| # taz.de -- Wiederholung der Wahl in Berlin: Eine mutige Entscheidung | |
| > Das Verfassungsgericht wagt sich mit seiner Bewertung des Wahlchaos' weit | |
| > vor. Für die Politik ist das eine Chance, Vertrauen zurückzugewinnen. | |
| Bild: Starker Auftritt: Die Richter*innen des Verfassungsgerichtshofs am Mittwo… | |
| Was fast niemand erwartet hat, ist eingetreten: Berlin bereitet sich auf | |
| eine komplette Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den | |
| Bezirken vor. Grund ist die [1][Einschätzung des Berliner | |
| Verfassungsgerichtshofs], dass diese Wahlen vom 21. September 2021 ungültig | |
| seien. | |
| Zwar hat das Gericht noch kein Urteil gefällt, aber die Positionierung der | |
| neun Richter*innen bei der Anhörung am Mittwoch [2][war deutlich]. „Nur | |
| die vollständige Wiederholung der Wahlen kann deren Verfassungskonformität | |
| wieder herstellen“, erklärte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting. Dass sie | |
| und ihre Kolleg*innen ihre Haltung noch grundlegend ändern, glaubt | |
| niemand mehr. Im Frühjahr dürfen die Berliner*innen also erneut in die | |
| Wahlkabinen, von denen dann hoffentlich genug vorhanden sind; der neue | |
| Landeswahlleiter muss den Termin festlegen. | |
| Mit seiner Einordnung wagt sich das Gericht weit auf juristisches Neuland | |
| vor. Denn bisher hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sehr | |
| hohe Hürden für solche Wiederholungen vorgesehen. Die Fehler müssen | |
| nachweisbar Folgen für die Mandatsverteilung haben können. In Berlin gilt | |
| das vor allem für 3 Direktmandate in Pankow, Charlottenburg-Wilmersdorf und | |
| Marzahn-Hellersdorf, [3][wo die Erstplatzierten keine 100 Stimmen | |
| auseinander lagen]. | |
| Doch die Analyse des Verfassungsgerichtshofs sieht anders aus. Es habe | |
| flächendeckende Probleme bei der Abstimmung gegeben; die bekannten Pannen | |
| seien nur „die Spitze des Eisbergs“. Und viele seien vorhersehbar gewesen �… | |
| verantwortlich dafür: die damalige Landeswahlleiterin und der damalige | |
| Innensenator. Erstere trat kurz nach der Wahl zurück, Letzterer ist heute | |
| SPD-Bausenator. Die Frage ist: [4][Wie lange noch?] | |
| Auch wenn die Position des höchsten Berliner Gerichts überraschte – bislang | |
| zweifelt niemand dessen Autorität an. Man werde nicht gegen ein | |
| entsprechendes Urteil versuchen vorzugehen, hieß es am Ende der Woche aus | |
| der Politik. Es gibt allerdings auch fast keine Möglichkeit, muss man | |
| hinzufügen. | |
| Aber selbst öffentliche Kritik blieb aus. In der Anhörung am Mittwoch waren | |
| zwar einige Betroffene zutiefst empört über die Analyse. So legte zum | |
| Beispiel die Wahlleiterin des Bezirks Treptow-Köpenick noch mal umfassend | |
| dar, dass es in ihrem Wahlkreis zu so gut wie keinen Pannen gekommen war; | |
| warum auch dort nun die Wähler*innen noch mal abstimmen müssten, bleibe | |
| ihr unklar. Ein Vertreter der Wahlleitung in Charlottenburg-Wilmersdorf | |
| erklärte, dass viele Pannen schlicht nicht vorhersehbar gewesen seien. Und | |
| mehrere Jurist*innen äußerten ihre Unverständnis über die juristische | |
| Auslegung. | |
| Aber letztlich fügten sich zumindest die betroffenen Abgeordneten in Land | |
| und Bezirken ihrem Schicksal. Der Verfassungsgerichtshof sei die eben dafür | |
| vorgesehene Instanz, sagte [5][etwa der rechtspolitische Sprecher der | |
| Linksfraktion, Sebastian Schlüsselburg,] der taz. Eine andere gebe es | |
| nicht. | |
| ## In ihrer Analyse sind die Richter*innen nicht allein | |
| Jenseits der Tatsache, dass Gerichtsschelte selten gut ankommt und noch | |
| seltener etwas bewirkt, folgte das Verfassungsgericht lediglich einer | |
| Analyse, die im Auftrag der Politik zustande gekommen war: Eine | |
| Expert*innenkommission im Auftrag der Innenverwaltung hatte im Juni | |
| [6][sehr ähnliche Schlussfolgerungen gezogen], was den Umfang der Pannen | |
| angeht. Diese seien strukturell bedingt; man werde nie klären können, wie | |
| viele Wähler*innen betroffen waren, hieß es damals. Eines der Mitglieder | |
| der Kommission war der Politikwissenschaftler Stephan Bröchler, seit 1. | |
| Oktober ist er neuer Landeswahlleiter in Berlin. | |
| Vor diesem Hintergrund ist das absehbare Urteil des Gerichts, die Wahlen | |
| zum Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksparlamenten wiederholen zu | |
| lassen, die folgerichtige und nachvollziehbare Entscheidung, um die | |
| Berliner*innen dieses äußerst peinliche Kapitel vergessen zu machen. | |
| Die erneute Wahl ist keine Strafe, weder für die Bürger*innen noch die | |
| Kandidat*innen. Sondern eine unverhoffte Chance für die Politik zu zeigen, | |
| dass sie es besser kann. Sie sollte dankbar sein, neun mutige | |
| Verfassungsrichter*innen zu haben, die ihr diese Gelegenheit | |
| verschaffen, auch wenn sie aufwändig ist – und diese Chance nutzen. | |
| 2 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bert Schulz | |
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