# taz.de -- Kapitän aus Job verbannt: Unerwünscht wegen Seenotrettung | |
> Der Kapitän Kai Kaltegärtner wird von einer der wichtigsten Agenturen | |
> nicht mehr vermittelt. Der Grund: Er rettete Menschenleben auf dem | |
> Mittelmeer. | |
Bild: Kai Kaltegärtner, Kapitän | |
Sie retten Leben – und kriegen dafür Schwierigkeiten: [1][Repression gegen | |
Seenotretter:innen] ist seit einigen Jahren keine Seltenheit mehr. | |
Schiffe werden an die Kette gelegt, freiwillige Helfer:innen finden sich | |
vor Gericht wieder, [2][wie die Crew des deutschen Rettungsschiffes | |
„Iuventa“] seit Mai im sizilianischen Trapani. Auch die deutsche | |
Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete wurde 2019 nach dem Einlaufen in einen | |
italienischen Hafen zunächst festgenommen. | |
Der Fall des jungen deutschen Kapitäns Kai Kaltegärtner aus Berlin reiht | |
sich hier ein – und ist doch ein Novum: Er wird nach einem Einsatz für die | |
NGOs Jugend Rettet und Sea Watch an seiner Berufsausübung gehindert. Eine | |
der wichtigsten Agenturen für Schiffskapitäne lehnte es ab, ihn weiter zu | |
vermitteln – wegen seines Engagements. Vor Gericht geht er nun gegen diese | |
Diskriminierung vor. „Es ist mir nicht bekannt, dass es schon mal einen | |
ähnlichen Fall gab“, sagt er. | |
Kaltegärtner, 33, der heute als Sachbearbeiter für eine grüne Abgeordnete | |
arbeitet, hat 2012 in Cuxhaven sein Kapitänspatent gemacht. Er arbeitet | |
immer wieder zeitweise auf so genannten Offshore-Schiffen, das sind | |
Versorgungsschiffe für Offshore-Windparks. | |
Als 2016 die NGO Jugend Rettet das Schiff „Iuventa“ für | |
Seenotrettungseinsätze im Mittelmeer anschafft, schließt er sich der | |
neugegründeten Gruppe an. Bei drei Missionen der „Iuventa“ in den Jahren | |
2016 bis 2018 ist Kaltegärtner an Bord und steuert die „Iuventa“ durchs | |
Mittelmeer. Später arbeitet er für [3][die NGO Sea Watch], kümmert sich | |
dort auch um die technische Einsatzfähigkeit der Schiffe und bildet | |
Crewmitglieder aus. | |
## Nie Probleme gehabt | |
Kaltegärtner beginnt ein Studium, in den Semesterferien heuert er als | |
Kapitän auf kommerziellen Schiffen an. Der Heuertarifvertrag ermöglicht | |
monatliche Verdienste von bis zu 5.000 Euro. | |
2019 bewirbt er sich über die in Groningen ansässige Zeitarbeitsfirma Total | |
Crew BV. Die ist auf die internationale Vermittlung von Schiffsbesatzungen | |
spezialisiert. Sie erfasst Kaltegärtners Lebenslauf, in dem steht, dass er | |
zuvor auf Seenotrettungsschiffen im Einsatz war, in ihrer Datenbank. „Sie | |
haben mir nie gefeedbacked, dass das ein Problem war“, sagt Kaltegärtner. | |
Total Crew BV bietet ihm mehrere befristete Stellen an. Vom 12. August 2019 | |
bis 23. September 2019 geht er in Italien als Chief Mate auf einen so | |
genannten Kabelleger, der Stromkabel im Mittelmeer verlegt. | |
## Postwendende Ablehnung | |
Ein Jahr später, am 4. August 2020, schickt Kaltegärtner seinen | |
aktualisierten Lebenslauf an Total Crew. Doch nun bekommt er postwendend | |
eine Ablehnung. Nur zwei Tage später erhält er eine Mail von Total Crew. | |
„Wir können Sie nicht wieder einstellen“, steht darin. Darunter ist – | |
kommentarlos – ein Link zu einem drei Jahre alten Artikel der italienischen | |
Zeitung Venezia Today. In dem Artikel geht es um eine Protestaktion in | |
Venedig, die italienische Aktivist:innen damals aus Solidarität mit | |
Jugend Rettet organisiert hatten. Kaltegärtner wird darin zitiert. | |
Die Protestaktion wolle die Entscheidung des Europäischen Rates | |
„anprangern“, die „libysche Küstenwache zu unterstützen“, heißt es d… | |
Zu befürchten seien „willkürliche Festnahmen, Misshandlungen und erzwungene | |
Zurückweisung in die Herkunftsländer“. [4][Die Kooperation mit Libyen | |
„berücksichtigt nicht die dramatischen Gefahren], denen Migranten auf | |
libyschem Territorium ausgesetzt sind, und die unmenschliche Lage der | |
Menschen, die im Auffanglager festgehalten werden“. Das sind die Sätze, die | |
einem Klienten von Total Crew offenbar missfielen. | |
## Beschwerde eines Reeders | |
Kaltegärtner ruft die Agentur an, fragt, warum der Artikel plötzlich ein | |
Problem sei. Die Antwort: Ein Klient, also ein Reeder, habe ihnen den Link | |
geschickt – und Kaltegärtner abgelehnt. Das Risiko weiterer Ablehnungen | |
wolle man nicht eingehen und nehme Kaltegärtner deshalb aus der | |
Vermittlung. Eine Anfrage der taz zu dem Vorgang lässt Total Crew | |
unbeantwortet. | |
Ich war „erst mal geschockt“, sagt Kaltegärtner. Er fürchtete, dauerhaft | |
nicht mehr vermittelt zu werden. Denn die Situation ist nicht leicht. Die | |
Vermittlungsagenturen haben große Macht auf dem Arbeitsmarkt. Gleichzeitig | |
sind sie private Unternehmen und damit frei in der Ausübung ihrer | |
Dienstleistung. Einen Anspruch auf Vermittlung gibt es nicht. „Es gibt | |
schwarze Listen von Seeleuten“, sagt Kaltegärtner, die unter solchen | |
Agenturen kursierten. Wer darauf stehe, warum auch immer, werde nicht | |
vermittelt. | |
## Kein Job mehr | |
In jenen Semesterferien schaute sich Kaltegärtner anderweitig nach einem | |
Job um – doch fand nichts mehr. Ihm geht es aber nicht in erster Linie um | |
die entgangenen Einnahmen. Er will Total Crews Vorgehen aus politischen | |
Gründen nicht einfach so stehenlassen. „Ich finde es wichtig, das | |
öffentlich zu machen“, sagt er. Er wendet sich an die Gewerkschaften Verdi | |
und Nautilus. Er sucht einen Anwalt, der in dem Vorgang Anhaltspunkte für | |
Diskriminierung wegen „weltanschaulicher Überzeugung“ sieht. Damit wäre d… | |
Ablehnung von Kaltegärtner durch Total Crew ein Verstoß gegen das | |
niederländische Antidiskriminierungsrecht und gegen die | |
Gleichbehandlungsrichtlinien der EU. | |
## Total Crew bestreitet Diskriminierung | |
Im November 2020 versuchen seine Anwälte, eine außergerichtliche Einigung | |
mit Total Crew zu erreichen. Doch die bestreitet, dass Kaltegärtner | |
diskriminiert worden sei. Ende 2021 reichte er Klage beim niederländischen | |
Menschenrechtsausschuss (College voor de Rechten van de Mens) ein, der auf | |
Diskriminierungsfälle spezialisiert ist. Er bittet Total Crew um eine | |
Stellungnahme, die aber ausbleibt. | |
Ende Juni urteilt der Ausschuss, dass Kaltegärtner aufgrund seiner | |
politischen Meinung diskriminiert worden sei. Total Crew habe das Gegenteil | |
nicht darlegen können. Das Problem: Das Menschenrechtskomitee spricht nur | |
Empfehlungen aus – rechtlich verbindlich sind seine Entscheidungen nicht. | |
## Kaltegärtner will vor Gericht | |
Kaltegärtner will nun vor einem regulären Gericht gegen Total Crew | |
vorgehen. Er sieht in deren Vorgehen eine „klare Form der Unterdrückung des | |
zivilen Aktivismus zugunsten von Menschen, die Sicherheit und Asyl suchen.“ | |
Die Erfolgsaussichten sind unklar. Es ist schwierig zu beziffern, welcher | |
wirtschaftliche Schaden Kaltegärtner entstanden ist. Unabhängig davon hätte | |
er aber gern ein verbindliches rechtliches Urteil. | |
Die Kosten für das Verfahren am Schiedsgericht hat der Rechtshilfefonds von | |
Sea Watch übernommen – auch mit Spenden, die nach dem [5][Verfahren gegen | |
Carola Rackete] eingegangen sind. Der nun folgende erste formelle Prozess | |
würde 20.000 bis 30.000 Euro kosten. Vielleicht bezahlt dies seine | |
Rechtsschutzversicherung, vielleicht auch nicht. | |
13 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Seenotretter-der-Iuventa-vor-Gericht/!5856130 | |
[2] /Prozess-gegen-Seenotretter-auf-Sizilien/!5852520 | |
[3] /Sea-Watch-Sprecherin-ueber-Italien-Wahl/!5884154 | |
[4] /EU-Kooperation-mit-Libyen/!5538503 | |
[5] /Seenotretterin-vor-Gericht-in-Italien/!5773700 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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