# taz.de -- Nach Bootsunfall vor syrischer Küste: Offenbar mehr als 90 Tote | |
> 17 weitere Leichen wurden vor der syrischen Küste geborgen. Am Mittwoch | |
> war ein Boot gesunken, ein zweites aus dem Libanon erreichte einen Hafen. | |
Bild: Mitglieder des syrischen Roten Halbmonds an der Küste vor der Stadt Tart… | |
Nach dem Bootsunfall vor der syrischen Küste haben syrische Helfer*innen | |
am Samstag weitere 17 Leichen geborgen – die Bergung der Toten sowie die | |
Suche nach möglichen Überlebenden geht auch am Sonntag vor der Küste der | |
Stadt Tartus weiter. Das Boot mit Migrant*innen aus dem Libanon war am | |
Mittwoch gesunken. | |
Auf dem Boot waren nach Angaben von Überlebenden rund 120 bis 150 Menschen, | |
darunter auch Kinder und geflüchtete Syrer*innen und | |
Palästinenser*innen, die nun auch aus dem Libanon flüchten wollten. Das | |
syrische Staatsfernsehen sprach am Samstag von 94 Toten, die staatliche | |
syrische Nachrichtenagentur Sana berichtete, dass 20 Menschen gerettet | |
wurden. Mindestens 14 Überlebende wurden demnach in syrischen | |
Krankenhäusern behandelt, zwei von ihnen auf der Intensivstation. Es ist | |
der tödlichste Schiffsunfall zwischen Syrien und dem Libanon der | |
vergangenen Jahre. | |
„Herzzerreißende Tragödie“ | |
Der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sprach von einer | |
[1][„herzzerreißenden Tragödie“]. Der Leiter des UN-Hilfswerks für | |
palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) Philippe Lazzarini sagte: „Niemand | |
geht leichtfertig in diese Todesboote.“ Es müsse mehr getan werden, um eine | |
bessere Zukunft zu bieten und dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit im Libanon | |
und der gesamten Region entgegenzuwirken. | |
[2][Seit drei Jahren ist der Libanon in einer tiefen Wirtschaftskrise], vor | |
allem für Syrer*innen oder Palästinenser*innen gibt es keine Jobs, | |
aber auch Libanes*innen leiden unter dem starken Verfall der lokalen | |
Währung. [3][Essen, Medizin, Wasser und Strom sind so im Preis gestiegen], | |
dass die Menschen an allem sparen müssen. Selbst Staatsangestellte | |
verdienen nur noch rund 40 Euro im Monat. Deshalb sehen viele Menschen als | |
Ausweg nur noch die gefährliche Fluchtroute über das Mittelmeer. | |
Seit 2020 wagen immer mehr Menschen die Überfahrt von dem nördlichen | |
Tripoli aus. Die meisten wollen nach Zypern, das 175 Kilometer entfernt | |
liegt. Weil Zypern in den vergangenen Monaten Hunderten Migrant*innen | |
das Anlegen in seinen Häfen verweigert hat, möchten einige sogar über die | |
Seeroute nach Italien. | |
Bereits mehr als 1.000 Tote in diesem Jahr | |
Jedes Jahr sterben Menschen bei der Flucht übers Mittelmeer. Laut IOM sind | |
in diesem Jahr allein auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen, | |
Tunesien, Malta und Italien bereits mehr als 1.000 Menschen ertrunken. | |
Seit 2014 gibt es keinen europäischen, staatlichen Such- und Rettungsdienst | |
im zentralen Mittelmeer. Mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen wie | |
Sea Watch, Sea Eye, Open Arms und SOS Mediterranée kümmern sich im | |
Mittelmeer um die zivile Seenotrettung. Vergangenes Jahr haben sie nach | |
eigenen Angaben rund 8.000 Menschen gerettet. | |
Weiteres Boot mit mehr als 200 Menschen aus dem Libanon gerettet | |
Die Nichtregierungsorganisation SOS Humanity ist im zentralen Mittelmeer | |
unterwegs. Vergangene Woche rettete sie mit ihrem Schiff, der Humanity 1, | |
insgesamt 414 Menschen von vier Booten, darunter eines mit 207 Menschen, | |
das aus dem Libanon kam und in Seenot geriet. | |
„Das Internationale Seerecht schreibt vor, dass Seenotrettung für alle | |
Schiffe und Besatzungen Pflicht ist“, erklärt Petra Krischok, | |
Pressesprecherin von SOS Humanity, der taz. „Die geretteten Menschen müssen | |
an einen sicheren Ort gebracht werden, an dem keine Gefahr für Leib und | |
Leben droht, sie eine Grundversorgung bekommen. Daher bringen wir die aus | |
Seenot Geretteten beispielsweise nie nach Libyen, sondern grundsätzlich | |
nach Europa.“ | |
Die Organisation fragte nach eigenen Angaben innerhalb von fast zwei Wochen | |
insgesamt 18 Mal bei den italienischen Behörden an, bis sie einen Hafen | |
zugewiesen bekam. Das Schiff lag vor Sizilien und musste dann zwei Tage | |
fahren, um anzulegen. Am Donnerstag konnten die Menschen im Hafen von | |
Tarent endlich von Bord gehen. Zuvor waren das Wasser und Nahrungsmittel | |
knapp geworden. „Unsere Erfahrung ist, dass überhaupt nur noch Italien | |
einen Hafen zuweist, nach oft langer Wartezeit. Italien wird von der EU | |
weitgehend alleine gelassen mit den Geflüchteten.“ | |
Noch immer würden die Migrant*innen, die über das Mittelmeer kommen, | |
innerhalb der EU nicht gerecht verteilt. Außerdem würden Seenotfälle fast | |
nur noch von der zivilen Notrufhotline Alarm Phone oder zivilen | |
Aufklärungsflugzeugen gemeldet oder von den Rettungsschiffen selbst | |
entdeckt. Fast die Hälfte der Schiffs-Besatzung auf der Humanity 1 | |
arbeitete ehrenamtlich. | |
Koalitionsvertrag sieht staatlich koordinierte Rettung vor – noch ist | |
nichts passiert | |
Währenddessen ist das Budget der Europäischen Agentur für die Grenz- und | |
Küstenwache (Frontex) in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Für 2022 | |
lag es bei 754 Millionen Euro, darunter sind auch deutsche Steuergelder. | |
Laut der Nachrichtenagentur dpa waren Anfang des Jahres rund 150 deutsche | |
Polizist*innen an den Einsätzen von Frontex in Griechenland und auf dem | |
Balkan beteiligt. | |
Ein Untersuchungsbericht der EU-Antibetrugsbehörde Olaf bestätigte dieses | |
Jahr, was schon lange bekannt war: Dass die griechische Küstenwache von | |
Frontex mitfinanzierte Boote für Pushbacks einsetzt und Frontex die | |
sogenannte libysche Küstenwache finanziert. Allein 2021 wurden laut einem | |
Jahresbericht der UN-Migrationsbehörde über 32.450 Menschen von der | |
Küstenwache abgefangen und nach Libyen zurückgebracht. Dort drohen ihnen | |
willkürliche Inhaftierungen, unmenschliche Bedingungen, Vergewaltigungen, | |
Folter und andere Gewalt. | |
Im Koalitionsvertrag der Ampel steht, dass die EU Menschen nicht im | |
Mittelmeer ertrinken lassen darf und dass „eine europäisch getragene und | |
staatlich koordinierte Seenotrettung im Mittelmeer“ angestrebt wird. | |
Umgesetzt wurde das noch nicht. | |
25 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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