# taz.de -- Der Straßenzeitungsverkäufer: Nachricht von der Straße | |
> Über 500 Obdachlose verkaufen in Hamburg das Straßenmagazin „Hinz&Kunzt�… | |
> Einer von ihnen ist Thomas Audörsch. Ein Morgen mit ihm vor „seinem“ | |
> Edeka. | |
Bild: Thomas Audörsch im Einsatz vor „seinem“ Edeka | |
Thomas Audörsch – Spitzname „Audi“ – ist das, was man wohl einen korre… | |
Typen nennen könnte. Und auf den ersten vorurteilsbehafteten Blick ganz | |
sicher nicht das, was man erwartet, wenn man an einen obdachlosen | |
Zeitungsverteiler denkt. Frisch rasiert, nüchtern, ordentlich und sauber | |
gekleidet. So steht er auch an diesem Mittwochmorgen im August vor dem | |
Edeka Niemerszein, Lange Reihe 110, im Hamburger Stadtteil St. Georg. Hier | |
verkauft er jedem, der möchte, von Montag bis Samstag ab 8 Uhr [1][das | |
Straßenmagazin Hinz&Kunzt]. | |
Zwei Parallelstraße weiter fließt die Außenalster an [2][Udo Lindenbergs | |
Zuhause], dem Hotel Atlantic, vorbei. Es ist eher die obere Mittelschicht, | |
der man hier begegnet. In der anderen Richtung findet sich wenige Meter | |
weiter der Redaktionssitz von Hinz&Kunzt – [3][„Das Hamburger | |
Straßenmagazin“]. Hier holen sich die Verkäufer:innen ihre Exemplare | |
ab, bekommen, wenn sie möchten, einen starken Kaffee dazu. | |
Das Magazin wurde 1993 gegründet, spricht vor allem Themen von der Straße | |
an, Schwerpunkte: Sozialpolitik, Hamburg-Themen und Kultur. Mit einer | |
Auflage von rund 50.000 Exemplaren im Monat ist Hinz&Kunzt Deutschlands | |
auflagenstärkstes Straßenmagazin. | |
Verkäufer:innen dürfen Obdachlose und Wohnungslose werden, die „ihre | |
Bedürftigkeit zum Beispiel durch eine Bescheinigung oder einen Eintrag im | |
Personalausweis nachweisen können, und Menschen in prekären Lebenslagen“, | |
so steht es auf der Webseite des Magazins. Rund 500 Verkäufer:innen | |
sind es mittlerweile und die Nachfrage ist hoch. | |
Einer von ihnen ist Audörsch. Ein Bekannter schlug ihm vor, zu einem | |
Vorstellungsgespräch bei Hinz&Kunzt zu gehen. Das war vor etwa vier Monaten | |
und seitdem geht er nun seiner Arbeit nach. Ein paar Exemplare der | |
August-Ausgabe trägt Audörsch bei sich in einer Plastikhülle. Ab und zu | |
lese er auch selbst das Magazin, erzählt er. | |
## Ein neuer Job, mit 57? Schwierig | |
[4][„So schaffen wir die Obdachlosigkeit ab“] heißt das Titelthema diesmal, | |
auf der Nummer 354. Ein hoher Anspruch in der zweitgrößten Stadt | |
Deutschlands, die mittlerweile rund 2.000 Obdachlose zählt. Hinzu kommen | |
über 5.000 Wohnungslose in öffentlich-rechtlichen Unterkünften. Tendenz | |
seit Jahren steigend. | |
An Audörschs Hülle hängt sein offizieller Hinz&Kunzt-Ausweis mit Foto und | |
QR-Code zur Verifizierung. Außerdem: zwei laminierte Werbeplakate für die | |
letzten zwei Magazinausgaben an der Eingangstür zum Supermarkt. All das | |
zeigt: Audörsch ist offiziell für das Straßenmagazin hier. Es seien einige | |
Schwarz-Verkäufer:innen in der Stadt unterwegs, erzählt er: „Man erkennt | |
sie an ihrem aggressiven Betteln. Wir dürfen die Käufer nicht ansprechen. | |
Die Menschen, die offensiv auf Leute zugehen, meist nur eine Ausgabe | |
dabeihaben, sind keine offiziellen Verkäufer.“ Diese wollten die | |
Zeitschrift auch nicht wirklich verkaufen, sondern nur darüber an Spenden | |
kommen. | |
Audörsch ist 57 Jahre alt. Gebürtig in der „Ex-DDR“, wie er es nennt, in | |
Halle an der Saale. Kurz vor dem Mauerfall über die Prager Botschaft in den | |
Westen gegangen. Später über zwanzig Jahre im Süden Deutschlands, der | |
Schweiz und Österreich, dann als Schausteller gearbeitet. Dann kam Corona, | |
der Job als Schausteller war erst mal weg. Ein neuer Job, mit 57? | |
Schwierig. | |
„Über einen Bekannten bin ich dann vor einem dreiviertel Jahr nach Hamburg | |
gekommen und geblieben,“ erzählt er, während er eine selbstgestopfte | |
Zigarette aus seinem metallenen Etui nimmt. Direkt auf der Straße habe er | |
nie übernachtet. Zunächst sei er beim „Pik As“ untergekommen, einer | |
Übernachtungsstätte für obdachlose Männer im Zentrum Hamburgs. Von dort | |
habe man ihn dann weitervermittelt. | |
Jetzt wohne er nicht hier in der Gegend, erzählt er in einem der vielen | |
Momente, in denen er vor der gläsernen Automatiktüre steht und dem ein oder | |
anderen Kunden zunickt, der an dem Morgen seinen Einkauf macht. Sondern er | |
wohne ein gutes Stück weiter im Westen Hamburgs in einem Obdachlosenheim. | |
Teile sich dort das Zimmer zum Glück mit einem Kollegen, dem er vertrauen | |
könne. „Da gibt es mehr Kakerlaken als Bewohner“, spaßt er. Und erzählt | |
dann von Fäkalien in der Dusche, Polizeieinsätzen und dauerhaft fehlender | |
Ruhe. Auch heute sei er deswegen schon seit 4 Uhr wach. | |
„Seinen“ Edeka hat er vom Hinz&Kunzt zugeteilt bekommen. Das Geschäft | |
funktioniert so, dass Audörsch Anfang des Monats die Hefte, die er schätzt, | |
verkaufen zu können, selbst für 1,10 Euro pro Stück kauft. Verkaufspreis | |
ist dann 2,20 Euro. Macht also 1,10 Euro für ihn pro verkauftes Magazin. | |
Plus gelegentlich etwas Trinkgeld. „Am Ende des Monats sind das vielleicht | |
um die 100 Euro“, meint er. Zusätzlich zum Hartz IV, das er bekommt. „Viel | |
ist das nicht. Frisches Obst und Gemüse ist mittlerweile ja fast nicht | |
bezahlbar. Meine Brille hat die Krankenkasse auch nicht gezahlt. Und dann | |
möchte man ja auch einigermaßen ordentlich gekleidet sein“, rechnet er vor. | |
Hellbraune Anglerjacke, silberne Halskette, Sandalen mit Socken bilden sein | |
heutiges Outfit. | |
Eine Sache ist Audörsch besonders wichtig: auf keinen Fall mit den Bettlern | |
neben ihm in Verbindung gebracht zu werden. „Für mich ist das hier Arbeit“, | |
sagt er. Selbst Hinsetzen ist nicht gestattet. Bei Regen und Kälte – was in | |
Hamburg nicht selten vorkommt – darf er sich in den Edeka-Eingang stellen. | |
Trinken und Pöbeln seien für ihn tabu. Früher als Schausteller habe er bei | |
Feierabend oft mal bis zu zehn Bier getrunken, erzählt Audörsch. Heute | |
trinke er höchstens am Wochenende ein paar, diese Veränderung habe er ganz | |
von alleine geschafft, sagt er. | |
Gegen 10 Uhr erscheint einer der beiden Bettler, die oft neben ihm auf dem | |
Boden sitzen und Geld von Passanten bekommen. Letztere meinten bei | |
Nachfrage oft: „Ach, wir dachten, Sie gehörten zusammen.“ | |
Die Edeka-Stammkund:innen kennt Audörsch mittlerweile alle, bei einigen | |
sogar die persönliche Leidensgeschichte, die ihrer Hunde inklusive. Sie | |
halten mal an, um ein paar Worte zu wechseln oder zu schäkern. Auch der ein | |
oder andere vermeintlich politisch unkorrekte Witz fällt. „Das Leben ist | |
hart genug, da können wir auch etwas Spaß haben,“ lacht Audörsch dann. Und | |
Scherze machen kann er gut. | |
Doch so entspannt war es nicht von Anfang an. „Es hat etwa anderthalb | |
Monate gedauert, bis die Leute mich kennengelernt und akzeptiert haben,“ | |
sagt Audörsch. Außerdem ist da auch die Konkurrenz unter den | |
Verkäufer:innen. Audörsch erzählt, wie ein anderer Verkäufer vor einem | |
Supermarkt in der Nähe am Anfang schlecht über ihn geredet habe. | |
Herumerzählt habe, er erscheine angetrunken zur Arbeit, sei unzuverlässig. | |
„Ich habe das bei Hinz&Kunzt gemeldet, doch die meinten dann, wir sollen | |
das untereinander klären“, erzählt Audörsch weiter. Mittlerweile lasse der | |
Kollege ihn aber in Ruhe. | |
Viel los ist an diesem Mittwoch nicht. Gegen zehn kommen die ersten Leute | |
aus den Büros aus der Gegend und holen sich ein zweites Frühstück. Ein paar | |
Partygänger:innen das erste. „Freitagabend und samstags kommen | |
natürlich die meisten Kunden. Ich könnte mich auch einfach nur auf die Tage | |
beschränken, doch ich möchte, dass die Menschen sehen, dass ich hier jeden | |
Tag stehe und zuverlässig bin“, sagt Audörsch und bleibt weiter stehen, | |
eine Sitzpause gibt es nicht. | |
Nur Donnerstag und Freitag arbeitet er ehrenamtlich bei der | |
Essensverteilung und der Suppenküche, die von der Kirchengemeinde St. | |
Georg-Borgfelde organisiert wird. Braucht man Hilfe, hat man eine Frage | |
oder will man bei einer Zigarettenpause zusammen lachen, ruft man dort | |
„Audi“. | |
Rund 200 Bedürftige werden donnerstags mit Lebensmittelspenden versorgt, | |
erzählt er. Ob er selbst auch etwas mitnehme? „Nein, ich arbeite da ja | |
ehrenamtlich“, antwortet Audörsch. „Ich selbst kaufe im Supermarkt ein.“ | |
Eine junge Frau auf dem Weg in den Edeka fragt, ob er auch etwas vom Bäcker | |
möchte. „Ein Franzbrötchen gerne“, sagt Audörsch. Wenig später hält | |
plötzlich ein älterer Mann vor ihm. „Sie stehen ja immer noch da?“ Audör… | |
hält inne. Der Mann spricht weiter: „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich | |
das sehr bewundere. Diese Ausdauer, die Sie haben.“ Nickt ihm zu und geht | |
weiter, hört fast das perplexe „Danke“ des Zeitungsverkäufers nicht mehr. | |
„Das war mir gerade viel wichtiger, wie wenn er mir fünf Euro gegeben oder | |
eine Zeitschrift abgekauft hätte“, sagt Audörsch dann nach einer längeren | |
Stille. | |
Drei Stunden später wird für den Tag erst mal eine Pause eingelegt. | |
Audörsch muss zum Arzt. Er hat sich beim Fußballspiel mit Freunden das | |
Handgelenk verstaucht. Zwei Hefte hat er heute verkauft, ein Franzbrötchen | |
spendiert bekommen und vier Zigaretten geraucht. Morgen steht erst mal die | |
Essensverteilung an, auch da muss er morgens zum Organisieren und Ausladen | |
antreten. Freitags bei der Suppenküche genauso. Samstag steht er dann | |
wieder vor dem Edeka. | |
Abends nach Feierabend geht Thomas Audörsch oft nochmal mit einem | |
Bollerwagen an den Hauptbahnhof, verteilt Getränke, Hygieneartikel, | |
Lebensmittel. Sonntags? „Schlafen, wenn ich es schaffe, da im | |
Obdachlosenheim Ruhe zu finden.“ | |
Dazwischen kümmert er sich darum, die Sozialämter anzuschreiben und nach | |
einer Wohnung zu suchen. Um hoffentlich bald an eine „richtige“ Arbeit zu | |
kommen. | |
27 Aug 2022 | |
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[4] https://www.hinzundkunzt.de/heft/so-schaffen-wir-die-obdachlosigkeit-ab/ | |
## AUTOREN | |
Ruth Lang Fuentes | |
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