# taz.de -- Wiederholung der Wahl in Berlin: Berliner Verhältnisse | |
> Der Verfassungsgerichtshof spricht sich für erneute Wahlen für | |
> Abgeordnetenhaus und Bezirke aus, definitiv ist das aber noch nicht. Was | |
> steht nun an? | |
Bild: Auch Franziska Giffey musste am 26. September bei ihrer Stimmabgabe warten | |
Berlin steht vor einer Wiederholung der Wahlen, oder? | |
Am Mittwoch hat der Verfassungsgerichtshof, Berlins höchstes Gericht, | |
erklärt, dass die jüngsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den zwölf | |
Bezirksparlamenten [1][seiner Auffassung nach ungültig sind]. „Nur die | |
vollständige Wiederholung der Wahlen kann deren Verfassungskonformität | |
wieder herstellen“, sagte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting zu Beginn | |
einer Anhörung aufgrund mehrere Wahlanfechtungen. Allerdings handelt es | |
sich bei den Aussagen des Gerichts um eine vorläufige Position, das Urteil | |
steht noch aus. | |
Also ist alles offen? | |
Theoretisch ja. Aber nach Einschätzung eigentlich aller | |
Beobachter*innen und Politiker*innen [2][kann das Gericht nicht | |
mehr hinter seine verkündete Position zurück]. Die neun | |
Verfassungsrichter*innen haben sich damit zu weit aus dem Fenster | |
gelehnt. Auch Selting erklärte, dass die Beurteilung des Gerichts sich | |
höchstens „an der ein oder anderen Stelle“ noch ändern könne. | |
Und wann wird nun gewählt? | |
Das steht noch nicht fest. Das Gericht hat nach der Anhörung drei Monate | |
Zeit, um sein Urteil zu verkünden. Spätestens am 28. Dezember muss es so | |
weit sein; das Urteil kann aber auch schon früher fallen. Nach dem Urteil | |
wiederum muss laut dem Landeswahlgesetz innerhalb von 90 Tagen gewählt | |
werden. Letzter Termin ist also der 28. März 2023. | |
Kam die Einschätzung des Gerichts überraschend? | |
Ja. Das Bundesverfassungsgericht hat eine recht enge Auslegung, in welchen | |
Fällen Wahlpannen und -fehler zu Wiederholungen führen können. Danach muss | |
eigentlich eine so genannte Mandatsrelevanz gegeben sein, sprich die Fehler | |
müssen konkrete Auswirkung auf die Sitzverteilung oder die Vergabe der | |
Direktmandate haben. Dies ist [3][nach Ansicht vieler | |
Verfassungsrechtler*innen] aber nur in wenigen Berliner Wahlkreisen – | |
die meisten gehen von drei strittigen Direktmandaten aus – gegeben. | |
„Der Umfang einer Wahlwiederholung muss im Verhältnis zu den Wahlfehlern | |
stehen“, argumentiert etwa der Staats- und Verwaltungsrechtler Christian | |
Pestalozza, Professor an der Freien Universität Berlin. „Man kann nicht | |
flächendeckend neu wählen, wenn die Wahl zu großen Teilen fehlerfrei war.“ | |
Das Berliner Verfassungsgericht argumentierte aber anders. | |
Wie denn? | |
Die Vierfachabstimmung am 26. September 2021 fand unter schwierigen | |
Bedingungen statt: gewählt wurden Bundestag, Abgeordnetenhaus und | |
Bezirksparlament, zudem stand der Enteignen-Volksentscheid an, zudem fand | |
der Marathon statt und es gab zahlreiche Corona-Auflagen. In der Folge | |
[4][kam es zu zahlreichen Pannen]: Stimmzettel fehlten oder wurden falsch | |
ausgegeben; es gab schlicht zu wenig Wahlurnen, daher kam es zu langen | |
Schlangen und vielfach wurde bis weit nach 18 Uhr gewählt. | |
Nach Auffassung der neun Verfassungsrichter*innen waren diese Pannen | |
vorhersehbar; verantwortlich für die Fehler seien deswegen | |
Landeswahlleitung und die zuständige Senatsverwaltung für Inneres unter dem | |
damaligen Senator Andreas Geisel (SPD), heute Bausenator. Zudem geht das | |
Gericht davon aus, dass die bekannten Pannen nur „die Spitze des Eisbergs“ | |
seien; es würde wohl nie aufgeklärt, wie viele potenzielle Wähler*innen | |
betroffen und deren Recht auf eine Wahl in Präsenz eingeschränkt wurde. | |
Für welche Politiker*innen geht der Wahlkampf nun von vorne los? | |
Für all jene, die im September 2021 für das Berliner Abgeordnetenhaus und | |
die zwölf Bezirksparlamente kandidiert haben. Denn eine neue Aufstellung | |
von Listen und Kandidat*innen wird es – da es sich um eine | |
Wahlwiederholung handelt – nicht geben. Die Verzeichnisse der | |
Wähler*innen werden aber aktualisiert. | |
Was ist mit dem Volksentscheid? | |
Der Entscheid, bei dem knapp 60 Prozent [5][für die Vergesellschaftung | |
großer Wohnungsunternehmen gestimmt haben], bleibt gültig. Das Ergebnis war | |
zu eindeutig, es gab auch keine Einsprüche dagegen bei Gericht. | |
Und die Bundestagswahl? | |
Darüber entscheidet der Bundestag selbst. Im Sommer hatte sich die | |
Ampelkoalition eigentlich darauf geeinigt, auch diese Wahl in 400 der rund | |
2.300 Wahllokale zu wiederholen. Nach der überraschenden Position des | |
Berliner Verfassungsgerichts wurde die Sitzung des | |
Bundestagswahlausschusses am Donnerstagabend jedoch abgesagt. Es müsse nun | |
geprüft werden, „ob nicht auch hinsichtlich der Bundestagswahl in allen | |
zwölf Berliner Bundestagswahlkreisen die Wahl komplett wiederholt werden | |
muss“, fordert Patrick Schnieder (CDU), Obmann der Union im | |
Wahlprüfungsausschuss des Bundestages. Wahrscheinlich würde eine | |
(teilweise) Wiederholung der Bundestagswahl aber nicht am gleichen Tag | |
stattfinden. Denn viele Beobachter*innen erwarten, dass gegen eine | |
Entscheidung des Bundestags beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe | |
geklagt würde – und das kann dauern. | |
Apropos Wahlkampf: Wie wird der aussehen? | |
Das ist die große Frage. Angesichts der vielen sich überlagernden Krisen | |
haben viele Vertreter von Rot-Grün-Rot am Donnerstag an die Verantwortung | |
der Politik appelliert. Ein rasches Umschalten in den Wahlkampfmodus könne | |
man sich nicht leisten. Aber natürlich muss jede/r Politiker*in erneut | |
um das Mandat kämpfen, Profilierung ist da hilfreich. De facto sind wir | |
also seit Mittwoch im Wahlkampf. | |
Berlin könnte nächstes Jahr eine neue Regierende Bürgermeisterin bekommen? | |
Ja, auch Franziska Giffey (SPD) muss um ihr Amt fürchten. Nach den jüngsten | |
Umfragen ist ihre Partei nur noch drittstärkste Kraft; es führen die Grünen | |
knapp vor der CDU. Ob es also zu einer erneuten Koalition aus SPD, Grünen | |
und Linken kommt und gegebenenfalls in welcher Konstellation genau, ist | |
offen; ebenso, wann diese nach den üblichen Koalitionsverhandlungen gewählt | |
wird. | |
Was macht das Abgeordnetenhaus bis dahin? | |
Weiter wie bisher – jenseits des Wahlkampfgetöses. Die Abgeordneten sind | |
weiter für ihre Arbeit legitimiert. Welche Entscheidungen die Koalition | |
aber noch treffen kann, besonders wenn es sich um umstrittene Themen | |
handelt, ist offen. | |
Und wie soll verhindert werden, dass es bei einer Wahlwiederholung ein | |
erneutes Chaos gibt? | |
Wenige Tage nach dem Wahlchaos war die Landeswahlleiterin Petra Michaelis | |
zurückgetreten. Der damalige Innensenator Geisel setzte eine | |
Expertenkommission ein, die Ideen erarbeiten sollte, wie solche Pannen | |
künftig verhindert werden können. Die Kommission hat ihre Vorschläge im | |
Sommer vorgestellt, laut Geisels Nachfolgerin Iris Spranger (SPD) arbeite | |
man daran, diese umzusetzen. Übrigens: Die Fehleranalyse der Kommission | |
deckt sich weitgehend mit der Argumentation des Verfassungsgerichts. | |
Ein zentrales Mitglied der Kommission, der Berliner Politikwissenschaftler | |
Stephan Bröchler, [6][ist seit 1. Oktober neuer Landeswahlleiter]. Er muss | |
nun die Wahlwiederholung vorbereiten. Helfen dürfte ihm, dass es wohl nur | |
zwei Abstimmungen gibt und der Berliner Halbmarathon mit zehntausenden | |
Teilnehmer*innen für den 2. April angesetzt ist – da müssen die Wahlen | |
bereits gelaufen sein. | |
30 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
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