des „Digital Services Act“ – des Gesetzes über digi… | |
| Märkte und Dienste. | |
| So könnte die Europäische Union die Erforschung der Algorithmen | |
| vereinfachen. Dagegen sträuben sich die Plattformen nämlich bisher | |
| vehement. Ein gutes Zeichen, dass so eine Überarbeitung den Nerv treffen | |
| würde. | |
| Doch bis es so weit ist, wird Algospeak weiter florieren, bis die Posts | |
| nur noch mit einem Stein von Rosetta zu verstehen sind. | |
| 8 Feb 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Laila Oudray | |
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