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# taz.de -- Hungersnot in Afrika: Fanfaren des Untergangs
> Wegen Inflation und Energiepreiserhöhungen sind wir nicht in der Krise.
> In der Krise sind Menschen, die verhungern. Warum interessiert das
> niemanden?
Bild: Frauen in Hawkantaki, Niger. Auch in Westafrika steht den Menschen eine H…
Hunger wird in der schöngeistigen Literatur kaum behandelt. Vielleicht weil
Hungernde selten schreiben und Schreibende selten hungern. Hungerkünstler
waren entgegen dem Wortsinn geschäftstüchtige Schaustellerinnen. Das
Verhungern wird noch seltener dargestellt. Es ist eine grausame Todesart.
Während die allerletzten Fettreste im Unterhautzellgewebe aufgebraucht
werden, verwandelt sich der Mensch in ein mit Haut überzogenes Gerippe.
In der Folge beginnt der Körper sich selbst aufzufressen, der Organismus
zehrt das eigene Eiweiß auf, die Muskulatur schwindet, die Leber schrumpft,
ebenso Nieren und Milz. Weil sich Wasser einlagert, schwillt der Körper zu
dem berühmt-berüchtigten Hungerbauch an. Drückt man den Arm eines
Verhungernden, bleibt der Abdruck der Finger stundenlang zu sehen. Wir
erfahren wenig über Hunger, weil die Menschen, die hungern, in den Medien
kaum repräsentiert sind.
Dieser Tage werden wieder schreckliche Warnungen hörbar – von
Organisationen und Institutionen, die sich diesem Thema ohnehin widmen. Es
drohe eine [1][Hungersnot, vor allem in Ostafrika, in Somalia] betreffe
diese schon Unzählige, in Sudan stehe sie unmittelbar bevor, ebenso in
Teilen von Kenia, insgesamt könnten, wenn die Weltgemeinschaft nicht sofort
die notwendigen Maßnahmen ergreife, Dutzende von Millionen Menschen
verhungern oder schwerwiegende körperliche und mentale Schäden davontragen.
Die Gründe für diese Katastrophe sind vielfältig: Natürlich [2][Putins
imperialer Krieg] und somit die unterbleibenden Exporte aus der Ukraine und
Russland. Ebenso der [3][Klimawande]l. Seit Jahren schwanken die
Temperaturen der Meeresoberflächen im Indischen Ozean, der im Westen mal
wärmer, im Osten mal kälter ist. Solche Klimaveränderungen haben den einst
verlässlichen Monsun destabilisiert und einerseits zu Dürren, andererseits
zu Überschwemmungen geführt.
## Zurück zu Maniok
Zudem verwüstete im Frühjahr 2020 eine [4][Heuschreckenplage] Teile
Ostafrikas. Ein weiterer Grund sind unnötiger Export und problematischer
Import von Nahrungsmitteln (etwa aufgrund der EU-Ausfuhrsubventionen),
desgleichen das weitverbreitete [5][Landgrabbing] sowie die Abhängigkeit
von eingeführten Düngemitteln. Anstatt sich um bessere heimische Erträge zu
kümmern, haben viele afrikanische Regierungen auf den herrschenden Mangel
kurzsichtig mit Lebensmittelimporten reagiert.
Im [6][Maputo-Protokoll von 2003] haben sich die afrikanischen Staaten
eigentlich selbst verpflichtet, zehn Prozent ihres staatlichen Budgets für
die Landwirtschaft auszugeben. Die meisten sind weit davon entfernt. Der
Weizenverbrauch steigt derweil schneller an als anderswo, obwohl diese
Getreideart auf dem Kontinent wenig angebaut wird.
In Kenia wird dieser Irrweg inzwischen teilweise erkannt, manche Bauern und
Bäuerinnen pflanzen wieder verstärkt Maniok und andere, althergebrachte,
den örtlichen Gegebenheiten angepasste Sorten an. Wenn unzählige Menschen,
egal wo, von einem vermeidbaren Tod bedroht sind, müsste man einen
öffentlichen Aufschrei erwarten, Demonstrationen auf den Straßen, Aufrufe
von Intellektuellen.
Zumindest von all jenen Aktivistinnen, die sich in den letzten Jahren in
der Bewegung „[7][Black Lives Matter]“ engagiert haben. Eigentlich wäre
diese drohende Katastrophe eine existenzielle Herausforderung, um mit
universellem Anspruch die Anliegen von Gerechtigkeit und Menschenwürde für
alle auf eine verbindliche Basis zu stellen. Stattdessen: Schweigen. Keine
der Stimmen, die sich sonst zu allem und jedem äußern, meldet sich zu
diesem Thema zu Wort. Wie kann das sein?
Führende People-of-Color-Aktivistinnen, die zuletzt mit Furor Rassismus in
einem Theater hier und Rechtsextremismus auf einer Buchmesse dort bekämpft
haben, ertragen die drohende Hungerskrise scheinbar mit stummer Geduld.
Dabei sind Hungersnöte gerade in Afrika in vielerlei Hinsicht Ausdruck von
systemischem Rassismus sowie von struktureller Gewalt und Ausbeutung.
## Arme als Argument
Es könnte nun der Eindruck entstehen, die Repräsentanz von
P.o.C.-Schauspielerinnen auf deutschen Bühnen wäre wichtiger als das
Überleben von Millionen Afrikanerinnen. Und schlimmer noch: Es könnte der
Verdacht aufkommen, dieses Engagement gälte weniger allgemeingültigen
Rechten, sondern eher persönlichen Interessen. Das wäre fatal für die
Überzeugungskraft einer wichtigen Bewegung.
Derweil jammert ein großer Teil der deutschen Medien über hiesige „Krisen�…
„Bedrohungen“, „Katastrophen“, „Zumutungen“, „Verluste“ usw. We…
Tage Nachrichten hört, könnte meinen, wir stünden vor einem Kollaps. Wer
genauer hinhört, vernimmt die Fanfaren des Untergangs: Ein bisschen
Rezession (oh weh!), etwas weniger Aufträge in den Büchern der Industrie
(wie schlimm!), etwas mehr Inflation (welch Verhängnis!).
Und weil in diesem Land die wirklich Armen eine Minderheit sind, werden sie
von jenen, die weiterhin ungehindert prassen und prahlen wollen, als
Argument missbraucht, um weiterhin ungehemmt zu konsumieren. Der
[8][Tankrabatt] ist ein wirtschaftspolitisches „Tischlein, deck dich“. Das
Jammern in den Medien wird von der Realität konterkariert. Jedes zweite
Auto auf der Autobahn strotzt vor fetter Stahlleibigkeit.
Wer versucht, kurzfristig für seinen Sommerurlaub eine Unterkunft zu
buchen, findet wenige Angebote, denn die durch tiefste Krisen watenden
Bürgerinnen haben alles schon reserviert – Urlaub muss sein. Jene, die es
schon als Verzicht empfinden, wenn sie den Hals nicht voll genug kriegen
können, jene, die immer noch nicht begriffen haben, dass der Homo
adipositas eine aussterbende Art ist, wehren sich mit Händen (auf der Hupe)
und Füßen (auf dem Gaspedal) gegen die Vernunft der Verlangsamung.
Und wenn sie überhaupt mal nach Afrika schauen, denken sie sich bestimmt:
Was soll’s, so hat jeder seine Probleme.
22 Jun 2022
## LINKS
[1] /Hungersnot-in-Afrika/!5859210
[2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[3] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
[4] /Heuschreckenplage-in-Ostafrika/!5653666
[5] /Investitionen-in-Boden/!5800370
[6] https://www.un.org/shestandsforpeace/content/protocol-african-charter-human…
[7] /Black-Lives-Matter-und-Europa/!vn5747840
[8] /Geplanter-Tankrabatt-der-Ampelkoalition/!5846107
## AUTOREN
Ilija Trojanow
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