# taz.de -- Sozialarbeiter über Wohnungslosigkeit: „Es geht auch anders“ | |
> 27 Jahre war Stephan Karrenbauer Sozialarbeiter beim Hamburger | |
> Obdachlosenprojekt „Hinz&Kunzt“. In dieser Zeit hat er viel gelernt. | |
Bild: Stephan Karrenbauer vor der neuen „Hinz&Kunzt“-Zentrale in Hamburg- S… | |
taz am wochenende: Stephan Karrenbauer, ist die Arbeit für Obdachlose so | |
fordernd, dass man sie nicht ein Leben lang machen kann? | |
Stephan Karrenbauer: Ich war mehrere Wochen krank wegen Corona, und ich | |
hatte eine Gürtelrose. Da hatte ich genügend Zeit, darüber nachzudenken. | |
Ich glaube, dass die Arbeit bei [1][Hinz&Kunzt] extrem anstrengend ist, | |
weil wir nicht nur das [2][Magazin] machen, sondern auch immer noch ganz | |
viele Projekte – weil wir immer den Anspruch hatten zu zeigen: Es geht auch | |
anders. | |
Ist dieses Neuerfinden gleichzeitig das, was die Leute von Hinz&Kunzt bei | |
der Stange hält? | |
Es klingt jetzt ein bisschen albern, aber ich glaube, wir sind ein Stück | |
weit Entscheidungsträger in der Stadt Hamburg. Und gefährlich, weil wir | |
immer wieder aufzeigen, dass es anders möglich wäre. Dass wir einfach ein | |
Bürohaus angemietet und dort zwei Jahre Obdachlose untergebracht haben. Was | |
niemand wissen durfte, weil man ja nicht im Hochhaus Menschen unterbringen | |
darf. Wir haben es damals dem Sozialsenator mitgeteilt und haben gesagt: | |
Wir machen mal einen kleinen Ausflug und zeigen dir was. | |
Und was hat der Sozialsenator gesagt? | |
Da ist keine Aufsicht – dass ihr so ein Risiko eingeht. Es lief alles gut, | |
alle haben eine Unterkunft gefunden nach zwei Jahren und die letzte Gruppe, | |
die zusammenbleiben wollte, lebt immer noch zusammen in einem angemieteten | |
Einfamilienhaus. Es hat funktioniert und ich glaube, das ist es, weshalb | |
Leute Angst bekommen. | |
Angst? | |
Angst ist vielleicht übertrieben. Aber sie nehmen uns ernst als | |
Gesprächspartner. Ich habe das Gefühl, dass die Wohnungslosenhilfe dabei | |
ist, Obdachlose zu verwalten. Wir sind dabei, Menschen auf der Straße immer | |
mehr zu versorgen. Wir haben mittlerweile den Duschbus, wir haben Leute, | |
die Essen auf der Straße verteilen. Das ist alles notwendig, weil wir die | |
Wurzel nicht angepackt bekommen, nämlich ihnen ein Zuhause zu geben. | |
Und wenn es dann heißt, wie soll man das denn bewerkstelligen auf dem | |
katastrophalen Hamburger Wohnungsmarkt, ist das ein Totschlagargument? | |
Das ist ein Totschlagargument. Genauso wie: Wir haben kein Geld. Meine | |
große Hoffnung war damals, als die große Flüchtlingsbewegung 2015 kam und | |
wir es gemeistert haben, die Obdachlosen damit zu beruhigen, dass wir | |
sagten: „Ihr werdet davon auch profitieren. Das wird wieder leer und dann | |
könnt ihr da rein.“ Das ist nicht umgesetzt worden. Was kann ich jetzt den | |
Wohnungslosen noch erzählen, damit sie überhaupt noch eine Hoffnung | |
bekommen? | |
Liegt es daran, dass sich die Politik nicht verantwortlich fühlt für die | |
zunehmend aus Osteuropa stammenden Obdachlosen? | |
Es ist ja immer das Totschlagargument: [3][Dann kommen sie alle]. Wir haben | |
in Hamburg jetzt seit Jahren eigentlich mehr oder weniger die selbe Anzahl | |
von wohnungslosen Menschen, immer so um die 2.000. Es ist nicht so, dass | |
die Gruppe wächst, weil wir ein besseres Programm haben. Die Stadt | |
verbessert sich ja schon von Jahr zu Jahr. Das Winternotprogramm ist | |
letztes Jahr so gut gewesen wie noch nie zuvor mit der Hotelunterbringung. | |
So reizvoll ist Hamburg dann doch nicht. | |
Die Leute, die aus Osteuropa hier sind, haben ihre Kinder in der Regel zu | |
Hause. Die wollen einfach dafür Sorge tragen, dass es ihren Kindern | |
einigermaßen gut geht, und nach Hause zurückgehen. | |
Man könnte ja jetzt kühn denken, dass in Zeiten von Corona und Homeoffice | |
Büroflächen frei werden. Wäre das noch mal so eine große Chance für mehr | |
Wohnraum für wohnungslose Menschen? | |
Ich denke schon. Ich glaube, dass da insgesamt einfach die Kreativität | |
fehlt. Was wir immer umsetzen wollten, war, eine große Lagerhalle | |
anzumieten und dort wollten wir kleine Schrebergartenhäuser reinsetzen. | |
Also Tiny Houses? | |
Das Schönste wäre eine große Halle gewesen, in einem Baumarkt und dann | |
links und rechts kleine Gartenhäuser, von mir aus in der Mitte auch einen | |
Kunstrasen und am Ende der Halle eine riesengroße Gemeinschaftsküche, mit | |
Tischtennisplatten und Fußballkicker. Die Vermieter haben uns ganz doof | |
angeguckt, ob wir noch alle Tassen im Schrank haben. | |
Bei dem [4][Hotelprojekt im letzten Winter] war das anders. | |
Da rief jemand an und sagte: Ich habe viel Geld, tun Sie was Gutes. Und | |
ich? Mir fiel nichts ein, weil ich selber in einer Coronakrise steckte. | |
Alle Einrichtungen waren geschlossen, nicht, weil wir Angst hatten, | |
angesteckt zu werden, sondern es war die Angst, dass wir die Obdachlosen | |
anstecken. | |
Und dann? | |
Es war schrecklich. Ich habe noch nicht mal gefragt, wie viel Geld das war. | |
Und dann kam zum Glück das Wochenende und dann habe ich gesagt, das kannst | |
du nicht machen, da muss du wenigstens mal fragen, wie viel Geld das ist. | |
Wie viel war es denn? | |
150.000 Euro. Ich sagte natürlich: Damit müssen wir Leute unterbringen. Ich | |
habe den Hörer aufgelegt, und wirklich, der nächste Anruf kam von einem | |
Hotel: Könnt ihr euch nicht vorstellen, bei uns Menschen unterzubringen? | |
Wir haben bis dahin immer Projekte gemacht mit Menschen, die schon einen | |
Zugang zu uns hatten. Und auf einmal wollen wir ein Projekt machen für | |
Menschen, die sich eigentlich komplett verabschiedet haben aus dem | |
Wohnungslosen-Hilfesystem. Gott sei Dank haben die Leute von der | |
Straßensozialarbeit sofort gesagt: Wir gehen gemeinsam zum Einchecken und | |
dann bleibt die Verantwortung bei dem Sozialarbeiter, mit dem derjenige | |
eingecheckt hat. | |
Wie war die Resonanz? | |
Das Verrückte war, dass alle mitgekommen sind. Es waren Menschen dabei, die | |
psychisch auffällig waren, die nichts weiter mit sich herumgetragen haben | |
außer ihrer Kleidung, die sie schon seit Wochen nicht mehr gewechselt | |
hatten. Die sind alle in die Hotels gegangen. | |
Gab es Berührungsängste aufseiten der Hoteliers? | |
Also ich glaube, dass mit der Zeit Menschen, die im Wohnungslosenbereich | |
tätig sind, aufpassen müssen, dass sie nicht mehr Vorurteile haben als alle | |
anderen. | |
Tatsächlich? | |
Diese Ängste sind mir so aufgefallen, weil die Hoteliers so nett waren, so | |
erfrischend offen. Ich hatte eine Szene, wo ein Obdachloser zum Empfang | |
ging und sagte: „Auf meinem Zimmer ist aber kein Handtuch.“ Die Frau an der | |
Rezeption nahm das Telefon und sagte: „Auf Zimmer 23 hat der Gast kein | |
Handtuch. Bitte bringen Sie ihm eins.“ Ich sah das Gesicht des | |
Wohnungslosen und dachte: He, der ist als Gast bezeichnet worden, der wurde | |
genauso angesprochen, wie ich angesprochen worden wäre. Da dachte ich: | |
Bitte, Stephan, mach dich frei von diesen ganzen Geschichten. Das wird | |
alles gut gehen. | |
Ging es gut? | |
Eines der Zimmer ist komplett demoliert worden, als jemand eine | |
Wahnvorstellung bekommen hat. Und dann sagte tatsächlich das Hotel: Es gibt | |
Schlimmeres, erleben Sie mal eine Gruppe von Menschen, die hier | |
Junggesellenabschied feiern. Wir sind vollkommen zufrieden, wie das hier | |
läuft. | |
Hat Hinz&Kunzt über die Jahre seine Ideen verändert, wie man Obdachlosen am | |
wirksamsten hilft? | |
Wir sind ganz naiv angetreten und haben gesagt: Bald ist das Problem | |
gelöst. Aber wir können es nicht lösen, weil wir gar nicht diesen Wohnraum | |
haben. Wir haben das Beste daraus gemacht, indem wir kleine Urlaubsinseln | |
geschaffen haben. Ich glaube, dass diese Inseln ein Hoffnungsschimmer | |
gewesen sind für Obdachlose, dass sie überhaupt den Mut aufgebracht haben, | |
zu glauben, dass sie irgendwann die Chance haben, wieder ein relativ | |
normales Leben zu führen. Und ich glaube, dass der Druck wächst, weil viele | |
Hamburger gar keine Lust mehr haben, das Elend weiterhin so zu sehen. Ich | |
finde es sträflich, dass der Senat sagt: In der Großstadt gibt es nun mal | |
viele Menschen, denen es nicht so gut geht. Das ist überhaupt nicht so, man | |
kann was dagegen tun und man muss nicht auf der Straße sterben. Ich hoffe | |
wirklich, dass der Senat das umsetzt, was er versprochen hat, dass im Jahr | |
2030 das Problem nicht mehr vorhanden ist. | |
Glauben Sie daran? | |
Nein. Ich glaube, die werden vielleicht sagen: Wir haben für alle, die | |
einen sogenannten Rechtsanspruch haben, eine vorübergehende Unterkunft oder | |
ein Bett. Sie werden immer sagen, dass sie für die große Gruppe der | |
Menschen aus Osteuropa nicht zuständig sind. | |
Das heißt, es gibt behördlicherseits Obdachlose zweiter Klasse? | |
Wir haben mittlerweile die Erfahrung gesammelt, dass einige Menschen aus | |
Osteuropa [5][stark verelenden]. Dabei wissen wir, dass die alle arbeiten | |
wollen. Und von der Straße aus zu arbeiten, ist extrem schwierig. Dann | |
gerätst du eben doch in die Fänge von Menschen, die einen schwarz | |
beschäftigen, die dir den Lohn nicht auszahlen. Und da kam die Idee auf, so | |
etwas wie das Gesellenhaus, das der Priester Adolph Kolping mal gegründet | |
hat, einzurichten. | |
Adolph Kolping kennen heute nicht mehr viele Leute. | |
Mein Vater war katholisch und auch im Kolpingwerk. Irgendwann habe ich | |
gesagt: Wenn die Gesellen nicht alles taten, was ihnen der Meister befahl, | |
dann verloren sie nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Unterkunft. Und | |
genau dieses Problem haben jetzt die Osteuropäer. Ich glaube, dass solche | |
Häuser auch für sie geschaffen werden müssen, wo ihnen ihre Rechte und auch | |
die Pflichten erzählt werden, wo vielleicht sofort ein Intensiv-Deutschkurs | |
angeboten wird, an dem sie teilnehmen müssen. Ich glaube, dass es gut wäre, | |
dort Zeitarbeitsfirmen hinzuschicken, wo man weiß, die zahlen auch den Lohn | |
aus. | |
Ich finde es interessant, dass der Deutschkurs verpflichtend sein soll – | |
grundsätzlich wirkt Hinz&Kunzt auf mich sehr vorsichtig mit Vorschriften. | |
Wir haben ein Regelwerk und das ist manchmal ganz schön hart. Die dürfen | |
nur verkaufen, wo wir sie hinstellen. Wenn sie durch die U-Bahn ziehen und | |
werden dabei erwischt, dann gibt es dreimal Verwarnungen. Beim vierten Mal | |
wird ihnen der Ausweis weggenommen. Wenn Gewalt angewandt wird nach dem | |
Motto „Ich bin der Stärkere hier, das ist mein Platz, ich möchte, dass hier | |
niemand anderes verkauft“, kann es dazu führen, dass wir für immer den | |
Ausweis wegnehmen. Und wir haben jetzt eine neue Regelung: Der Ausweis ist | |
nicht lebenslang gültig, sondern nur noch drei Jahre. | |
Warum? | |
Danach müssen alle zumindest versuchen, irgendwie Fuß zu fassen. Wir haben | |
immer mehr Osteuropäer, bei denen wir denken, die können mehr als nur jetzt | |
auf der Straße stehen. Das mussten wir auch erst mal lernen: Die sind | |
glücklich. Wer überall verscheucht wurde und auf einmal steht er da mit der | |
Zeitung, hat einen Ausweis von Hinz&Kunzt und alle Leute sind nett zu ihm – | |
da sagt er: „Ich habe das Höchste erreicht, was ich jemals in meinem Leben | |
hatte.“ Aber wir haben einen anderen Anspruch. | |
Will Hinz&Kunzt eine Sozialleiter sein? | |
Eine Leiter, die aber ganz unterschiedlich sein kann, es gibt keine festen | |
Treppenstufen. In der ersten Woche habe ich noch daran geglaubt. Ich habe | |
vorher als Suchttherapeut gearbeitet und da war immer das oberste Ziel, | |
dass Leute suchtfrei sein müssen. Für mich war es dann etwas ganz Neues, | |
dass ein Süchtiger zu mir kommt und sagt: „Mensch, geh mir doch nicht immer | |
auf den Keks, dass ich eine Therapie machen muss. Ich war jetzt seit zwei | |
Jahren nicht mehr im Knast. Ich versuche mit dem Geld, was ich mit | |
Hinz&Kunzt erarbeite, über die Runden zu kommen. Und das ist echt | |
schwierig. Aber ich kriegs hin und darauf kann ich doch auch stolz sein.“ | |
Da hat er vollkommen recht. Er bleibt ein schwerkranker Mensch, aber wenn | |
er das sein Leben lang so hinkriegt, dann lass ihn. | |
Bleibt das schwierig? | |
Ich glaube, das ist auch das Professionelle. Die Leute werden, wenn sie | |
Drogen oder zu viel Alkohol konsumieren, in der Regel nicht so alt. Wenn | |
ich den Weg weiß, älter zu werden, und die ihn aber nicht mitgehen, muss | |
ich das aushalten. Das ist manchmal schrecklich, wenn man sieht, dass die | |
Leute abrutschen. | |
Gibt es für Sie eine Grenze, wo Sie sagen: Ich müsste es vielleicht | |
schlucken, aber ich kann es nicht? | |
Wenn jemand wirklich so krank ist, dass er stark nach Verwesung riecht – | |
wir haben viele Wohnungslose, die offene Beine und Stellen haben – und | |
nicht bereit ist, zu duschen. Wenn also jemand wirklich auf allen Vieren | |
ins Büro kriecht und sagt, ob ich ihm einen Euro geben kann, damit er eine | |
Zeitung kaufen und so weiter Verkäufer sein kann und ich anschließend für | |
zwei Stunden mein Büro lüften muss. Da ist meine persönliche Grenze, wo ich | |
sage: Ich rufe einen Krankenwagen und bestehe darauf, dass du dich | |
untersuchen lässt. Und wenn du es nicht machst, dann musst du in eine | |
andere Einrichtung gehen. Aber das ist zu viel für alle um dich herum. Wir | |
wollen auch, dass unsere Verkäufer spüren, dass sie schon einen Schritt | |
weiter sind. | |
Von außen ist es schwierig zu verstehen, warum jemand so viel aufs Spiel | |
setzt, um nicht zu duschen. | |
Es klingt so einfach: Geh’ dich doch duschen. Wir haben ja auch Duschen | |
bei Hinz&Kunzt. Und wenn du neue Klamotten von uns hast, dann kannst du | |
wieder Zeitungen verkaufen. Das machen einige Gott sei Dank, aber es gibt | |
auch Menschen, die es nicht machen – und nicht, weil sie das so schön | |
finden. Ich glaube, sie können sich nackt gar nicht mehr ertragen. Wenn du | |
offene Stellen hast und wenn da auch noch Maden drin sind, dann gehst du | |
nicht duschen, sondern ziehst noch eine andere Hose über deine alte Hose | |
drüber. | |
Das klingt so schlicht, aber vermutlich ist es sehr wesentlich zu | |
begreifen, dass es da nicht um Verweigerung geht, sondern um eine | |
Unmöglichkeit. | |
Wir sind 38 Mitarbeiter und davon sind die Hälfte ehemals Obdachlose, die | |
sich aber schon weit aus der Straßenszene entfernt haben. Und die sind | |
manchmal sehr uneinsichtig gegenüber den Menschen, die sich nicht so | |
richtig helfen lassen wollen und können. Viele sagen, dass sie nicht ins | |
Winternotprogramm gehen, weil sie Angst haben, beklaut zu werden und weil | |
es dort so laut ist. Das kann alles stimmen. Aber wer schon einmal am Abend | |
vor dem Winternotprogramm gestanden hat, sieht aus allen Himmelsrichtungen | |
Menschen kommen in einem Gesundheitszustand, wo man sich fragt: Wie können | |
die sich überhaupt noch so aufrecht halten? Wenn ich mich einigermaßen gut | |
fühle, würde ich da nicht reingehen. Immer wieder mit der eigenen | |
Geschichte im Extremfall konfrontiert zu werden, das ist für Betroffene | |
extrem hart. | |
Wie ein Menetekel für die eigene Zukunft. | |
Es raubt ihnen die Hoffnung. Die meisten, die auch noch im Winter draußen | |
sind, haben irgendwelche Träume und Hoffnungen und sagen: Das schaffe ich | |
irgendwie. Und wenn du da reingehst, dann kriegst du eins mit dem Knüppel | |
auf den Kopf. | |
Ich vermute, dass es mehr Menschen gibt, die Hinz&Kunzt verkaufen wollen, | |
als es Verkaufsmöglichkeiten gibt. Haben Sie einen Weg gefunden, das zu | |
lösen? | |
Eine richtige Lösung gibt es momentan nicht. Wir hatten bis vor vier, fünf | |
Jahren zu allen Verkäufern einen Kontakt. Wir konnten ihnen sagen: Das ist | |
nicht in Ordnung, dass du dich da so offensiv in den Eingangsbereich | |
stellst, stell dich ein bisschen weiter links oder rechts. Da wir unser | |
Regelwerk auch verändert haben und die Leute zumindest ein bisschen Deutsch | |
sprechen müssen, um die Zeitung zu verkaufen, gibt es Personen, die das | |
nicht hinkriegen und die sich mangels Alternative von Verwandten Zeitungen | |
mitbringen lassen oder die Zeitung selbst kaufen und auf Trinkgeld hoffen. | |
Aber auf diese Gruppe hat Hinz&Kunzt eben keinen Einfluss. Unser Prinzip | |
war ja immer, dass sich die Verkäufer einen regelmäßigen Kundenstamm | |
aufbauen. Und jetzt haben wir eine Gruppe von Menschen, die eigentlich ganz | |
schnell Geld verdienen wollen, weil sie das nach Hause schicken und dann | |
heute hier stehen, morgen da, also gar keine Kundenbindung aufbauen wollen. | |
Also sind Sie Opfer Ihres eigenen Erfolgs? | |
Es gibt auch Menschen aus Rumänien, die Erfolg haben und den mitteilen | |
wollen, was sie nicht dürfen. Du musst hier als Hinz&Künztler ein | |
bedürftiger Mensch bleiben. Da haben sich vielleicht Verkäufer zusammen ein | |
Auto gekauft, weil sie sich überlegt haben, dass es billiger ist, damit | |
abwechselnd nach Hause zu fahren, als den Bus zu nehmen. Was ist günstig? | |
Ein großes Auto. So eines, was wir gar nicht mehr kaufen wollen. Und dann | |
schlafen sie vielleicht darin und fahren damit zum Verkaufsstand. Dann | |
sagen die Leute: „Das kann doch nicht sein, der hat ein Auto.“ Ich glaube, | |
dass es eine ganz wichtige Aufgabe von Hinz&Kunzt ist, aufzuzeigen, dass | |
die gelernten Bilder keine Gültigkeit mehr besitzen. | |
Was sind denn noch solche überkommenen Bilder? | |
Wenn du auf der Straße siehst, dass ein Bettler da sitzt und jemand kommt | |
und leert die Kasse aus. Das ist nicht einer, der ihn ausbeutet, sondern es | |
kann vielleicht auch jemand aus einer Familiengruppe sein, der die Aufgabe | |
hat, regelmäßig das Geld einzusammeln, weil in anderen Städten das Geld vom | |
Ordnungsamt eingesteckt wird, weil das Betteln verboten ist. Oder man sieht | |
einen jungen dynamischen Mann, wo du sagst: „Bitte, kannst du nicht etwas | |
anderes leisten?“ Und dann erzählt er, dass er in Rumänien immer auf der | |
Straße geschlafen hat und zeigt seinen Rücken und man sagt: Was ist das für | |
eine Wirbelsäule? | |
Es braucht ein Grundwohlwollen. Ich fürchte, ich wäre weit vorne dabei, | |
wenn ich ein dickes Auto sähe, keine Zeitung zu kaufen. | |
Das geht mir manchmal auch so. Aber ich glaube, dass die Stadt so groß ist, | |
dass es Menschen gibt, die sagen: „Doch, ich kaufe gerade bei dem. Ich weiß | |
ja, der schläft da vielleicht drin.“ | |
Sie wären da großzügig? | |
Nicht bei jedem. Ich werde, glaube ich, von anderen Personen gefühlsmäßig | |
angesprochen als jetzt eine Großmutter, die vielleicht noch den Krieg | |
miterlebt hat. Und die sich angesprochen fühlt von einem Schild, auf dem | |
steht: Ich habe Hunger. Unabhängig davon, dass der Typ vielleicht so einen | |
Bauch hat. Ich würde vielleicht von dem Mann mit dem Auto angesprochen und | |
kann ihm den Hinweis geben: „Park’ das Auto woanders.“ | |
28 Aug 2022 | |
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Friederike Gräff | |
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