# taz.de -- Krise im Libanon: „Große Bewegung nach draußen“ | |
> Wegen Hyperinflation, Benzin- und Strommangel möchten viele Menschen den | |
> Libanon verlassen. Entsteht eine neue Fluchtroute? | |
Bild: Auf dem Weg von Beirut nach Tripoli. Von dort starten viele auf den Weg n… | |
BEIRUT taz | Erst in der vergangenen Woche hatte der Generalinspekteur der | |
Bundeswehr, Eberhard Zorn, bei einem Besuch im Libanon gewarnt: „Wertvolle | |
Güter wie Öl und Benzin werden außer Landes geschmuggelt. Ebenso geht es um | |
Flüchtlingstransfers.“ Deutschland beteiligt sich an der UN-Truppe, die | |
Waffenschmuggel in den Libanon unterbinden soll. Jetzt erklärte | |
Deutschlands ranghöchster Soldat, dass daneben aber andere Themen in den | |
Vordergrund gerückt seien: Geflüchtete würden mit Booten in Richtung Zypern | |
gebracht. Entsteht hier ein neuer wesentlicher Fluchtweg nach Europa? | |
„Ich würde noch nicht von einer Migrationsroute sprechen“, sagt Anna | |
Fleischer, Direktorin des Beiruter Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. So | |
waren etwa Ende Juli 88 Menschen von Tripoli im Norden auf einem Boot nach | |
Zypern aufgebrochen und vor Zypern aufgegriffen worden. [1][Der | |
zypriotischen Küstenwache wird vorgeworfen, sie zurückzudrängen, | |
auszusetzen oder zurückzuführen – ohne Möglichkeit auf Asylanträge]. | |
„Diese Route ist extrem vulnerabel, nicht nur durch den Seeweg, sondern | |
weil die Pushbacks zeigen, wie die zypriotische Regierung damit umgeht“, | |
sagt Fleischer. Falls Zypern die Migrant*innen zurückschicke, müssten | |
sie die Route erneut auf unsicheren Booten bewältigen. Momentan gibt es | |
keine Landroute aus dem Libanon heraus. Sämtliche Fluchtwege über das Meer | |
sind allerdings gefährlich: Seit 2014 sind nach Angaben der | |
Flüchtlingsagentur UNHCR über 21.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. | |
„Die Leute, die sich vereinzelt aufmachen, sind eher ein Symptom des | |
Kollapses, der bis jetzt so in Berlin und Brüssel nicht voll angekommen | |
ist“, sagt Fleischer. Die lokale Währung hat seit der schon zwei Jahre | |
dauernden schweren Wirtschafts- und Finanzkrise mehr als 90 Prozent ihres | |
Wertes eingebüßt. Es mangelt an Medizin, Benzin und Strom. | |
## Im Land leben 1,5 Millionen Geflüchtete | |
Im Libanon leben rund 6 Millionen Menschen, rund 1,5 Millionen davon sind | |
syrische Geflüchtete. Entwicklungsgelder hatten bisher viele Syrer*innen | |
im Land gehalten. Auch Deutschland investierte in Infrastrukturprojekte, | |
um Fluchtursachen zu verhindern. Doch wegen Corona haben Tagelöhner ihre | |
Arbeit verloren, den Menschen in Geflüchtetencamps fällt dadurch ihr | |
Lebensunterhalt weg. Sie sehen deshalb die Boote nach Europa als letzten | |
Ausweg – aber auch Libanes*innen selbst ergeht es so. Schätzungen der | |
Weltbank zufolge hat seit Herbst 2019 jede*r Fünfte seinen Arbeitsplatz | |
verloren. | |
Dem Krisenobservatorium der Amerikanischen Universität Beirut zufolge | |
verließen Tausende Menschen das Land seit Beginn der Wirtschaftskrise 2019, | |
mindestens drei Viertel der jungen Libanes*innen wollten auswandern. | |
„Natürlich sind jetzt nicht alle aufgebrochen, aber es gibt eine große | |
Bewegung nach draußen“, sagt Fleischer. Europa ist nicht der einzige | |
Anlaufpunkt: In ihrem Umfeld habe fast jede*r eine Bewerbung in Kanada | |
laufen, da das Migrationsverfahren dort übersichtlich sei, so Fleischer. | |
Die Privatwirtschaft fasse den Handel in Afrika ins Auge, Möbel- und | |
Kosmetikfirmen oder PR Agenturen orientierten sich an der Kundschaft im | |
Golf. „Allerdings merken die Libanes*innen, dass ihr Marktwert sinkt, auch | |
Ärzt*innen bekommen in anderen Ländern niedrigere Löhne angeboten.“ | |
Schwer haben es zudem Arbeiter*innen aus dem Sudan, Äthiopien oder den | |
Philippinen. Sie kamen in den Libanon, um zu arbeiten und ihren Familien in | |
der Heimat US-Dollar zu schicken. Weil das sonst gängige Zahlungsmittel im | |
Land nicht mehr verfügbar ist, sitzen viele vor den Botschaften ihrer | |
Länder und warten darauf, ausgeflogen zu werden. Von ihren | |
Arbeitgeber*innen wurden sie vor die Tür gesetzt. | |
Die Vereinten Nationen (UN) haben ihre Hilfsgeldzahlungen auf Lira | |
umgestellt. Im Juni wurde bekannt, dass die Banken durch schlechte | |
Umrechnungskurse Gewinne machten, während die Empfänger*innen insgesamt | |
über 200 Millionen US-Dollar weniger bekamen. | |
Für Syrer*innen ist es auch schwer und gefährlich zurückzugehen. Für | |
Männer gilt noch immer der Militärdienst, wer sich dessen durch Flucht | |
verweigert hat, kann im Gefängnis landen. Das Assad-Regime bestraft | |
Rückkehrende mit Folter. „Gerade Frauen haben starke Angst vor | |
sexualisierter Gewalt seitens des Regimes“, sagt Fleischer. | |
Deutschland hat seit 2012 insgesamt 825 Millionen Euro für humanitäre Hilfe | |
in Libanon bereitgestellt, davon allein im Jahr 2020 fast 150 Millionen | |
Euro. Weitere 335 Millionen Euro stehen bereit. Sie werden laut Auswärtigem | |
Amt ausgezahlt, „wenn es wieder eine [2][handlungsfähige libanesische | |
Regierung] gibt, die die politischen und wirtschaftlichen Reformen | |
durchführt“. | |
Als Konsequenz des Geldflusses sollten außer den bereits etwa aus Syrien | |
nach Libanon Geflüchteten auch die Aufnahmegemeinden mitgedacht werden, so | |
Fleischer. Die Böll-Stiftung lege ihren Fokus darauf, lokale | |
Akteur*innen zu stärken – beispielsweise in der Ausformulierung von | |
Reformen oder Ansätzen, das Wahlsystem demokratischer zu gestalten. „Der | |
Staat ist nicht funktionsfähig. Aber ich bin überzeugt, dass es immer noch | |
Menschen in diesem Land gibt, die eine Alternative darstellen zu der Elite, | |
die sich entschieden haben zu bleiben und die weiterhin an einer besseren | |
Zukunft arbeiten.“ | |
14 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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