| # taz.de -- Straßenzeitungen in der Krise: Gekommen, um sich abzuschaffen | |
| > Vor 30 Jahren entstand die erste deutsche Straßenzeitung. Corona und die | |
| > Digitalisierung setzen die Magazine heute unter Druck. Zukunft? Ungewiss. | |
| Bild: Ein Verkäufer des Straßenmagazins „Hinz&Kunzt“ in der Hamburger Inn… | |
| Bremen taz | Wenn alles gut läuft, gibt es 2030 in Europa gar keine | |
| Straßenzeitungen mehr. Weil es dann keine Obdachlosigkeit mehr gibt. | |
| [1][Denn das EU-Parlament hat beschlossen], sie bis dahin „zu beseitigen“. | |
| Okay, keiner der Expert:innen glaubt wirklich daran. Auch die EU muss | |
| zugeben, dass die Zahl der Obdachlosen in Europa in den letzten zehn Jahren | |
| um mehr als 70 Prozent gestiegen ist, auf über 700.000 Menschen. Das sind | |
| ja alles potentielle Verkäufer:innen einer Straßenzeitung. | |
| Mangels Bedarf eingestellt wurde bisher nur ein einziges Magazin, das | |
| [2][„Megafon“ aus dem norwegischen Bergen]. Grund des Erfolges sei eine | |
| progressive Drogenpolitik, sagen die Macher:innen. Es schlief dort eh kaum | |
| noch einer auf der Straße, und für Suchtkranke gab es dann andere Lösungen. | |
| Auch hierzulande wollen die in den letzten 30 Jahren etablierten | |
| Straßenzeitungen gern überflüssig werden, sagt Bastian Pütter vom Magazin | |
| „Bodo“, das [3][in Bochum und Dortmund erscheint], zugleich Sprecher der | |
| deutschsprachigen Straßenzeitungen. Derzeit sind sie eher existenziell | |
| bedroht. | |
| ## Einbußen bei den verkauften Auflagen | |
| „Es knirscht“, räumt Pütter ein, viele von ihnen mussten in den vergangen… | |
| Monaten „relevante Einbußen“ bei den verkauften Auflagen hinnehmen. | |
| Straßenzeitungen sind ein Saisongeschäft – richtig gut läuft es immer nur | |
| vor Weihnachten, doch dieses Jahr war es im Frühjahr und Sommer viel | |
| schlimmer als früher, als vor Corona. Und während der Pandemie wurde ja | |
| auch schon wenig verkauft. | |
| Hinzu kommt, dass die Papierkosten sehr stark gestiegen sind. In den | |
| Innenstädten, wo stets die meisten Straßenzeitungen verkauft werden, stehen | |
| viele Läden leer, es sind also weniger Käufer:innen unterwegs. Zudem | |
| sorgen die steigende Inflation und die Verunsicherung über den Ukrainekrieg | |
| dafür, dass weniger Geld für Nichtessentielles ausgegeben wird, etwa für | |
| Straßenzeitungen, und gespendet wird gerade oft anderswo, für Geflüchtete | |
| etwa. Die weltpolitische Lage erschwert auch das Fundraising allerorten. | |
| Gleichzeitig wird auch das Leben der Verkäufer:innen teuer. Ihre | |
| [4][existenziellen Sorgen haben in der Pandemie] zugenommen. Pütter spricht | |
| von „vielen psychischen Akutsituationen“ bei den Verkaufenden und einer | |
| „immensen Zunahme der Beratungstiefe“. Und es gibt mehr sichtbare | |
| Obdachlosigkeit in den Städten. | |
| An all dem können Straßenzeitungen wenig ändern. Sie eröffnen eine | |
| [5][niedrigschwellige Möglichkeit, wieder in eine Tagesstruktur zu kommen]. | |
| Sie geben Have-nots Chance, den Haves dieser Welt ein bisschen mehr auf | |
| Augenhöhe zu begegnen, wieder etwas wert zu sein, weil sie etwas von Wert | |
| verkaufen – und nicht nur am Boden sitzen und betteln. | |
| Die Verkäufer:innen können selbst regeln, wann sie wie viel verkaufen. | |
| Sie müssen das aber auch, denn hier wird Kapitalismus in seiner reinsten | |
| Form gelebt: Die Verkäufer:innen dürfen zwar die Hälfte des Erlöses | |
| behalten, müssen die Straßenzeitung aber auf eigenes Risiko einkaufen. Sie | |
| arbeiten als Freiberufler:innen ohne Absicherung – Festanstellungen | |
| für Verkäufer:innen gibt es in Deutschland nur beim [6][Münchner | |
| Straßenmagazin „Biss“]. Eine Straßenzeitung zu verkaufen, kann zwar | |
| Selbstwert vermitteln, aber nur jenen, die ihre Scham überwinden, sich | |
| outen: „Dann weiß ja jeder, dass ich wohnungslos bin“ ist ein Einwand, den | |
| man öfter hört. | |
| „Biss“ (Bürger in sozialen Schwierigkeiten) gehört neben dem | |
| „[7][Draussenseiter]“ aus Köln und „[8][Hinz und Kunzt]“ aus Hamburg z… | |
| ältesten Straßenzeitungen hierzulande, der „Draussenseiter“ wird gerade 3… | |
| die anderen beiden werden es kommendes Jahr. Das [9][Konzept kommt aus New | |
| York], wo 1989 die „Street News“ entstanden. Die britische „The Big Issue… | |
| brachte die Idee 1991 nach Europa. Heute gibt es in Deutschland rund 30 | |
| Straßenzeitungen, schätzt Pütter. Sie alle arbeiten in voneinander | |
| abgegrenzten Regionen, um sich nicht gegenseitig Konkurrenz zu machen. | |
| Doch während im deutschsprachigen Raum vergleichsweise viele solcher | |
| Magazine existieren, gibt es laut der [10][Karte des International Network | |
| of Street Papers (INSP)] in Frankreich, Belgien oder Spanien kein einziges, | |
| in Polen, Tschechien oder Portugal nur eines. | |
| In Deutschland kann man die Straßenmagazine als eine Art Nachfolger der | |
| Alternativpresse sehen, die aus den damals neuen sozialen Bewegungen kam, | |
| vielfach aber die Achtziger nicht überlebte oder in zunehmend | |
| kommerzialisierten Stadtmagazinen endete. | |
| Auch die Straßenzeitungen verstehen sich heute nicht nur als Lobby, sondern | |
| oft auch als „soziale Stadtmagazine“, sagt Pütter. Dabei sind sie | |
| redaktionell zunehmend professioneller geworden. Und während ihr Fokus | |
| anfangs oft ein stark sozialpolitischer war, sind sie heute stärker | |
| lokaljournalistisch orientiert – auch jene Blätter, die nicht wie die 2010 | |
| gegründete „[11][Zeitschrift der Straße“ (ZdS) in Bremen] von Anfang an a… | |
| dieses Konzept setzten. | |
| Wenn die Leser:innen stets mit Not und Elend konfrontiert werden, ist | |
| ihnen das auf Dauer zu viel, allein aus Mitleid gekauft zu werden, ist | |
| wirtschaftlich keine erfolgversprechende Idee mehr. Zugleich muss ein | |
| Straßenmagazin nicht nur für die oft besserverdienenden und | |
| bildungsbürgerlichen Käufer:innen attraktiv sein, sondern vor allem für | |
| die Verkäufer:innen. „[12][Der Wurm muss nicht nur dem Fisch, sondern auch | |
| dem Angler schmecken“,] sagte ZdS-Mitbegründer Michael Vogel mal, ein | |
| BWL-Professor. | |
| Die Verkäufer:innen, das sind nicht nur biodeutsche, oft suchtkranke | |
| Obdachlose, das sind auch Wohnungslose, die nicht auf der Straße schlafen, | |
| aber keine eigene Wohnung haben, Armutsrentner:innen, Geflüchtete und | |
| Migrant:innen aus Osteuropa, die hier gar keine Ansprüche auf | |
| Sozialleistungen haben und hier trotzdem oft besser dran sind als im alten | |
| Zuhause. | |
| ## „Kein wachsender Markt“ | |
| Doch die zunehmende Digitalisierung aller Medien bedroht Straßenmagazine | |
| existenziell – sie leben davon, dass Verkaufende ein gedrucktes Exemplar in | |
| der Hand halten; alle digitalen Experimente waren bisher wenig erfolgreich. | |
| Und es geht ja gerade darum, Bedürftigen einen kleinen Verdienst zu | |
| ermöglichen. | |
| „Es ist kein wachsender Markt“, sagt Pütter über die Straßenzeitungen, | |
| dabei ist Armut ja eher eine Wachstumsbranche. Und das zahlende Publikum | |
| ist, wie bei anderen Printmedien halt auch, „recht alt“. Pütter spricht vom | |
| „Exotenbonus“ der gedruckten Straßenmagazine und von der „Diversifizieru… | |
| der Projekte, die ja stets an soziale Träger angebunden sind, Sozialarbeit | |
| machen, Cafés und Buchläden betreiben, soziale Stadtrundgänge anbieten, in | |
| „Housing First“-Projekte eingebunden sind. | |
| Es könnte trotzdem sein, dass Straßenzeitungen am Ende mangels Nachfrage | |
| eingestellt werden. Und nicht deshalb, weil es keine Obdachlosen mehr gibt. | |
| Der Autor war von 2016 bis 2021 Chefredakteur der [13][„Zeitschrift der | |
| Straße“ in Bremen] | |
| 30 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20201120IPR92124/eu-soll-… | |
| [2] https://www.hinzundkunzt.de/megafon-wird-eingestellt/ | |
| [3] https://bodoev.org/ueber-uns/ | |
| [4] /Brief-an-die-Gesellschaft/!5867031 | |
| [5] https://zeitschrift-der-strasse.de/leitungswechsel/ | |
| [6] https://biss-magazin.de/ | |
| [7] https://www.draussenseiter-koeln.de/ | |
| [8] https://www.hinzundkunzt.de/ | |
| [9] /Strassenzeitungen-in-Deutschland/!5521030 | |
| [10] https://insp.ngo/who-we-are/where-are-we/ | |
| [11] https://zeitschrift-der-strasse.de/ | |
| [12] https://zeitschrift-der-strasse.de/leitungswechsel/ | |
| [13] https://zeitschrift-der-strasse.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Zier | |
| ## TAGS | |
| Soziales Engagement | |
| Sozialer Brennpunkt | |
| Obdachlosigkeit in Hamburg | |
| Medien | |
| Obdachlosigkeit | |
| Digitale Medien | |
| Social Media | |
| Wohnungslose | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| soziale Klassen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Digitale Straßenzeitungen: QR-Code scannen statt Münzen suchen | |
| Straßenzeitungen stecken in der Krise. Zwei Projekte in Deutschland und | |
| Österreich versuchen sich an ihrem digitalen Wandel. Kann das | |
| funktionieren? | |
| Sozialarbeiter über Wohnungslosigkeit: „Es geht auch anders“ | |
| 27 Jahre war Stephan Karrenbauer Sozialarbeiter beim Hamburger | |
| Obdachlosenprojekt „Hinz&Kunzt“. In dieser Zeit hat er viel gelernt. | |
| Der Straßenzeitungsverkäufer: Nachricht von der Straße | |
| Über 500 Obdachlose verkaufen in Hamburg das Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“. | |
| Einer von ihnen ist Thomas Audörsch. Ein Morgen mit ihm vor „seinem“ Edeka. | |
| Brief an die Gesellschaft: Das ist nicht fair, Deutschland! | |
| Unser Autor ist psychisch krank und war obdachlos. Wer einmal aus dem | |
| System fällt, musste er erfahren, dem wird es schwergemacht, wieder | |
| reinzufinden. |