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# taz.de -- Straßenzeitungen in Deutschland: Hyperlokal, hypersozial
> Gibt es eine Krise der Straßenmagazine? „Motz“, „Hinz und Kunst“ und…
> haben ihre eigenen Strategien gegen das Zeitungssterben.
Bild: Stand vor kurzem vor dem Aus: der „Strassenfeger“ aus Berlin
Am Anfang hatte Optik noch nicht Priorität. Schwarz-weiße Seiten in DIN A4
mit leicht undeutlichen Bildern: Stolz zeigt Chefredakteur Björn Wilda eine
der ersten Ausgaben der KiPPE, des Leipziger Straßenmagazins. Was 1995 mit
einfachem Recyclingpapier begann, hat nach mehreren Layoutwechseln
inzwischen ein schickes Magazinformat. Wilda breitet die alten Ausgaben auf
seinem Schreibtisch im Stadtteil Lindenau aus. Wo früher dichte Textblöcke
mit kleinen Bildern waren, ist heute ein leichtes, modernes Layout.
So ähnlich wie die KiPPE haben viele deutsche Straßenzeitungen angefangen.
Das Konzept kommt aus New York, wo sich im Jahr 1989 die Street News
gründeten. Die britische The Big Issue brachte das Prinzip 1991 nach
Europa. Die Straßenzeitungen werden von Bedürftigen auf der Straße
verkauft, diese dürfen einen Teil des Erlöses für sich behalten.
## Ruhrgebiet vs. Hamburg
Nun hat eine der bekanntesten Straßenzeitungen in Deutschland, der Berliner
Strassenfeger, vor Kurzem ihren Betrieb eingestellt, [1][wenn auch nur
vorübergehend]. In einer Pressemitteilung sprach die Redaktion dennoch von
einer „deutschlandweiten Krise der Straßenmagazine“. [2][Im Lokalteil der
FAZ heißt es], dass die Straßenzeitungen demselben Druck unterlägen wie die
Mainstreammedien. Für die KiPPE aber gilt das nicht. Sie hat zuletzt ihre
Auflage gesteigert. Also was ist überhaupt dran an der „Krise“?
Im Gegensatz zu Großbritannien, wo es mit The Big Issue eine
Straßenzeitung für alle großen Städte gibt, finden sich in Deutschland
viele kleine Projekte: 30 bis 40 gibt es, je nach Schätzung. Bastian
Pütter, Sprecher des International Network of Street Papers (INSP),
erklärt, dass die Magazine zwar den Vertriebsweg gemeinsam haben, ansonsten
aber unterschiedlich arbeiten, sowohl was die Gestaltung und Inhalte angeht
als auch die Strukturen der sozialen Arbeit. In jeder Stadt müssen die
Projekte sich an andere Gegebenheiten anpassen.
Im Ruhrgebiet etwa, sagt Püttner, sei es wegen der Industrietradition
deutlich schwieriger, die Menschen davon zu überzeugen, dass der Verkauf
von Straßenzeitungen Arbeit ist. In der Kaufmannsstadt Hamburg sehe das
ganz anders aus. Wohl auch deshalb ist die Hamburger Hinz&Kunzt eine der
professionellsten deutschen Straßenzeitungen, während zum Beispiel in Essen
mehrere Versuche, ein neues Magazin zu etablieren, gescheitert sind.
## Geschäftsmodell oder Sozialprojekt
Genau wie die Menschen, die sie verkaufen, sind Straßenmagazine sehr
heterogen. Mit unterschiedlichen Ansprüchen und Graden der
Professionalisierung. Die Asphalt aus Hannover etwa, so wie auch bodo aus
Bochum und Dortmund und die KiPPE ähneln sich: Die Redakteure haben einen
journalistischen Hintergrund, sie haben journalistischen Anspruch an den
Inhalt, wollen ein attraktives Magazin mit zeitgemäßem Layout produzieren –
das nicht aus Mitleid, sondern aus Interesse gekauft wird. Die KiPPE
verwirklicht das mit vielen Bildern auf gutem Papier, das sich schön glatt
in der Hand anfühlt, und einem hohen Maß an Abwechslung in den Themen.
Teilhabe, Kultur, lokale Geschichte, auch Ratgeber kommen regelmäßig vor.
Die Asphalt setzt auf eine Mischung aus Sozialpolitik und buntem Inhalt.
Von den Titelseiten der bodo schauen den Leser oft bekannte Gesichter an
wie der Satiriker Serdar Somuncu oder die Musikerin Judith Holofernes. Die
Magazine arbeiten in jeweils unterschiedlichem Maß mit freien Mitarbeitern
und Ehrenamtlichen aus der Medienbranche. Uli Matthias aus der
Asphalt-Redaktion betont, dass es sehr unterschiedliche Straßenzeitungen
gibt, die untereinander komplett anders aufgestellt sind. Es ist ein Bogen,
der sich von kleinen Projekten, bei denen Menschen einfach mal gemacht
haben, bis hin zu professionellen Redaktionen spannt.
Um den Balanceakt und das Geschäftsmodell der Straßenzeitungen zu
verstehen, muss man ihre besondere Situation betrachten. Einerseits sehen
sie sich in der Verpflichtung, Sozialpolitisches anzusprechen. Andererseits
haben sie, im Gegensatz zu anderen Printmedien, eine Funktion als Hilfe zur
Selbsthilfe für Menschen in Not, sind oft an soziale Projekte angeschlossen
oder haben zusätzliche Standbeine gefunden. Sie bieten ihren Verkäufern ein
Einkommen und wollen ihnen zu Erfolgserlebnissen verhelfen. Man stellt also
die journalistische Arbeit in den Dienst der Verbesserung der
Lebenssituation von Menschen am Rand.
Aber die Ansprüche sind gestiegen. Auf Recyclingpapier gedruckte Magazine
wie Mitte der 90er reichen nicht mehr überall aus. Ronald Lutz, Professor
am Fachbereich Soziale Arbeit an der FH Erfurt, beobachtet die Entwicklung
hin zu professionellen Redaktionen bei Straßenzeitungen bereits seit der
Jahrtausendwende. Lutz geht davon aus, dass in einem derart gesättigten
Zeitschriftenmarkt eine Professionalisierung stattfinden musste – ist aber
skeptisch im Hinblick darauf, inwieweit diese Zeitschriften noch in der
Tradition der alten Straßenzeitungen stehen.
Aber was ist nun mit der angeblichen „Krise“? In der 25-jährigen Geschichte
der Straßenzeitungen in Deutschland sind immer auch Projekte gescheitert.
„Für uns ist das eine ganz normale Erfahrung, dass Leute dieses Konzept zu
adaptieren suchen – und dann scheitert es, oder es scheitert nicht“, sagt
Bastian Pütter vom INSP. Tatsächlich ist die Anzahl der Mitglieder des
Verbands zuletzt gesunken, allerdings waren ohnehin nie alle Zeitungen dort
Mitglied. Die Mitgliederzahl des INSP, auf die sich etwa auch die FAZ
beruft, ist also nicht verlässlich.
## Persönliche Bindung
Fest steht: Viele Zeitungen halten sich seit Jahrzehnten zumindest stabil,
„bei den großen ist es so, dass sie etwa alle gleich alt sind“, sagt
Pütter. „Das ist für nichtöffentlich finanzierte und eigentlich immer sehr
prekär wirtschaftende, gemeinnützige NGOs eine lange Zeit.“
Die bodo hat zuletzt ihre Auflage sogar gesteigert, von 11.000 auf 20.000
Exemplare. Ebenso die KiPPE, die in den vergangenen drei Jahren von 5.000
auf über 7.000 Stück gewachsen ist. Wichtig ist dabei das Feedback der
Verkäufer*innen, denn sie stehen in direktem Kontakt mit den Lesenden,
haben teilweise Stammkund*innen. Besonders der direkte Verkauf und die
persönliche Bindung von Lesenden und Verkäufer*innen trägt dazu bei, dass
sich die Auflage der großen Zeitungen relativ stabil hält. Also gibt es gar
keine Krise? Pütter sagt: „Pauschal wirklich gar nicht.“
Sozialforscher Lutz sieht allerdings schon eine Herausforderung in der
Digitalisierung der Medien. Diese widerspreche dem Vertriebskonzept der
Straßenzeitungen. „Ich glaube, diese Tradition hat auch irgendwann ein
Ende, hat auch eine Grenze erreicht, gerade im Zeitalter der
Digitalisierung.“ Allerdings sieht er besonders im starken Regionalbezug
der deutschen Straßenzeitungen eine mögliche Perspektive, gerade wenn
lokale Geschichten erzählt werden, die man anderswo nicht findet.
Vielleicht zeigt sich die Stärke der Straßenzeitungen ja auch in Zukunft in
ihrer Anpassungsfähigkeit an lokale Gegebenheiten.
7 Aug 2018
## LINKS
[1] /Neue-Obdachlosenzeitung/!5516928
[2] http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/den-strassenmagazinen-gehen-die-leser…
## AUTOREN
Miriam Heinbuch
## TAGS
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