# taz.de -- Solidarischer Herbst: „Was jetzt hilft, ist Zusammenhalt“ | |
> Bundesweit gehen Tausende auf die Straße, um für eine sozial gerechte | |
> Politik zu demonstrieren. Eindrücke aus Berlin und Frankfurt. | |
Bild: Berlin: Tausende gehen auf die Straße um gegen Preissteigerungen und Kli… | |
BERLIN/FRANKFURT (MAIN) taz | Für Fabian Wolf aus Berlin war die | |
Auftaktveranstaltung des Bündnisses Solidarischer Herbst am Samstag „erst | |
der Anfang einer langen Reihe an Demonstrationen, die erst dann aufhören | |
werden, wenn die Probleme der unteren 90 Prozent gelöst sind.“ Der | |
28-jährige Psychologe hat sich dem Demoblock von „Genug ist Genug“ | |
angeschlossen. Die Gruppe gründete sich Ende des Sommers, um gegen „die | |
[1][steigenden Preise und die soziale Schieflage]“ auf die Straße zu gehen. | |
Wolf arbeitet in der ambulanten Familienhilfe und ist täglich damit | |
konfrontiert, wie „Menschen wütend und frustriert sind.“ Sowohl bei der | |
Arbeit als auch im privaten Umfeld würden immer mehr Menschen | |
Anpassungsstörungen entwickeln: „Das konnten wir schon seit dem Ausbruch | |
der Corona-Pandemie beobachten. Aber mit dem Krieg und der Energiekrise | |
wird das alles noch schlimmer, die Leute werden krank und gehen psychisch | |
kaputt“. | |
Er selbst käme bislang als alleinstehende Person mit mittlerem Einkommen | |
noch einigermaßen über die Runden. „Aber viel mehr sparen kann auch ich | |
nicht mehr und tendenziell wird alles zukünftig noch teuer werden.“ | |
Besonders schlimm sei es aber [2][jetzt schon für Menschen, die sich | |
bereits vor einer Inflationsrate von über 10 Prozent] „am Ende des Monats | |
nur noch von Toastbrot ernähren konnten.“ Wolf bezieht sich dabei auf den | |
Fall einer alleinerziehenden Mutter von vier Kindern, die er psychologisch | |
betreut. „Deswegen brauchen wir jetzt Solidarität aller linker | |
Gruppierungen.“ | |
Wolf ist einer von mehr als 6000 Menschen, die nach Angaben der | |
Veranstalter am Samstag in Berlin dem Aufruf des Bündnisses Solidarischer | |
Herbst gefolgt sind. Bundesweit sollen es rund 24.000 Menschen gewesen | |
sein. Auch in Hannover, Stuttgart, Dresden und Düsseldorf wurde | |
demonstriert. Sie alle gingen für eine sozial gerechte Entlastung, | |
Klimaschutz und Solidarität mit der Ukraine auf die Straße. Der Aufruf | |
wurde von den Gewerkschaften GEW und Verdi, von Attac, Campact, der | |
Volkssolidarität und dem Paritätischen, sowie den Umweltverbänden BUND und | |
Greenpeace und dem Verein Finanzwende initiiert. | |
## Breites Bündnis, gemeinsame Forderungen | |
Vor Ort haben sich viele weitere Gruppierungen angeschlossen: Klasse gegen | |
Klasse und RWE Enteignen wollen [3][„die Macht der Energiekonzerne | |
zerschlagen“], Sana Lichtenberg und die Krankenhausbewegung verlangen | |
höhere Löhne und der Jugendblock von Umweltverbänden und Gewerkschaften | |
fordert mehr Mitbestimmungsrecht von jungen Menschen im Umgang mit den | |
vielen Krisen. | |
„Die Forderungen passen alle zusammen“, sagt Wolf. Dass linke Gruppierungen | |
nach jahrelangen Grabenkämpfen die Streitereien jetzt beiseitelegen und | |
sich solidarisch zusammen schließen, macht ihm am meisten Hoffnung. Und es | |
braucht Zusammenhalt, darin waren sich alle Redner:innen am Samstag | |
einig: „Die [4][Rechte macht mobil], das ist gruselig und dramatisch. Das | |
Einzige, was jetzt hilft, ist Zusammenhalt“, ruft eine Sprecherin von | |
Campact vom Lautsprecherwagen dem Demonstrationszug entgegen. | |
Es geht um Solidarität und um konkrete Forderungen: sofortige Hilfen in | |
Höhe von 500 Euro sollen die Energiepreise kurzfristig abfedern, [5][ein | |
Mietenstopp soll bezahlbares Wohnen ermöglichen], Erneuerbare Energien auf | |
Hochtouren ausgebaut werden, das 9-Euro-Ticket weitergeführt werden. | |
„Finanzieren müssen das auch die Banken und Energiekonzerne, die seit | |
Beginn der Krise horrende Übergewinne eingefahren haben“, sagt Gerhard | |
Schick vom Verein Finanzwende. | |
Auch die Reichsten, die von „systematischen Löchern im Finanzsystem, wie | |
Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer“ profitierten, müssten jetzt stärker in | |
die Verantwortung gezogen werden. Nur durch Umverteilung sei Solidarität | |
möglich. „Wir gehen so lange auf die Straße, bis soziale Gerechtigkeit und | |
Klimaschutz nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden, Menschen wirklich | |
geholfen wurde, und wir endlich eine Umverteilung erleben“, sagt auch | |
Psychologe Wolf. „Umverteilen“ – wird bei der nächsten Demo am 12. Novem… | |
das Motto sein. | |
## „Klimaschutz statt Armut“-Plakate in Frankfurt | |
Auch in Frankfurt am Main kamen am Samstag Tausende Menschen zusammen. Auf | |
dem Rossmarkt, wo die Kundgebung am Mittag startete, wehten viele Fahnen – | |
ein wahres Fahnenmeer in Rot mit den Schriftzügen von DGB, Verdi und linken | |
Gruppen. Aber auch grüne Transparente der Umweltschutzgruppen stachen ins | |
Auge. | |
„Klimaschutz statt Armut“ – so stand es schwarz auf knallgelb auf den | |
Plakaten der Greenpeace-Aktivisten. Und brachte damit griffig auf den | |
Punkt, was das Anliegen der Demonstrierenden bei „Solidarisch durch die | |
Krise“ ist: [6][mehr Klimaschutz und eine sozial gerechtere Politik] – | |
beides in Verbindung und gerade jetzt in der Krise. Denn die Kritik an der | |
Regierung, die will man nicht den Rechten überlassen. Sondern für die | |
eigenen Anliegen nutzen. | |
Die Forderungen daher auch: Ausbau von Erneuerbaren, eine Übergewinnsteuer, | |
und mehr Entlastungen für Arme und Geringverdiener. Laut Attac, einer der | |
Veranstalter der Demo, waren es rund 5.000 Menschen, die in Frankfurt dem | |
Aufruf von Attac und Co. gefolgt sind. Die Polizei ging von 3.000 aus. | |
Irgendwo dazwischen wird sich die Zahl der Teilnehmenden bewegt haben. Rund | |
30 verschiedene Organisationen und Gruppierungen waren es, die sich | |
zusammen gefunden haben. | |
Spruchschilder gab es in Frankfurt gar nicht mal so viele – und die, die | |
man sah, thematisierten neben den Preisen oft das Thema Krieg und | |
Waffenlieferungen. „Butter statt Kanonen“ hielt jemand plakativ hoch, auch | |
Friedenstauben gab es einige. Rechte und Querdenker waren in Frankfurt | |
dagegen nicht offen zu sehen. Die Organisatoren schafften es, | |
problematische Parolen von dem Aufzug fernzuhalten. | |
## Es soll ein Signal für die Menschen in der Krise ausgehen | |
Und sind zufrieden: „Das ist ein guter Auftakt. Und eine ganz gute | |
Teilnehmerzahl“, sagte Werner Neumann aus dem Landesvorstand vom BUND | |
Hessen der taz. Doch er will nicht nur die Politik adressieren: „Ich hoffe, | |
dass von unseren Demos heute ein Signal an die Menschen ausgeht, die gerade | |
unter der Krise leiden. Dass wir uns um ihre Anliegen kümmern, dass es ganz | |
viele gibt, die man da ansprechen kann von der Energieberatung hin bis zur | |
Hilfe mit Behörden. Und dass man dafür nicht zu den Rechten gehen muss.“ | |
Die Notwendigkeit für eine Demo – die spürten auch viele Teilnehmende: Eine | |
Alleinerziehende berichtete: „Ich spüre die Krise gerade sehr. Und die | |
aktuellen Maßnahmen der Politik, die reichen einfach nicht, gerade nicht | |
für mich als Alleinerziehende.“ Sie hofft nun, mit der Demo ein Zeichen zu | |
setzen. | |
Allerdings: die Frau ist an dem Tag eine der wenigen, die einfach so, ohne | |
einem großen Verband anzugehören oder über ihn mobilisiert worden zu sein, | |
in Frankfurt auf die Straße gegangen ist. Es ist vor allem die | |
organisierte, links-alternative Mittelschicht, die da die Fahne | |
wortwörtlich hochhält. Eine Massenbewegung – vor allem eine, die breite | |
Schichten der Bevölkerung umfasst, die ist am Samstag in Frankfurt nicht | |
auf der Straße zu sehen. Auch wenn das Ziel eine Großdemonstration war. | |
Mobilisierungspotenzial wäre da: Energiepolitik und Energiewende sind | |
gerade laut einer neuen Umfrage die Topthemen in Hessen. Eine Mehrheit der | |
Befragten im Hessentrend, rund 29 Prozent, sehen diese Felder als | |
drängendste Probleme der hessischen Politik. Doch was der Hessentrend auch | |
verrät: Die gestiegene Sensibilität bei dem Thema wird derzeit nicht | |
umgemünzt in einen deutlichen Zuwachs beim Thema „Soziale Gerechtigkeit“. | |
Dieser Aspekt liegt recht abgeschlagen mit neun Prozent weiter hinten in | |
Ranking. Die Bedeutung hat gerade einmal um zwei Prozentpunkte zugenommen. | |
## Wissler: Überlegen, wie wir breitere Schichten erreichen | |
Hier sieht auch Janine Wissler, die Parteivorsitzende der Linken noch Luft | |
nach oben. Sie war am Samstag zur Demo nach Frankfurt gekommen. Sie sagte | |
der taz: „Ich denke, das ist hier heute ein guter Erfolg, dass hier so | |
viele gemeinsam Flagge zeigen. Aber ja, wir müssen uns vielleicht danach | |
auch noch einmal überlegen, wie auch breitere Schichten erreicht werden | |
können.“ | |
Zwar waren Parteien generell kein Teil des offiziellen | |
Veranstalter-Bündnisses von „Solidarisch durch die Krise“. Doch wie die | |
Linke versuchten auch andere Präsenz zu zeigen. Die Grünen hatten auf | |
Bundesebene zu den Demos mobilisiert, wenn auch zaghaft. Aber sie sah man | |
nicht auf den Straßen Frankfurts. Dafür war die Grüne Jugend Hessen | |
gekommen. Nur Juso-Fahnen, die sonst auch gerne mal gegen die Mutterpartei | |
wehen, die sah man am Samstag nicht. | |
Während sich die Demonstrierenden mit ihren Fahnen und Plakaten durch die | |
Straßen schlängelten, drängten sich nebenan auf der Zeil die Passanten. Die | |
Frankfurter Einkaufsmeile war gut besucht. Viele schauten interessiert zum | |
Demozug herüber. „Ja, die steigenden Preise, die machen mir echt zu | |
schaffen“, sagte eine junge Frau aus Bad Homburg. „Aber demonstrieren, ich | |
weiß nicht, – ich glaube, das bringt nichts.“ Viele andere hatten von der | |
Demo vorher ohnehin gar nichts mitbekommen. | |
22 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Alina Leimbach | |
Tatjana Söding | |
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